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documenta fifteen: Kollaborateure gesucht

Von Christina Schott

Karneval zum Gedenken an die Schlammtragödie von Lapindo vor 4 Jahren in Siring Barat, Porong, Sidoarjo, Ostjava, Indonesien, 2010
© Foto: Courtesy Taring Padi

„Lumbung“, „Majelis“, „Nongkrong“: Im Zusammenhang mit der documenta fifteen, die am 18. Juni in Kassel startet, ist viel über diese Begriffe aus dem Indonesischen geschrieben worden. Doch was bedeutet das künstlerische Konzept der diesjährigen Documenta für die konkrete Praxis der teilnehmenden Künstler?


Indonesier sind sehr ausdauernd, wenn sie bei süßem Tee und Krupuk zusammensitzen. Dieses „gemeinsame Abhängen“, wie die meisten deutschen Medien das Wort „nongkrong“ übersetzen, bedeutet aber durchaus nicht nur unproduktives Freizeitpalaver, sondern ist Voraussetzung für fast alle wichtigen Entscheidungen – sei es im Familienkreis, im Dorfrat oder im Ausschuss eines Ministeriums. Deutsches Effektivitätsdenken ist hier fehl am Platz. Es geht darum, alle Seiten zu hören und zu einer Lösung zu finden, mit der jeder leben kann. Auch wenn man sich vielleicht noch ein zweites oder drittes Mal zusammensetzen und noch mehr Tee kochen muss.

Ein Prozess der Lösungsfindung, die nicht jedem liegt. Die westliche Kunstwelt ist bisher vor allem geleitet vom Bild eines individualistisch agierenden Künstlers, der seine Ideen eher spontan und vor allem allein und oft von eigenen Bedürfnissen geleitet umsetzt. Daraus entstehen allerdings meist keine nachhaltigen oder für die Gemeinschaft nützlichen Projekte. Genau das allerdings ist das Ziel der documenta fifteen, die vom indonesischen Kollektiv ruangrupa geleitet wird: Mit ihrem Konzept des „lumbung“ – einer Reisscheune, die indonesische Dorfgemeinschaften je nach Bedarf gemeinsam nutzen – wollen sie eine Kultur des Teilens auch in der internationalen Kunst einführen. Um eine nachhaltige und über die Kunstschau hinausgehende Kooperation zu entwickeln, müssen daher alle Teilnehmer der diesjährigen Documenta – egal ob Kollektive oder Einzelpersonen – in Gruppen zusammenarbeiten, den sogenannte Mini-Majelis. Das Wort „majelis“ stammt aus dem Arabischen und bedeutet „Rat“, sei es im politischen, sozialen oder religiösen Zusammenhang.

„Ich denke, es war super wichtig, auf diese Weise zusammenzuarbeiten“, sagt der belgische Künstler reinaart vanhoe. „Ich war noch nie an einer Ausstellung beteiligt, bei der ich vorher alle Ideen und sogar das Budget mit den anderen Künstlern geteilt habe. Normalerweise liefert man seine Arbeit ab, der Rest ist privat.“ Der „Kontextkünstler“ vanhoe, der das ook_huis in Rotterdam betreibt, arbeitet in seinem Mini-Majelis zusammen mit dem australischen Künstler Richard Bell und drei Kollektiven: ikkibawiKrr aus Korea, Taring Padi aus Indonesien und Wakaliwood aus Uganda. Die Teilnehmer trafen sich in einem festgelegten Rhythmus etwa alle vier Wochen auf Zoom – dabei berichtet jeder, wie die Projekte sich entwickeln, wo es vielleicht hakt und wo neue Ideen oder eventuell auch Hilfe nötig sind. Dann wird diskutiert. Es gibt einen gemeinsamen Geldtopf, über dessen Verwendung zusammen entschieden wird. Dabei soll es ausdrücklich auch um die Finanzierung weiterführende Kollaborationen über die documenta fifteen hinaus gehen. Die Höhe der verfügbaren Summe hängt von Größe und Anzahl der Mitglieder jeder Gruppe ab. Die Pläne und Aktivitäten der insgesamt neun Mini-Majelis werden dann wiederum in regelmäßigen Abständen im Majelis Akbar vorgetragen, einer Art Vollversammlung aller Documenta-Teilnehmer zusammen mit dem Künstlerischen Leitungsteam.

Nicht alle Teilnehmer der documenta fifteen sind begeistert vom Majelis-System. Manche Künstler beklagen, dass zu viel Zeit für langwierige Präsentationen und Diskussionen verschwendet werde, anstatt diese für die Produktion zu nutzen. Wieder andere finden die bürokratischen Hürden zu hoch, die die Documenta als Institution ansetzt, um das kollektive Geld dann auch tatsächlich freizugeben. Auch solche Kritik wird offen angesprochen – unter anderem vom Arts Collaboratory Project, das als sogenannter Harvester die Aktivitäten der documenta fifteen als Beobachter begleitet und auf der Plattform documentamtam reflektiert.

reinaart vanhoe gehört zu den Erntehelfern, die festhalten, ob die „Samen“ des Lumbung-Konzepts Wurzeln schlagen – auf der Plattform lumbung.space oder in Form von Zeichnungen. „Die Zusammensetzung mancher Gruppen hätte besser durchdacht sein können“, sagt er, während er einige Gedanken über das Majelis-System äußert. Er sei sich nicht sicher, „welche Kriterien angesetzt wurden, um uns aufzuteilen”. vanhoe merkt außerdem an, dass die Mitglieder der Mini-Majelis von unterschiedlichen Produktionsassistenten betreut würden. Somit hätte man in der Praxis nicht viel von den Arbeitsabläufen des anderen mitbekommen, die später gemeinsam besprochen werden sollten. „Doch auch wenn es einige unbequeme Aspekte mit sich bringen mag, unterstütze ich das Majelis-System voll und ganz“, bekräftigt der Dozent der Willem-de-Kooning Academie in Rotterdam.

ruangrupa und ihr Artistic Team haben sich nach einer anfänglichen Einführung weitestgehend aus den Abläufen innerhalb des Mini-Majelis herausgehalten. Bei Problemen ist die Künstlerische Leitung natürlich ansprechbar. Doch ist das Ziel, dass die Mitglieder der einzelnen Gruppen ihre Zusammenarbeit langfristig so entwickeln, dass sie dabei keine Hilfe von außen mehr benötigen. Als Orientierung für andere Documenta-Teilnehmer dient dabei Gudskul aus Jakarta, ein kollektives Ökosystem für Bildung und zeitgenössische Kunst, das ruangrupa gemeinsam mit zwei anderen Kollektiven gegründet hat. „Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass wir eine von uns mitgegründete Organisation auf die Documenta eingeladen haben“, erklärt ruangrupa-Mitglied Reza Afisina. „Aber statt langer theoretischer Erläuterungen können wir so an einem konkreten Beispiel demonstrieren, was wir mit lumbung-Praxis meinen: angefangen bei der gemeinschaftlichen Organisation von Events, über den ökonomischen Kreislauf eines kollektiven Topfs, der umverteilt wird, bis hin zur gemeinsamen Evaluation.“

Selbstredend, dass es nicht einfach war, diese Praxis auf einen Großevent wie die Documenta zu übertragen. Die Covid-Pandemie hat den Prozess zusätzlich erschwert: Anstatt sich – wie ursprünglich geplant – gruppenweise vorab in Kassel kennenzulernen, mussten fast alle Treffen online geplant werden. Nur einzelne Künstler haben sich bei Besuchen bereits persönlich gegenübergestanden. „Die größte Herausforderung dabei war, dass wir alle aus völlig unterschiedlichen Kontexten kommen und uns vorher auch nicht kannten. Da soll ich auf einmal über Dinge entscheiden, die ich selbst nie gemacht oder erlebt habe“, sagt Reinaart Vanhoe. Auch Setu Legi von Taring Padi bestätigt: „Es war anfangs nicht ganz einfach zusammenzufinden, die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich. Was mir aber an dem System gefällt, ist, dass niemand zurückgelassen wird, während andere zum Highlight werden, einfach weil sie die besseren Ressourcen haben.“

Bisher floss Geld aus dem Mini-Majelis Gemeinschaftstopf unter anderem in eine bessere Internetverbindung für Wakaliwood und die Transportkosten von Taring Padi, die dank Corona deutlich höher gestiegen sind als ursprünglich geplant. vanhoe, der in Rotterdam lebt, nur vier Autostunden von Kassel entfernt, stand bisher eher auf der Geberseite – zumindest aus der Sicht Außenstehender. „Trotzdem habe ich mich aus meiner Sicht nicht genug auf dieser Seite wiedergefunden, da ich aus dieser Zusammenarbeit so viel mitnehmen kann: neue Perspektiven und Ideen, ich habe viele Dinge gelernt. Daher versuche ich auch, Wakaliwood mit dem House of Urban Art in Rotterdam zu vernetzen und habe zusammen mit Taring Padi einen Workshop organisiert."

Auch nach der documenta fifteen soll die Zusammenarbeit weitergehen. ikkibawiKrr und Taring Padi haben bereits ein gegenseitiges Residenzprogramm geplant. Reinaart Vanhoe und Richard Bell werden eventuell gemeinsam ein Buch herausgeben. Und das nächste Projekt des Rotterdamer Künstlers könnte ihn nach Afrika führen: Fasziniert von der fantasievollen Trash-Action-Film-Kultur von Wakaliwood möchte er unbedingt tiefer in die aufstrebende Filmszene Ugandas eintauchen, für deren Entwicklung es weder Geld noch Infrastruktur gibt.

Und der belgische Künstler würde sich freuen, mehr über die Gemeinschaft von Wakaliwood in ihrem Heimatland Uganda zu erfahren: „Vor allem bin ich neugierig, wie sie ihre Nachbarschaft und Künstlerfreunde mit der Unterstützung des Lumbung-Systems der documenta 15 fördern können.“


© Text: Christina Schott
Arbeitet seit 2002 als freie Südostasienkorrespondentin für deutsche Medien. Mitbegründerin des Korrespondentennetzwerks weltreporter.net


documenta fifteen

18. Juni - 25. September 2022
Kassel, Deutschland

Künstlerische Leitung: ruangrupa

Konzept: lumbung

67 Beteiligte

32 Veranstaltungsorte


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