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Die Stadt des Spektakels. Rezension der Biennale für Kunst im öffentlichen Raum in der Medina von Sfax: 5. - 7. Okt. 2012.
Von ismaël | Okt 2012Die beste Methode für den Künstler, gegen das Publikum Recht zu behalten, ist: da zu sein.
Karl Kraus, Pro Domo et Mundo, Aphorismen, 1912
Das alte Sfax ist vom Rest der Stadt durch eine imposante Mauer getrennt. In seinem Inneren gibt es praktisch keine Straßenschilder. Es ist eine Medina, in der man sich verläuft. Außerdem können einem viele der dortigen Händler kaum die Richtung weisen, wenn man sie nach dem Weg fragt. Sie sind gar nicht von "hier", aus dieser houma, diesem Viertel. Aber da es eine kleine Medina ist, kann man doch irgendwie zurückfinden.
"Hier" gibt es nicht. Es ist eine Erfindung von Abgrenzungen. Genauso wie "jetzt", ist es ziemlich beliebig, den Beginn oder das Ende dort oder irgendwo anders anzusiedeln. So wie auch für den Künstler, ist "Hier" zumeist ein Synonym für "anderswo". "Hier" hat für den Künstler zugleich eine doppelte Bedeutung: der reale Raum und der Raum des Kunstwerks (der Rahmen, die Leinwand, die Bühne…). Und manchmal kommen beide Räume ziemlich durcheinander. Das geschieht zum Beispiel, wenn das Kunstwerk auf der Straße stattfindet oder die Straße, den öffentlichen Raum, als Mittel benutzt.
Theater, Happening, Land Art, Street Art, urbane Installationen… Kunst auf der Straße sollte diese eher neu erfinden, statt sie nur zu kommentieren, sollte mehr verstören, statt etwas zu bekräftigen. Die Arbeit des Künstlers besteht darin, das "Anderswo" in das "Hier" der Straße einfließen zu lassen. Doch um die Grenzen zu verschieben oder abzuschaffen und Räume durch künstlerische Praxis zu öffnen, ist es erforderlich, den Leuten in dieser kleinen Medina, wo man sich verirrt, auf irgendeine Weise zu helfen, ihren Weg eben nicht zu finden.
Alia Sellami und Sonia Kallel benutzten Tonmaterial von der Straße, jede auf ihre eigene Weise, die Eine durch das Lied, die Andere durch Tongestaltung. Sellami verwendete Slogans und revolutionäre Songs, unterbrochen durch verfremdete Schlaflieder. Kallel sammelte Sprüche von Händlern und Webern in der Medina von Tunis. Während die Gesangsdarbietung der Ersteren beeindruckt, obschon sie den revolutionären Diskurs nicht genügend dekonstruiert, bleibt der didaktische und diskursive Ansatz der Zweiten (redundante Zeugnisse, die Arbeit ergänzende Stadtpläne, auf denen die verschiedenen Aufnahmeorte markiert sind) lediglich auf eine touristische Führung beschränkt. Die Vertrautheit der Texte und die Melodien in Alia Sellamis "Operator" sowie der Stadtplan mit dem von der Künstlerin Sonia Kallel für "Tisser la Médina" zurückgelegten Weg versetzen das Publikum in eine behagliche terra cognita des Hörens. Es ist also eine Aufbereitung, die nie über das Statement hinausgeht.
Wegen des sehr spezifischen geopolitischen Kontextes lautet der für diese dritte Edition von Dream City gewählte Titel: Der Künstler angesichts von Freiheiten (L’artiste face aux libertés). Zu einer Zeit, in der gar nichts erreicht ist, nichts für die Bürger und noch viel weniger für die Künstler, erscheint die Wahl einer solchen Formulierung heikel oder sogar beschwichtigend, denn sie platziert den Künstler bzw. die Künstlerin in einer passiven und fiktiven Position von Freiheiten, die ihm/ihr geschenkt werden, statt ihn/sie in die kreative und reale Situation eines Individuums zu stellen, das sich permanent um die Erlangung von Freiheit bemühen muss. In diesem Sinne zogen gewisse isolierte künstlerische Gesten die Aufmerksamkeit auf sich, wie die von Tobi Ayedadjou oder Héla Ammar.
Ayedadjou und zwei weitere Performer trugen bunte Zwangsjacken in der Art von Troubadouren oder Narren aus dem Mittelalter (der Titel "Shé Wéré" bedeutet wörtlich "den Narren spielen") und bewegten sich auf ganz merkwürdige Weise über die Straße, mit konvulsivischen Marschschritten, die mechanisch und verfremdet wirkten. Die Performance stellte Freiheiten unter Vorbehalt, sie war nicht einmal auf der Suche nach irgendeinem Zusammenwirken mit den Passanten (im Gegensatz zu allen anderen auf der Straße dargebotenen Werken) und fragte nach der Rolle jedes Einzelnen beim Zustandekommen von Unterdrückung und sozialer Gleichschaltung.
Derweil erkundete Héla Ammar die Welt der Strafanstalten mit einer visuellen und Toninstallation (Objekte, Fotografien, Soundkreationen). Wie Ayedadjous Arbeit evoziert auch sie Abgeschlossenheit. In diesem Falle ist sie aber offensichtlich, konkret und physisch: es ist die einer Gefängniszelle. "Counfa" (was im tunesischen Dialekt auf die Gefangenentransporte verweist) war in Form einer dekonstruierten Reproduktion des Gefängnisses präsentiert worden: auch hier implementierte die Künstlerin keinerlei virtuelle oder relative Freude über Freiheit, sondern ein räumliches Gefüge der Entfremdung.
Künstler angesichts von Freiheiten. Welche Art von Freiheiten ist mit dem Titel gemeint? Was sind diese Freiheiten, die "hier" und "jetzt" angeblich existieren sollen und denen der Künstler gegenüberstehen könnte? In erster Linie handelt es sich um ein Missverständnis, das diese ganze Edition von Dream City durchzieht, von den Werken selbst bis zu den im Katalog veröffentlichten Texten. "Freiheiten" und "Demokratie" sind auf eine immanente Weise miteinander verknüpft. Sie sind geradezu Synonyme. Die gegenwärtige Begrenztheit von Demokratie ist jedoch seit Jahrzehnten bekannt, selbst den überzeugtesten Demokraten. Man kennt auch den finanziellen Würgegriff des westlichen Demokratiemodells. Diese finanzielle Diktatur innerhalb von Demokratien muss in Zeiten der Krise, Rezession und soziopolitischer Konflikte nicht erst unter Beweis gestellt werden (die Indignados oder die Occupy-Bewegung zeigen ihre einvernehmlichsten und medialen Aspekte auf).
Beim Blick auf die vorgestellten Werke scheint es im Nachhinein so, als wenn die hauptsächliche Freiheit, die den Künstlern offenbar Freude bis hin zum Genuss bereitet, die des Spektakels ist. Speziell die zunehmend gleichförmige, mehr und mehr zur Unterhaltung, Verspieltheit und dem Einvernehmen mit dem Publikum aufgeblähte Produktion und Reproduktion. Ethnozentrisches Spektakel von Jilani Saadi versetzt durch die Fähigkeit in Erstaunen, seine Filmkamera an einem Auto, Fahrrad oder wie in seinem Film "Vue de Bizerte" sogar unter Wasser zu positionieren. Spielerisches Spektakel, dargeboten von Moufida Fedhila und Taoufik Jebali, deren gewünschte Umkehrung durch eine Artikulation der Werke im Geist von Spielen entschärft wird. Bildungsspektakel von Imen Smaoui, die mit dem Publikum tanzt. Und so weiter...
Die Integration des Spektakels als ein immanentes Modell der Produktion und Konsumption durch tunesische Künstler ist nichts Neues, ganz im Gegenteil. Was in Tunesien unkorrekter Weise "zeitgenössische Kunst" genannt wird, ist ganz und gar mit dem bourgeoisen Selbstverständnis verbunden und zutiefst von archaischen Mechanismen und Konzepten (im einem auf Werbung abzielenden Sinne des Begriffs) beherrscht. "Die urbane Ausstellung" von Fotografien, realisiert von vier Künstlern (Kiripi Katembo, Kourosh Adim, Li Wei und Mouna Karray) illustriert eine solche Verflechtung bestens.
Die großformatig gedruckten und auf von zwei Dream City Partnern bereitgestellten Werbetafeln präsentierten Fotografien schließen die ganze Werbeästhetik ein. Sowohl hinsichtlich der Form als auch der Substanz passen sie perfekt in die Ikonographie von Marketing und Kommunikation. Es handelt sich um ein Einknicken von Kunst vor den Forderungen des Sponsorings und rein merkantiler Interessen. Fotografie wird zur Apologie von Kommerzialisierung in einer Stadt, die nur vom Spektakel träumt.
>> Französischer Originaltext / En français
ismaël
Video- und Experimentalfilmkünstler. Autor, Cyberaktivist und Blogger. Lebt in Tunis, Tunesien.
Dream City
Biennale für Kunst im öffentlichen Raum
3. Edition
Medina von Tunis:
26. - 30. September 2012
Medina von Sfax:
5. - 7. Oktober 2012
Thema:
Der Künstler angesichts von Freiheiten
(L’artiste face aux libertés)
Künstlerische Leitung:
Selma & Sofiane Ouissi