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Über die Ausstellung im Palast der Königin im Juni/Juli 2012 und den Kontext des Documenta 13 Programms in Afghanistan.
Von Ingo Arend | Sep 2012Die dOCUMENTA(13) dürfte in die Kunstgeschichte eingehen. Erstmals gab es mit einer am 20. Juni 2012 in Kabul eröffneten Schau eine Ausstellung neben der in Kassel. Rund 5000 Kilometer östlich der temporären Weltkunsthauptstadt in Nordhessen verhalf Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev damit der Ursprungsidee Arnold Bodes von 1955 am Hindukusch zu neuem Leben.
Mit 27, zumeist schon in Kassel vertretenen Künstlern ist die "Kabuler Documenta" eine Erweiterung der Hauptausstellung gewesen. Schauplatz war der Palast der Königin, errichtet Ende des 19. Jahrhunderts und nach schweren Kriegsschäden 2003 bis 2006 vom Aga Khan Trust for Culture wiederhergestellt. Der zweiflügelige Bau befindet sich in den Bagh-e Babur (Gärten von Babur), angelegt im Auftrag von Zahir ad-Din Muhammad Babur (1483–1530), dem Begründer der Moguldynastie, der dort seine letzte Ruhestätte fand. Die Gärten sind ein beliebter Erholungsort am Stadtrand von Kabul.
Bakargievs "Hausgötter" durften in der afghanischen Hauptstadt nicht fehlen. In einem kleinen Pavillon neben dem Palast war ein Werk des Südafrikaners William Kentridge zu sehen. Verständnisprobleme bereitete sein Scherenschnitt-Animationsfilm Shadow Procession von 1999 den Besuchern nicht. Der 59-minütige Vorbeimarsch der Entwurzelten - Bergleute, Sträflinge, Wanderarbeiter, etc. - erklärt sich von selbst.
Einen Steinwurf davon entfernt hatte Giuseppe Penone ein Gegenstück zu seiner Arbeit Idee di Pietra in der Kasseler Karlsaue platziert. Mit Radici di Pietra, einer Marmorsäule, die an einen Baum gelehnt ist und mit diesem in die Höhe wächst, variiert der Arte Povera-Künstler einmal mehr sein Grundthema: das Verhältnis von Natur und Kultur. Penone hat seine angeblich millionenschwere Skulptur der Stadt Kabul geschenkt.
In Kassel versucht sich die dOCUMENTA(13) an einer Grenzerweiterung der Kunst im Zeichen von Ökologie und Naturwissenschaft. In Kabul war sie wieder das Medium der Existenzreflexion. Nach nur kurzer Autofahrt steht man vor den Toren der Stadt vor dem riesigen, im Bürgerkrieg zerstörten Darul-Aman-Palast, bekannt aus Mariam Ghanis auch in Kassel gezeigtem Zweikanalvideo A Brief History of Collapses (2011/2012). "Collapse and Recovery" – mehr als in Kassel ist Bakargievs Motto in der afghanischen Hauptstadt überall präsent.
Vor diesem Hintergrund verloren die steinernen Bücher von Michael Rakowitz alles Metaphorische. Der Installationskünstler aus den USA hatte einige der im Bombenhagel von 1941 im Kasseler Fridericianum zerstörten Manuskripte aus dem Stein der Höhlen von Bamiyan nachbilden lassen und in Kabul ausgestellt. "Ist das Afghanistan?" fragte ein Besucher den Künstler, als er eine Ansicht des zerbombten Fridericianums mit Filzstift auf eine Glasplatte übertragen wollte.
Goshka Macuga gelang der symbolische Brückenschlag zwischen den beiden Städten, die die Erfahrung von Zerstörung und Wiederaufbau vereint. In einem abgerundeten Raum im Palast der Königin versuchte das Kabuler Publikum die imaginäre Kasseler Festgesellschaft vor der Orangerie in der Karlsaue zu entschlüsseln, die der auf einer Digitalcollage basierende Wandteppich von Macuga zeigt. Es ist das Gegenstück zu ihrem Wandteppich im Fridericianum, auf dem eine Festgesellschaft mit Schlange vor dem Darul-Aman-Palast in Kabul zu sehen ist.
Stringenter als in Kassel wurden Bakargievs Schlüsselvokabeln in Kabul sinnfällig. Die Premiere des Films Reel - Unreel von Francis Alÿs über die Straßenkinder von Kabul ist ein Sinnbild für "Siege - Belagerungszustand" gewesen. Er wurde in der Ruine des Avantgardekinos Behzad auf eine zwischen Brandmauern gespannte Leinwand projiziert, hermetisch abgeschirmt von bewaffneten Sicherheitskräften.
Das legendäre One Hotel, das Alighiero Boetti 1971-1977 in der afghanischen Hauptstadt betrieb, wurde zum Prototyp von Bakargievs Vokabel "Retreat" – Erholungs- und Fluchtort zugleich. In seinem poetischen Dokumentarfilm Tea beschreibt der mexikanische Künstler Mario García Torres, wie er bei seiner Suche nach dem legendären Hotel und dessen Renovierung einen Rollenwechsel vom Gast zum Gastgeber vollzieht. Nun soll das Backsteinhäuschen im Hinterhof einer staubigen Kabuler Einkaufsstraße ein Ort für Künstleraufenthalte werden.
Die meterhohe Mauer aus Lehm, mit der Adrián Villar Rojas aus Argentinien den zentralen Platz des Palasts der Königin geteilt hatte, wirkte wie eine Metapher von Bakargievs Bekenntnis zum "degrowth": als Symbol einer natürlichen Grenze wie auch der Kraft der Kunst, aus Alltagsmaterialien etwas zu schaffen, das die Realität übersteigt.
Was viele befürchtet hatten, trat nicht ein: Die Kabuler Ausstellung war kein Akt des Kulturimperialismus, sondern das Ergebnis eines ästhetischen Entwicklungsprogramms. Hier sollte Zentralasien nicht mit transatlantischer Kunst beeindruckt werden: 15 der 27 Künstlerinnen und Künstler der Schau stammen aus der Region. Wie die 1973 in Kabul geborene Jeanno Gaussi, die seit 1978 in Berlin lebt. In ihrer Arbeit Peraan-e-Tombaan(Hose und Hemd, 2012) bestickte und bestückte sie traditionelle afghanische Gewänder mit militärischen Insignien - ein Bild der rapiden Militarisierung des Landes.
Schon zwei Jahre vor der Eröffnung hatten Documenta-Künstler zudem mit afghanischen Studenten in den Afghan-Seminars gearbeitet. Michael Rakowitz ließ junge Bildhauer in den leeren Steinhöhlen von Bamiyan die 2001 von den Taliban zerstörten Buddhastatuen kleinformatig nachbauen.
Mariam Ghani sichtete mit Filmstudenten das nationale Filmarchiv Afghanistans, das gut versteckt dem Bildersturm der Taliban entging. Und in den Seeing Studies der Berliner Künstler Natascha Hadr Saghighian und Ashkan Sepahvand ließen sich junge Künstlerinnen und Künstler von ausgewählten Werken der afghanischen Nationalgalerie zu eigenen Arbeiten inspirieren, die sie im Garden of Love and Peace ausstellten.
Zu den bemerkenswerten Talenten dieser Kurse zählt Mohsen Taasha. Der 21-jährige Kabuler Kunststudent kombiniert in seinen Bildern persische Miniaturmalerei, Motive islamischer Mystik, Graffiti und Punk zu einem ganz eigenen Stil. Für ihn bedeutete die Schau die erste Teilnahme an einer internationalen Kunstausstellung.
So kehrte die Documenta in Kabul zu Arnold Bodes Ursprungsidee zurück: Kulturelle Erneuerung nach der Barbarei des Krieges. Dass sie "Imagination und Fantasie als treibende Kräfte des Wiederaufbaus" (Bakargiev) stimuliert hat, bewiesen die 35.000 Besucher der Ausstellung in Kabul. Das ist eine bemerkenswerte große Zahl in einer Stadt, deren Bewohner eigentlich mit dem täglichen Kampf ums Überleben ausgelastet sind - und außerdem erst den Eintritt in die Gärten von Babur zu bezahlen hatten, bevor sie die Ausstellung sehen konnten.
Die 22-jährige Kunststudentin Zainab Haidary aus Kabul fasste das Gefühl der Ermutigung, das Bakargievs Credo bei ihr bewirkt hatte, so zusammen: " Ich komme aus einem armen Land, das mit den Folgen des Krieges kämpft. Aber ich bin reich. Denn ich kann malen."
Ingo Arend
Studierte Politik, Geschichte und Publizistik. Arbeitet seit 1990 in Berlin als Kulturjournalist und Essayist für bildende Kunst, Literatur und Kulturpolitik.
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Documenta 13 Ausstellungen im
Palast der Königin und Bagh-e Babur
sowie in der Nationalgalerie
Kabul, Afghanistan
20. Juni - 19. Juli 2012