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Kulturelle Identitätsdiskurse als ästhetischer Rebound. Über zwei Ausstellungen in Berlin.
Von Nico Anklam | Sep 2011Nevin Aladağ blickt mittlerweile auf ein vielschichtiges und umfassendes Werk zurück. In diesem Jahr ist sie in zwei Einzelausstellung in Berlin präsent: Dim the Lights 6:07 min im Raum für zeitgenössische türkische Kunst TANAS und ab September 2011 in der Galerie Wentrup mit ihrer Schau Rallye. Eine kontinuierliche Stärke des Schaffens der in der Türkei geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Künstlerin besteht darin, der dem Blick des Betrachters oft immanenten Suche nach Verhandlungen von kultureller Identität entgegenzukommen und diese scheinbar zu bedienen. Aladağ lässt diese Suche nicht zwangsläufig ad absurdum laufen, lenkt sie aber gekonnt in andere Richtungen. Kulturelle Identität wird bei Aladağ oft zu einem augenzwinkernden Hintergrundrauschen für ein medienreflexiv und ästhetisch komplexes Werk. Ihre Arbeiten scheinen der Einordnung in migrantische Deutungsschemata nicht nur müde zu sein, sondern spielen diese auf geschickte Weise zum Betrachter zurück. Sie lässt ihn in genau diesem Moment erkennen, dass sie auf diversen anderen Ebenen operiert.
In der Ausstellung bei TANAS präsentierte Aladağ zum ersten Mal eine Makramé-Knüpfarbeit aus Drahtseil. Großmaschig und frei im Raum hängend arrangiert, erlaubt die Künstlerin ein Umlaufen des Objekts. Durch die Inszenierung vor einer gelben Wand bringt dessen lichtreflektierende Materialität immer wieder neue Farblichkeiten hervor. Schauen wir mit Abstand auf das Makramé, erscheint es silbern, blicken wir durch das Makramé in den Raum hinein, werden die Drähte durch die Reflektion der gelben Wand hinter uns golden. Aladağ spricht Momente der Sichtbarkeit und des Verborgenen an, die auch durch Anspielungen auf häusliche Arbeit und geschlechtsspezifische, räumliche Konnotation an Konzepte von Außen und Innen geknüpft sind. Sie präsentiert uns ihr Makramé darüber hinaus durch einen materialästhetisch ungewohnten Blick auf eine normalerweise im Textil angesiedelte Kulturtechnik, die der Betrachter wahrscheinlich selbst 30 Jahre nach dem Erscheinen von Edward Saïds Orientalismus immer noch mit einer geografischen Einordnung in jenen vagen und konstruierten Raum des Orients verbindet. Hier setzt Aladağ an: Die Knüpfmuster ihres Makramés sind Visualisierungen des dem Drahtseil an sich innewohnenden Musters. Wie jedes der Drahtseile, so besteht auch jeder einzelne Faden aus verschiedenen Strängen, die im Querschnitt ein bestimmtes Muster ergeben. Diese unsichtbare Struktur imitiert Aladağ im Muster der Knüpfung und macht damit nicht nur die handwerkliche Tätigkeit sichtbar. Sie schafft es, der inneren Struktur des Seils eine visuell nachvollziehbare Form aus sich selbst zu geben und den strukturellen Kern des Mediums aufzuzeigen. Das Makramé verweist auf nichts anderes als auf sich selbst.
Aladağs verschiedenformatige Teppiche aus der Serie Pattern Matching (2010) operieren auf ähnliche Weise. Im Präsentationsmodus eines Gemäldes an der Wand gezeigt, evozieren ihre verschiedenen Teppicharbeiten Momente des Sammelns von Preziosen des Orients. Die vermeintlich authentischen Produkte eines spezifischen Kulturkreises sind in Wahrheit jedoch Collagen aus Teppichen unterschiedlicher Herkunft, von Kelims aus Afghanistan, dem Iran und der Türkei bis zu industriell gefertigten Teppichen aus Deutschland und China. Diese historisch und kulturell höchst unterschiedlichen Versatzstücke arrangiert Aladağ nun in Form von Aufsichten auf Basketballplätze. Vor dem Auge des Betrachters entstehen gewebte Arenen und textile Spielfelder, die plötzlich weniger mit dem Konstrukt Orient zu tun haben als vielmehr einen abermals ungewöhnlichen Blick bieten, nun aber auf einen sportiven, populär-kulturellen Exportschlager der Vereinigten Staaten von Amerika.
Zweifelsohne hat die Diskussion über kulturelle Identität und deren Rolle in gesellschaftlicher oder künstlerischer Hinsicht nicht an Dringlichkeit verloren. Dennoch scheint es eine Generation von Künstlern in der Diaspora oder mit Migrationshintergrund zu geben, für die eine ausschließliche Einordnung in diese Kategorie eine Barriere geworden ist, die verhindert, ihre Arbeiten in anderen theoretischen Kontexten zu lesen. Aladağs Leistung ist es, dieses relativ junge rezeptionsgeschichtliche Dilemma weder zu ignorieren noch offen zu bekämpfen: Sie bindet eine solche Problematik als Strategie in ihre Arbeiten ein, holt den (westlichen) Betrachter bei seiner Erwartungshaltung ab und gibt ihm auf den ersten Blick das, wonach er sucht. Auf dieser Basis ermöglicht sie ihm erst den Zugang zu den mannigfaltigen anderen Lesarten. In vielen ihrer Werke ist diese produktive Verwirrung angelegt, und wir finden uns schnell vor scheinbar orientalischen Knüpfarbeiten, deren eigentliches Zentrum eine mediale Selbstreflexion beinhaltet, oder wir stehen vor Teppichen, deren räumliche Aufteilung dem Feld einer amerikanischen Ballsportart nachempfunden ist, die recht wenig mit einer vermeintlichen kulturellen Authentizität des Perserteppichs zu tun hat. Es sind diese Momente, in denen Nevin Aladağ den Ball der Identitätsdiskurse an seinen eigentlichen Adressaten, den eurozentristischen Betrachter, zurückspielt und ihn mehr sehen lässt als zuvor.
Nico Anklam
Kunsthistoriker und Autor, lebt in Berlin.
Rallye
3. Sept. - 1. Okt. 2011
Galerie Wentrup
Tempelhofer Ufer 22
10963 Berlin
Zwei Ausstellungen von Nevin Aladağ in Berlin:
Dim the Lights 6:07 min
28. Mai - 30. Juli 2011