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Auseinandersetzung mit Differenz als andauernder Prozess.
Von Gilane Tawadros | Aug 2009Verschiebt sich das Kräfteverhältnis - politisch, ökonomisch und kulturell - an einen anderen Ort? Sind wir Zeugen dessen, was der Kulturtheoretiker Stuart Hall das Ende einer Konjunktur und den Beginn einer anderen nennen würde? Alle Anzeichen scheinen in diese Richtung zu weisen. Die Ausbreitung von Biennalen über den Globus von Istanbul bis Guangzhou, von Sharjah bis Singapur, und die Entwicklung neuer Museen in der südlichen Hemisphäre lassen darauf schließen, dass wir die Auflösung kultureller Hegemonie eines Teils der Welt erleben, der seinen Einfluss an andere Regionen der Erde verliert, die sich anschicken, beim Definieren der Parameter kulturell-ökonomisch-politischer Räume die Führung zu übernehmen. Wenn das tatsächlich das Ende einer Konjunktur und der Beginn einer anderen ist (es könnte allerdings zu früh sein, dergleichen zu behaupten), dann wird das kein glatter Bruch sein. Es wäre töricht, das kategorische Ende der Werte der westlichen Moderne mit einem Schlusspunkt zu antizipieren, nur um die frische Artikulation eines neuen Sets nicht miteinander verbundener Werte, Bedeutungen und Agendas des Nahen und Mittleren Ostens, Chinas, Indiens, Brasiliens oder woher auch immer zu verkünden. Die Gegenwart bleibt beharrlich mit der Vergangenheit verknüpft und die sogenannte "Entwicklungs-"Welt bleibt durch gemeinsame Geschichten und Erzählungen unumstößlich mit der "entwickelten" Welt verbunden. Vielleicht lässt sich an diesem besonderen Punkt nur mit Sicherheit sagen, dass man auf der nördlichen Halbkugel (vor allem in Europa und Nordamerika) ahnt, dass deren Autorität und ihr künstlerisches und intellektuelles Kapital weniger unumstößlich sind als dereinst, dass ihr Fundament auf dem Berghang, den Picasso und Braque zusammen "wie Bergsteiger" in den frühen Jahren der europäischen Moderne erklommen haben, ohne Zweifel weniger sicher ist.
Wir neigen dazu, Ausstellungen und Kunstwerke so zu sehen, als wären sie frei schwebende, von allem anderen um sie herum losgelöste Strukturen, aber natürlich sind sie Konstruktionen aus Ideen, Material und Erfahrungen, die aus der Welt, in der sie sich bewegen, herrühren. So etwas wie eine weiße Leinwand oder einen reinen Raum, die nicht vom Strandgut der Geschichte und Politik verunreinigt sind, gibt es nicht. Wir alle beginnen in einem vollgestopften Raum, angefüllt mit den Erwartungen und Ideen anderer Leute, informiert sowohl durch die Gegenwart als auch durch die Vergangenheit. Man nehme zum Beispiel die Kategorie "zeitgenössische Kunst des Nahen und Mittleren Ostens" (oder natürlich auch zeitgenössische Kunst aus Indien oder aus China). Der Ausdruck "Naher Osten" an sich ist schon ein Begriff, der unweigerlich eine Last an Erwartungen und Vermutungen mit sich bringt und - wie der Geograph Derek Gregory so eloquent darstellte - seine Wurzeln in der geopolitischen Dynamik der Macht und Repräsentation hat, die mindestens bis zu Napoleons Invasion in Ägypten 1798 zurückreichen. Der "Nahe Osten" - ein koloniales und militärisches Konstrukt für sich, das bis in die Gegenwart dynamisch fortbesteht - und seine Repräsentation(en) sind heiß umstritten.
Es gibt viele, die Kunst und künstlerische Produktion gern ohne die Last ihres politischen Kontextes und befreit von den Fesseln des Erzählerischen, Dokumentarischen oder Deskriptiven sehen möchten. Ist das nicht der Optimismus einer romantischen Sehnsucht, der die Oberhand über den Pessimismus der gelebten Erfahrung gewinnt? Selbst die absolut abstrakten und lyrischsten Kunstwerke kommen von irgendwo her, aus einer bestimmten Zeit und von einem spezifischen Ort. Sie sind durch jene historischen und geographischen Umstände geformt, die zu ihrer Herausbildung beitrugen. Damit soll nicht das Potenzial von Kunstwerken in Abrede gestellt werden, anderen Kulturen, Orten und Zeiten etwas mitzuteilen. Es geht nur darum, auf einer Überlappung von Kultur und Geographie und des Einflusses realer und imaginierter Karten in der Weise zu bestehen, wie wir die Welt sehen und kuratieren.
Natürlich dürfen Künstler und Kuratoren zu Recht erwarten, dass ihre Arbeiten in einem weiteren Kontext zeitgenössischer Kunst und Ideen betrachtet werden, ohne auf einen schonungslosen Bericht über Konflikte, Gewalt und religiösen Extremismus, die auf vielfache Weise die alltägliche Realität des Lebens der Menschen verzerren, wie ein militärisches Satellitenbild reduziert und fixiert zu werden. Macht und Repräsentation bleiben untrennbar miteinander verwoben, vielleicht mehr noch in der arabischen Welt als irgendwo sonst in diesen gegenwärtigen historischen Umständen. Wie ist es dann überhaupt möglich, die künstlerische Produktion jener Region als frei schwebende Bilder zu "sehen" und zu "lesen"? Selbst noch bevor das Kunstwerk das Atelier eines Künstlers in Amman, Kairo, Teheran, Beirut, Ramallah oder Algier verlassen hat, bleibt es in einem Rahmen von Repräsentation gefangen, der über Jahrhunderte hinweg akribisch fabriziert worden ist. Unweigerlich gibt dies Raum für Missverständnisse und falsche Lesarten. Wir tendieren zu der Annahme, dass wir alle vom selben Ort aus beginnen, und doch wird Englisch von links nach rechts und Arabisch von rechts nach links gelesen. Unsere Ausgangspunkte (und demzufolge unser Verhalten) können oftmals diametral entgegengesetzt sein und bieten Möglichkeiten für vielfache Fehleinschätzungen, Übersetzungsfehler und Missverständnisse. Am Ende haben wir mehr Fragen als Antworten.
Wie können die im Raum stehenden und ungelösten Fragen beantwortet werden? Wie kann eine tiefer gehende, komplexere Gesprächsreihe initiiert, eingebettet, vorgeschlagen werden? Aber bevor wir dahin kommen, ist es zunächst vielleicht erforderlich, die strittigen Punkte und Beunruhigungen zu artikulieren und zu benennen. Jeder wird seine eigenen Momente von Ratlosigkeit und Unbehagen haben, doch hier sind einige der meinen: die nicht ausreichende Beherrschung einer fremden Sprache untergräbt das Gefühl eigener Autorität und deren Wahrnehmung durch andere; die Tatsache der Verschiedenheit, zum Ausdruck gebracht in den vielfältigen Artikulationen, die den Gedanken einer homogenen, undifferenzierten zeitgenössischen Kunstwelt widerlegen; die Unmöglichkeit einer Zusammenfassung in einer einzigen Rubrik angesichts der physischen Bedingungen derart unterschiedlicher Städte, Länder, Ökonomien, Kulturen und die dennoch existierenden, gemeinsamen Punkte einer Kontinuität und Verbindung, die von ihrem historischen (und kolonialen) Werdegang herrühren; der Wunsch über Kunst und Ideen zu reden und dennoch zu wissen, dass wann immer wir dies tun, wir über die Politik der Repräsentation stolpern werden; das Bild unterdrücken und die Politik der Macht und Repräsentation in den Vordergrund stellen, denn am Ende ist sie sowieso immer da, wie schweigende Mandarine, die das Ergebnis unseres Austauschs selbst dann prägen und beeinflussen, wenn wir sie nicht wahrhaben wollen; die Politik verdrängen und so zu tun als ob Künstler und Intellektuelle aus der sogenannten "Entwicklungs-"Welt die gleichen Wettbewerbsbedingungen hätten, wie ihre europäischen und amerikanischen Kollegen und dass Kontext (und Politik) irrelevant sei; das Visuelle bevorzugen und eine Shoppingliste "heißer" Künstler, Kuratoren und künstlerischer Projekte aufstellen, die von einer globalen Einkaufsexpedition weggeschnappt werden, die nicht von der beschwerlichen und anstrengenden Voraussetzung ausgeht, das intellektuelle und konzeptionelle Paradigma einer Institution oder Sammlung zu überdenken.
Die Tatsache der Verschiedenheit wie die Erfahrung eines ungewohnten und herausfordernden Kunstwerks zwingt uns dazu, eine Position einzunehmen, die unbequem, heikel, verstörend und auf verschiedenen Ebenen mit unserer üblichen Wahrnehmung der Welt unvereinbar ist. Bleibt uns denn überhaupt eine andere Option als zu versuchen, uns mit der Differenz zu arrangieren - nicht indem wir sie assimilieren oder neutralisieren oder exotisieren, sondern indem wir uns mit Differenz als einem andauernden Prozess, der an Tiefe und Komplexität gewinnt und nie der gleiche bleibt, auseinandersetzen? Wenn dieser historische Moment sich tatsächlich als das Ende einer Konjunktur und der Beginn einer anderen erweist, dann müssen wir mit den Implikationen dieses Wandel klarkommen und uns in unserem Verhalten neu orientieren. So wie wir bislang von links nach rechts lasen (und kuratierten), müssen wir jetzt womöglich damit anfangen, von rechts nach links zu lesen?
Gilane Tawadros
Kuratorin und Kunstpublizistin; geboren in Kairo, lebt in London. Gründungsdirektorin des Institute of International Visual Arts (inIVA) und Kuratorin der Fotobiennale in Brighton 2006.
Dieser Artikel ist eine Reaktion auf Themen des Symposiums "Contemporary Art in the Middle East: A Two Day Conference at Tate Britain and Tate Modern" im Januar 2009 in London. Zuerst veröffentlicht in Printed Project, Nr.11 (Farewell to Post-Colonialism – Querying the Guangzhou Triennial 2008), herausgegeben von Sarat Maharaj und Dorothee Albrecht.