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Der brasilianische Künstler über seine Performance im Kulturbahnhof und deren Kontext. Aufgeschrieben von Pat Binder & Gerhard Haupt nach einem Interview.
Jan 2017Im Februar 2017 ist Universes in Universe 20 Jahre online. Aus diesem Anlaß erinnern wir an einzelne Beiträge aus den zwei Jahrzehnten und machen sie in unserem heutigen Design auch für Mobilgeräte zugänglich.
Inside out, upside down (Ponta Cabeça), 1997
Installation, Performances.
documenta X, 1997. Ort: Kulturbahnhof, Kassel
Ausgangspunkte für die Arbeit in Kassel
Ein Ausgangspunkt für mein Werk in Kassel war die Arbeit, die ich in New York anläßlich des 10. Jahrestages der Katastrophe von Tschernobyl zeigte. Sie ist dem Einsatztrupp gewidmet, der die gefährlichsten Rettungsarbeiten zu leisten hatte. Es handelt sich dabei um eine Parodie auf einen Teilchenbeschleuniger in den Straßen von New York. In einer Gegend, wo sonnabends und sonntags viele Leute sind, ließ ich sieben Männer in einer Möbius-Schleife laufen. Sie gingen immer in derselben Richtung, so daß sich ihre Wege an bestimmten Punkten kreuzten. Die sieben waren in weiß und in Jeans gekleidet, und jeder hatte einen Koffer dabei. Jedes Mal wenn einer den anderen traf, öffneten sich ihre Koffer, der Inhalt fiel heraus und ein Fotograf machte eine Aufnahme. Es war eine perfekte Parodie auf einen Teilchenbeschleuniger, bei dem zwei Partikel aufeinanderprallen und auf einer Fotoplatte aufgezeichnet wird, was im Kernzentrum passiert, das in diesem Falle die Kofferträger sind. Dabei sah man den mysteriösen Inhalt, und der bestand aus Fragmenten eines menschlichen Körpers, ohne den Torso, das heißt ohne die Zeichen der Sexualität. Nachdem sie auf den Boden gefallen waren, nahmen die Typen diese Fragmente, die voller Gelatine waren, reinigten sie, sammelten sie wieder auf und verstauten sie im Koffer, als wenn nichts geschehen wäre. Körperteile in einem Koffer sind ja ein klassisches Verbrechen, und hier wird die Verbindung zwischen einem individuellen Verbrechen, das den Mysterien der menschlichen Leidenschaft entspringt, und einem großen, kollektiven Verbrechen gegen die Menschheit, das aus der Logik der Wissenschaft resultiert, hergestellt. Dazu gibt es einen Text, der diese Performance beschreibt als wenn es sich um ein wissenschaftliches Ereignis handeln würde.
Die Hüte als Tempel
Ein weiterer Ausgangspunkt für die Arbeit in Kassel war der große Hut, den ich bei der Biennale in Venedig von sieben jungen Mädchen tragen ließ. Ihre Haut- und Haarfarbe [darauf wurde im documenta X-Kurzführer und in der Presse immer wieder explizit hingewiesen - Anm. UiU] hängt immer vom Land ab, in dem die Performance stattfindet. In Venedig waren es sieben Venezianerinnen, und in Kassel suchte ich auch sieben Jungen aus, die das typisch Deutsche darstellen. Die Mädchen waren sehr weiß und sehr schön, was sofort an Karyatiden denken läßt, die Stützfiguren antiker Tempel.
Der Hut ist für mich wie ein Tempel, ein heiliger Ort, wie zum Beispiel Delphi mit seinem Orakel und seinen Wahrsagerinnen. In Venedig parodierte ich auch einen bestimmten Kontext, denn die Arbeit gehörte zur Ausstellung An Avant-Garde Walk in Venice (1995). Für Kassel habe ich ein drittes Element eingebaut, einen weiteren Hut aus Filz. Beide Hüte, beide Tempel, sind verschieden in Material, Charakter und in der Konstruktion. Der aus Stroh ist wie eine Spirale und vermittelt Leichtigkeit, etwas Temporäres, eine Unendlichkeit. Im Gegensatz dazu ist der aus Filz ein kompakter Druck, ein unbeweglicher Zeitblock. Der Filztempel wird von Körperteilen, die von der Decke hängen, im Grunde "getragen", denn der Hut selbst hängt umgekehrt. Es entsteht eine Verbindung zwischen diesem Hut, den Männern und dem Inhalt der Koffer, der vor den Mädchen, vor dem "schreitenden Tempel" plötzlich ausgekippt, das heißt, "ejakuliert" wird.
Das Werk als Orakel
Ich sehe dieses Werk als eine Art Orakel. Es ist für mich die Wiedereinführung der Weissagung, des Göttlichen in die Kunst. Damit haben auch die Haltekreuze für Marionetten, von denen die Hüte hängen, und der Vorgang zu tun, den einen Tempel sozusagen von der haltenden "Hand Gottes" zu befreien. Jedesmal wenn ein Zuschauer etwas wahrnimmt, wird dieses Etwas Teil seines Schicksals, ob er es will oder nicht. Die Tragweite dieser Einverleibung hängt von der Disposition deines Schicksals selbst oder deinem Willens ab, das Wahrgenommene zu begreifen. In diese Richtung geht die Idee der Wiederaufnahme von Schicksal und Weissagung in die Kunst. Das ist eines der wichtigsten Elemente meines Werkes.
Inside out, upside down
Es gibt zwei weitere Elemente, die ich noch nicht erwähnt habe und die anscheinend nicht so sehr aufgefallen sind. Zur Performance wurde Musik gespielt, ein Teil aus einem klassischen Chanson von Charles Aznavour, das endlos wiederholte "Qu´est ce triste Venice...". Das ist eine explizite Referenz an Venedig, man darf ja nicht vergessen, daß die Biennale kurz vor der documenta eröffnet wurde. Wenn aber schon Venedig trist sein soll, stelle man sich nur einmal Kassel vor! Die andere Musik steht in Verbindung mit dem Filzhut. Sie ist von einem populären brasilianischen Sänger, der einen Text von Hermes Trimegisto singt, eigentlich nur eine chemische Formel, was im Sambarhythmus sehr komisch wirkt. Dabei wird nur endlos wiederholt: "Das was unten ist, ist gleich dem, was oben ist, das gleich dem ist, was unten ist, das gleich dem ist, was oben ist ... " Die Kombination dieser beiden Musikelemente ergibt den Titel meiner Arbeit: "Inside out, upside down".
Das wird aber kaum erwähnt. Es scheint ein Stillschweigen gegenüber allem zu geben, was anekdotisch sein könnte. Das finde ich sehr merkwürdig aber auch interessant, denn eigentlich ziehe ich es vor, daß mein Werk in seiner orchestralen Form gelesen wird, als eine Symphonie komplexer Informationen, die von einer einzigen Referenz nicht aufgelöst werden kann.
Vom Wert intuitiver Wahrnehmung
Vor einigen Jahren habe ich begriffen, daß über Probleme und tiefgreifende Themen auch Leute angesprochen werden können, die keine ästhetische Kultur haben, und zwar - obschon auf verschiedener Ebene - ebenso wie Leute mit einer enormen kulturellen Bildung. Ich nenne ein Beispiel: In einer Ausstellung zeigte ich in einer Endlosschleife die Aufnahme eines Tunnels, begleitet von Frank Sinatras "Night and Day". Ein Besucher blieb stundenlang wie hypnotisiert davor stehen. Als ich mich näherte und fragte, was mit ihm los sei, erzählte er mir, daß er vor kurzem operiert worden war und tatsächlich seinen klinischen Tod erlebt hätte, an den er sich genau so erinnert, wie dieser unendliche Tunnel ist. Das Werk hätte ihm die Erinnerung an diesen Moment wiedergebracht, wofür er sehr dankbar sei. Ich unterhielt mich weiter mit ihm, und obwohl er ein sehr einfacher Mensch war, hatte er eine spontane, intuitive Kenntnis von den Themen, um die es in meiner Arbeit ging: die Idee der Kontinuität, Zirkulation, Zeitlosigkeit. Eine Ausstellung wie die documenta müßte respektvoller auch mit den Leuten umgehen, die keine Spezialisten, keine Initiierten sind. Ich bin überzeugt, daß eine Dichte auch durch Kommunikation erreicht werden kann.
Sensualität und Rationalität
Ich glaube, es existiert hier in Europa ein großer Irrtum hinsichtlich der Trennung von Soma und Psyche, der aus einem Übergewicht der Vernunft resultiert. Das betrifft auch die Sicht auf die Kunst der Region, die Brasilien genannt wird. Doch dort wird der Raum nur in einer anderen Art aktiviert. Man sieht das zum Beispiel bei Oiticica, Lygia Clark, Soto, Sérgio de Camargo und so vielen anderen. Ich finde, man spürt bei der damit verbundenen Erfahrung des Körpers, daß die Zuneigung, die Gefühle, die Körperlichkeit, auch Arten des Denkens sind. Wenn sich das dann in ein effektives Denkprogramm eingliedert, entsteht eine Vernunft, die nicht nur strikte Abstraktion ist. Eigentlich gehört zu jeder physikalischen Theorie eine Anekdote, die der Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Theorie ist, so wie Newtons Apfel. Es ist eine Wahrnehmung unserer Ratio, die der Sensualität entspringt und jene Theorie vorwegnimmt, die dann mit einer konstruierten - und nicht mit einer natürlichen - Sprache aufgebaut werden muß. Aber aus der Sensualität der natürlichen Sprache kann ein Kunstwerk geschaffen werden, das eine Verbindung mit der Vernunft eingeht. Und wenn ich Rothko sehe oder Billy Holliday höre, weiß ich, daß ich recht habe.
Beziehung zur Cabeza colectiva von Lygia Clark?
Im Katalog erscheint auch ein Foto von einer Gruppe Männer in Afrika, die das Dach einer Hütte tragen. Die Struktur ist meiner Idee sehr ähnlich, und auch den erwähnten Karyatiden, die den Tempel wie einen großen kollektiven Hut tragen. Diese Idee des Hutes beinhaltet ein Paradox, denn ein Hut ist etwas ganz individuelles, und dieses Individuelle in etwas Kollektives umzuwandeln, ist eine Herausforderung. Von daher ist eine Verbindung zu Lygias Werk höchstens im Sinne eines Archetyps, nicht aber in dem eines kulturellen Vererbens von einem Künstler zu einem anderen vorhanden.
Ich halte selbst die Suche nach einer Genealogie in der brasilianischen Kunst für einen Irrtum, genauso wie es ein Irrtum ist, von lateinamerikanischer Kunst zu sprechen. Schon der Begriff "internationale Kunst" ist verfänglich, weil "inter-national" automatisch die Idee von Nationen voraussetzt und impliziert. Und wie wir wissen, hat dieser Begriff auf der Welt viele Diktaturen hervorgerufen. Es ist notwendig, eine allgemeine Kritik zu üben und zu beginnen, in anderen Perspektiven zu denken.
Ich komme zum Beispiel aus einem Gebiet namens Brasilien, mit Einflüssen indianischer portugiesischer, afrikanischer Kultur und dazu noch mit meiner Erfahrung dessen, was Spanisch-Amerika genannt wird, weil ich in meiner Jugend in Chile gelebt habe. Es gibt nicht nur ein Lateinamerika, es sind viele, genauso wie Brasilien nicht eine homogene Einheit ist, sondern unzähligen. Wenn ich aber in den USA oder in Europa ausstelle, hauptsächlich in Europa, sagen die meisten, daß die Mehrheit der Werke aus Lateinamerika Phantasien auf der Suche nach einer Identität sind. Es wird nicht zur Kenntnis genommen, daß ich keine solche Identität brauche, daß diese Menschen keine Identität suchen. Identität ist ein Problem Europas.
Die nächsten Projekte / zum Konzept der documenta X
Ich bin mitten in der Vorbereitung meiner Ausstellung für das Bard College in New York, eine Art Retrospektive meiner letzten 20 Jahre. Das erschreckte mich zuerst, weil ich ja erst Mitte 40 bin. Aber so ein Überblick entspricht eigentlich meiner Vision überhaupt, weil ich meine Arbeit eher als ein Programm sehe, in dem ein Werk ein weiteres unterstützt. Eine ältere Arbeit wird durch eine jüngere neu gelesen.
Das ist, denke ich, auch eine Idee, die im Konzept von Catherine David steckt. Sie zeigt diese historischen Ausstellungen, die unglücklicherweise in einer deutschen musealen Struktur erstarrt sind, die es z. B. nicht erlaubt, daß die Leute die Werke von Lygia Clark oder von Hélio Oiticica anfassen, was aber zu deren Eigenart gehört. Trotzdem weist sie darauf hin, daß sich das Paradigma der zeitgenössischen Kunst nicht mehr aus einer Kritik der Moderne ergibt, wie es der Postmodernismus vorgab. Es ist eher eine positive, neue Lesart des Potentials des Moderne, andere und neue Möglichkeiten entstehen zu lassen, was heute ja geschieht. Die Ausstellung mag auf visueller Ebene nicht so stark sein, aber sie zeichnet einen sehr klaren und deutlichen intellektuellen Weg. Wenn sich die documenta mit Lygia Clark, Oiticica, Matta Clark, Baumgarten und anderen auseinandersetzt, markiert sie eine Haltung zum Programm der Moderne, um es perspektivisch zu analysieren und nicht, um es zu kritisieren oder um mit den technologischen Möglichkeiten der Computer die Stile zu vermischen. Sie überdenkt die Diskontinuität der Welt im Kontext einer neuen Realität, die nicht mehr nur Europa und Nordamerika ist. Sie ist etwas viel umfangreicheres, womit ich aber auch nicht die Globalisierung meine. Das ist das, was mir bei dem wenigen, das ich bisher von der documenta sehen konnte, positiv erscheint und das auch meinen eigenen Überzeugungen entspricht.
© Text, Fotos, Übersetzung: Binder & Haupt, Universes in Universe.
Aufgeschrieben nach einem Interview mit Tunga in Spanisch am 27. Juni 1997.
Tunga
Antônio José de Barros de Carvalho e Melo Mourão
* 1952 Palmares, Pernambuco, Brasilien.
+ 2016 Rio de Janeiro, Brasilien.
Inside out, upside down
(Ponta Cabeça), 1994-97
Installation,Performances
Ort: Kulturbahnhof
Teil der
documenta X
21. Juni - 28. September 1997
Kassel, Deutschland
Künstlerische Leitung: Catherine David