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Return the World. Seine skulpturale Installation auf den Weinbergterrassen in Kassel auf der Documenta 13.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Sep 2012Auf der Biennale Venedig 2011 erregten die gigantischen, dicht bei dicht stehenden Skulpturen von Adrián Villar Rojas im Arsenale großes Aufsehen. Dem 1980 in Rosario geborenen Künstler wurde eine kometenhaften Karriere prophezeit. Deshalb war seine Auswahl für die Documenta 13 nicht allzu überraschend. Diese oft als "Weltausstellung" der Kunst bezeichneten Schau in Kassel (Deutschland) findet nur alle fünf Jahre statt. Daran teilnehmen zu dürfen, gilt als das Höchste, was ein Künstler im internationalen Kunstbetrieb erreichen kann.
In Vorbereitung der Documenta reiste Villar Rojas ohne irgendeinen Plan oder eine Idee nach Kassel. Dort entschied er sich für ein Projekt auf dem steilen Hang eines Berges am Rande des Stadtzentrums, etwa 300 Meter von der Neuen Galerie entfernt, einem der Hauptausstellungsorte der Documenta.
Dieser Teil Kassels fand bereits im 13. Jahrhundert als "Weinberg" Erwähnung. Doch wegen der zu schlechten Qualität des Weins wurde das Gelände jahrhundertelang für Gärten genutzt. Oben auf dem Weinberg ließ die Industriellenfamilie Henschel, damals Europas größter Lokomotivhersteller, Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zwei Villen errichten. Insbesondere wegen der Rüstungproduktion der Henschel-Werke (Panzer und Flugzeugmotoren) musste Kassel im 2. Weltkrieg verheerende Bombardements der Alliierten erleiden. Deshalb wurden die Bierkeller in dem Felsen 1942 zu einem Luftschutzbunker für bis zu 10.000 Menschen umgebaut. Die beiden Henschel-Villen auf dem Berg sind im Krieg zerstört worden.
Als Adrián Villar Rojas diesen Ort wählte, gab es keinen öffentlichen Zugang zu dem verwilderten und verfallenen Grundstück. Dank der beabsichtigten Nutzung für die Documenta 13 konnte die Stadt Kassel überzeugt werden, die Sicherung und Grundinstandsetzung des Geländes zu übernehmen und es dem Publikum zugänglich zu machen.
Zusammen mit seinen Assistenten schuftete Villar Rojas fast 100 Tage lang auf dem Weinberg. Wie der Künstler ausdrücklich betonte, sollte der Aufbau seines Projekts genauso viele Tage dauern, wie die Documenta 13 geöffnet ist. Ohne sein eingespieltes Team, eine Art moderner Bauhütte, wäre ein derart ambitioniertes Vorhaben nicht umsetzbar gewesen. Einige der 18 jungen Argentinier, die in Kassel für Villar Rojas arbeiteten, begleiten ihn schon seit der 2. Biennale am Ende der Welt 2009 in Ushuaia, Feuerland. Für diese hatte er in einem Wald die 28 Meter lange Skulptur eines toten Wals geschaffen.
In Kassel wollte Adrián Villar Rojas sein Material und seine Technik, ein Gemisch aus ungebrannter Tonerde und Zement, bis an die Grenze des Machbaren ausreizen. Um die fast 70 Werke in verschiedenen Gruppen und Konstellationen sehen zu können, müssen die Besucher die Wege und Treppen des steilen Weinbergs bis ganz nach oben hinaufsteigen. Wer während der Pressevorbesichtigung das Terrain durch den Eingang unten wieder verlassen wollte, wurde von resoluten Aufsichtskräften daran gehindert und zum Ausgang auf den Berg hinauf geschickt.
Geometrische Elemente - Stützpfeiler, ein Wasserkanal, Rahmen - sind scheinbar funktional in die Terrassenarchitektur eingefügt. Beim Betreten der Hauptplattform stößt man zunächst auf organische skulpturale Formen, die wie Äste oder Luftwurzeln wirken. Ein Hirsch liegt im Gras, ein Stück weiter ein hohler Baumstumpf. Eine fragile menschliche Figur mit einem zerborstenen Tier auf ihrem Körper kippt nach hinten. Auf einem Sessel zerquetscht ein massiger Riese ohne Kopf eine dürre Gestalt unter sich, entsetzt beäugt von einem stehenden Mann ohne Unterarme. Am Rand einer Balkenkonstruktion mit Zahnrad ist ein verwesender Tierkadaver platziert. Ein Stück weiter liegt ein Baby in einer Schale. Auf der nächsten Terrasse sitzt eine nackte Frau auf einem gigantischen Knochen und säugt ein Ferkel. Weiter oben, halbwegs versteckt zwischen Büschen, steht ein junger Mann in einem Boot und reckt dem vor ihm sitzenden, sich entsetzt abwendenden Mädchen seinen Penis entgegen.
"Return The World", wie der nur in dieser englischen Form existierende Titel lautet, ist ein merkwürdiges, morbides Welttheater. Adrián Villar Rojas hat es nicht einem vorgefertigten Entwurf folgend umgesetzt, sondern während des Arbeitsprozesses entwickelt und dabei immer weiter getrieben. Ob er tatsächlich an die Grenzen seiner technischen Möglichkeiten gestoßen ist, lässt sich nicht so recht erkennen. An konzeptionelle aber sicher. Gelegentlich schwelgt er zu sehr in bloßen handwerklichen Fertigkeiten und bleibt naturalistisch im Anekdotischen stecken.
Aber es lohnt sich durchaus, den Weinberg wirklich bis ganz nach oben hinaufzusteigen. Kurz vor dem Ausgang wird man durch eine Ansammlung zahlreicher, teil deformierter Glockenformen überrascht. Wie eine stumme Prozession sind sie unter dem Unterbau der Straße aufgereiht, die am Museum für Sepulkralkultur, das direkt darüber auf dem Berg steht, entlangführt.
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.
Return The World. 2012
Installation
Ungebrannte Tonerde, Holz, Zement, Metall
Weinbergterrassen
Kassel, Deutschland
Teil der
dOCUMENTA (13)
9. Juni - 16. Sept. 2012