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Die Ausstellung der Young Artist’s Coalition erkundet die letzten 30 Jahre der Geschichte Ägyptens.
Von Aida Eltorie | Jan 2012Was würden Sie tun, wenn Sie die letzten 30 oder 60 oder 90 Jahre einfach ungeschehen machen könnten?
Kairo. Am 10. Januar 2012, fast ein Jahr nach den Aufständen vom 25.01.2011 in Ägypten, wird eine Ausstellung im Saad Zaghloul Haus der Nation (Beit Al Uma) eröffnet, dem Kulturzentrum hinter dem Mausoleum der Führer des revolutionären Widerstands gegen den Kolonialismus 1919. Dieser Ort wurde von der Young Artist’s Coalition und ihren Unterstützern in der Absicht ausgewählt, sich auf die Geschichte zu beziehen und uns an die Wiederholungen unserer Vergangenheit zu erinnern.
Die Young Artist’s Coalition ist während der Aufstände im Januar 2011 von engagierten Künstlern gegründet worden, die auf die Straße gegangen sind. Sie demonstrierten weiter im Namen all jener, denen klar geworden war, dass dies nicht das Ägypten ist, das ihnen in den letzten 30 Jahren zugestanden hätte.
Shift Delete 30 präsentiert 13 Künstler (geboren Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre), ausgewählt von Ibrahim Saad, Mostafa El Bana und Amr Amer [1], mit einer unkonventionellen Kombination von Kommentaren, die aus dem Bewusstsein resultierten, dass die zurückliegenden 30 Jahre - die allein sie als ihre Lebenszeit kennen könnten - getilgt oder in einigen Fällen ausgehend von ihrer eigenen Perspektive revidiert, entwickelt und neu angelegt werden müssten.
Wenn die Besucher die Räumlichkeiten unter dem Erdgeschoss des Zentrums betreten, werden sie mit aufgeteilten Räumen konfrontiert, die durch einen Gang verbunden sind:
Im ersten Raum ist ein Wandbild von Bassem Yousri, in demselben sarkastischen Illustrationsstil zu sehen, den er benutzt, um Charaktere darzustellen, die er in der ägyptischen Kultur gefunden hat. Bezugnahmen auf alte ägyptische Gottheiten, die Muslimbrüder, Ringer, Clowns, koptische Christen, Geschäftsleute, berufstätige und arbeitslose Bürger, Bauarbeiter und Bauern, Demonstranten und Zwerge - alle aufgereiht unter dem ägyptischen Adler, der über ihren Köpfen verächtlich ein Spruchband hält, auf dem "Das Parlament der Revolution" in völlig falscher Schreibweise steht. Eingerahmt von einem gemalten Fernsehapparat erscheint der Künstlers selbst in einem Video als Sprecher "Aller wichtiger Angelegenheiten" (wie der Titel des Videos lautet). Seine Kleidung weist darauf hin, dass er arbeitslos ist, und seine dahingequasselte Nonsensrede wird zu einer Projektion dessen, was aus den Leuten in den Jahren der Ungebildetheit und Entbehrungen geworden ist.
Wenn man vor der Weltkarte steht, die Osama Dawod gestaltet hat, denkt man zunächst unweigerlich, es würde sich dabei um die gleiche Art von Karten handeln wie die vielen, die man in den Einkaufsstraßen des Stadtzentrums kaufen kann. Doch fehlt darauf die arabische Halbinsel: Dawod hat eine ganze Region entfernt, die ein großes Auffangnetz für Mubarak, Ben Ali und Gaddafi war, um dorthin zu flüchten, wenn es ihnen nicht gelingt, die Loyalität ihrer Völker zurückzugewinnen.
Im nächsten Raum zeigt Ahmed El Samra ein Remake des Open-Source-Spiels "Angry Birds" (Wütende Vögel). Stilisierte flügellose Vögel werden über einen Hügel geschleudert, um die Festung von habgierigen Schweinen zu zerstören, und in dem Spiel geht es um ihr Überleben, denn die Schweine haben ihre Eier gestohlen. In seiner Arbeit ändert El Samra den Namen des Spiels in "Angry Boys" (Wütende Jungs) und stellt das um sein Weiterbestehen bemühte politische Verbrechersystem gegen friedliche Demonstranten, die versuchen, inmitten von wütenden Oppositionellen zu überleben.
An der dem Spiel gegenüberliegenden Wand ist die Arbeit des jüngsten Künstlers der Gruppe zu sehen. Mohamed Mohsen (aka Chetos) schuf "Den Republikanischen Schwur", ein Gelöbnis der Treue gegenüber der Nation und dem Volk. Mit dem Goldenen Adler als Hintergrund steht geschrieben:
Bei Gott dem Großen schwöre ich Treue,
dem nationalen Recht gemäß zu beschützen,
das Gesetz und die Verfassung zu respektieren,
voll und ganz die Interessen unseres Volkes zu schützen,
unser Recht auf Unabhängigkeit,
unser Land und unsere territoriale Integrität zu schützen.
Osama Abdel Moneim, der zusammen mit Ibrahim Saad einen Monat zuvor den Großen Preis des 22. Jungendsalons im Ägyptischen Palast der Künste gewonnen hat, zeigt die Arbeit "GPS". Das sind ein Stadtplan und die Luftaufnahme eines Abschnitts des Nils mit der Brücke des 6. Oktober, einem politischen Wahrzeichen, die den Bezirk Zamalek mit dem Stadtzentrum verbindet und zum Tahrir-Platz führt. Diese längste Brücke Kairos ist nach dem Beginn des Oktoberkriegs gegen Israel im Jahr 1973 benannt. Der Stolz und die Würde, die in den 1970er Jahren unter Anwar Sadat erlangt worden sind, schienen verlorengegangen zu sein, als das Land in die "experimentelle Ära" des Mubarak-Regimes und die folgenden 30 Jahre eintrat, bis dieser schließlich seine Macht über das Volk verlor.
In einem kleinen Gang untergebracht, zeigt das Video "Action TV" von Islam Kamal, wie man sich gegen Tränengas, prügelnde Polizisten und Angriffe von Schlägertrupps schützen kann. Als eine Art politisches Medium lehrt die Arbeit die Bewegungsabläufe der Selbstverteidigung, kritisiert aber zugleich die Effekte unbedachter Anwendung. Natürlich würde das ägyptische Fernsehen den Bürgern niemals einen Lehrfilm über Selbstverteidigung gegen Angriffe der Staatsmacht zeigen, doch diese Art von Videos erschien auf YouTube und zirkulierte unter Freunden.
Der Raum "Limited Edition" von Mohamed Abdallah ähnelt einem Geschäft für Mobiltelefone, in dem Instruktionen darüber zu finden sind, wie ein Kommunikationsdienst unter eingeschränkten Bedingungen zu betreiben ist. Der Raum lässt den Besucher glauben, er hätte tatsächlich eine Kommunikationsagentur betreten, mit all dem notwendigen Service, allerdings mit Ausnahme der Telefone, die hier Duschköpfe von Handbrausen sind.
Im fotografischen Triptychon von Mohamed Ezz ist das Porträt eines Bereitschaftspolizisten zwei Elementen gegenübergestellt, die friedliche Demonstranten zu ihrem Schutz mit sich führten: eine Flasche Cola und eine Flasche Essig - die beiden wichtigsten Utensilien, wenn man es mit Tränengas zu tun hat.
Zur letzten Zusammenstellung von Kunstwerken gehört eine Museumsvitrine, in der ein wie eine Mumie eingewickelter Körper liegt. Ihr Eselskopf ist ein sarkastischer Kommentar über den geistigen Zustand der Körper, die zur Ruhe gelegt wurden. In "Dominant 1981 - 2045" bedauert Ahmed Abdel Fattah seine Generation dafür, dass aus ihr ungebildete und einfältige Leute geworden sind, die von der Regierung missbraucht und ausgenutzt werden.
In der Fotocollage von Tamer Shahen, die von der Decke hängt, wird jeder Fotostreifen eine Ortes in der Stadt zum Hintergrund des Bildes daneben. Es sind sich überlagernde Ebenen von Geschichte, Moderne und der hässlichen Seite der Wirklichkeit: der Turm des Tiring-Gebäudes, die Ibrahim-Pascha-Statue und der alte Opernplatz werden ihrer beschämenden Gegenwart gegenübergestellt, in der Verkehr, massenhafter Wohnungsbau und verminderter Wohlstand die neuen Fassaden der Stadt sind.
Die Arbeit von Amr Amer in dieser Ausstellung ist sehr verschieden von seinen üblichen digitalen Collagen, denn er hat beschlossen, den neuen Zustand zu definieren, in dem sich das Land schon bald befinden könnte. Auf vier Bereichen der Wand zeigen gelbe Verkehrsschilder jeweils ein Zeichen, das in der ägyptischen Kultur üblich zu werden beginnt. Das erste zeigt eine Granate, das zweite einen bärtigen Mann, das dritte eine AK 47 Maschinenpistole und das vierte eine komplett verschleierte Frau. Unter jedem ist ein Kasten angebracht, der einer Wahlurne ähnelt und neben dem der Künstler Zettel ausgelegt hat, auf denen er die Leute bittet, ihre Gedanken zu dem jeweiligen Bild zu äußern. Die ersten Gedanken, die einem dazu einfallen, werden dann in einer Publikation versammelt, die wiedergibt, was die Besucher mit jedem Bild in Verbindung bringen.
Das "Haus der Republik" von Ibrahim Saad nimmt eine kleine Ecke der Ausstellung ein. Saad bezieht sich auf etwas andere Weise als seine Kollegen auf die Geschichte, indem er auf die Revolution in Rumänien von 1989 zurückblickt und danach fragt, ob das, was in Kairo passierte, das Recycling einer anderen kulturellen Hegemonie ist. Er dokumentiert die Ereignisse jener Geschichte und vergleicht sie mit den Geschehnissen in Ägypten, wo die Situation noch von der Armee beherrscht wird und die Polizei nicht dem Volk dient, sondern gegen dieses agiert.
Am Schluss des Rundgangs durch die Ausstellung präsentiert Mostafa El Bana, einer der jüngeren Künstler, seine Arbeit "Frühling ohne einen Führer". An den Wänden des Raums ist eine Zeitschiene zu sehen, auf der mit Punkten markiert ist, wann bestimmte Ereignisse stattgefunden haben, und zwar von dem Tag, an dem er geboren wurde, bis heute. In der Projektion seines eigenen jungen Lebens auf die Geschichte des Landes im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre hebt El Bana die wichtigsten Ereignisse hervor und entschlüsselt dabei die Ursachen der gegenwärtigen Umbrüche im Land. Dabei bringt er zu Ausdruck, dass es in der Geschichte Ägyptens keine Revolution wie diese gegeben hat, die vom Volk selbst begonnen wurde.
Die Werke dieser Ausstellung vermitteln einen Eindruck davon, was es bedeuten würde, wenn die Künstler als Bürger die Macht hätten, die letzten dreißig Jahre auszulöschen und ihre eigene Geschichte neu zu erschaffen. Als ein kollektives Bemühen dokumentiert Shift Delete 30 die Ansichten der Beteiligten über die politische Herrschaft während der vergangenen drei Jahrzehnte und zeichnet deren persönliche Geschichten und Erfahrungen auf. Dabei geht es weder um die Erfolgsbilanz der involvierten Künstler, noch in erster Linie um die Qualität der künstlerischen Produktion, sondern darum, was eine Gruppe junger Künstler dazu bringt, sich aktiv für Frieden, Menschenrechte und nationale Würde zu engagieren.
Anmerkung:
Aida Eltorie
* 1983 Kairo, Ägypten; lebt dort. Kuratorin, Geschäftsführerin der Finding Projects Association.
Shift Delete 30
10. - 30. Januar 2012
Beit El Uma (Haus der Nation) - Saad Zaghloul Cultural Centre
Kuratiert von Ibrahim Saad und der Young Artist's Coalition
Unterstützt von:
Kulturministerium - Kunstabteilung
Out of the Circle Initiative
Saad Zaghloul Cultural Centre
Finding Projects Association