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Humorvoll, Tabus brechend und engagiert übersetzt sie Erfahrungen von Frauen. In Rampa Istanbul.
Von Övül Ö. Durmuşoğlu | Mai 2011Nach langer Zeit hat sich in der türkischen zeitgenössischen Kunstszene eine neue starke Generation von Künstlerinnen entwickelt. Das belegen die in den letzten Jahren in jungen Galerien eröffneten Ausstellungen, die mehr und mehr Künstlerinnen zeigen. Die Frage der Sichtbarkeit ist nicht nur in der Türkei relevant, sondern in vielen Zentren der internationalen Kunstszene. Und das wurde auch in der von WHW kuratierten 11. Istanbul Biennale [1] wieder klar, an der sicher zum ersten Mal so viele einheimische Frauen teilnahmen, darunter die in Istanbul und Wien lebende Nilbar Güreş. Ihrem Werk konnte man in Istanbul erstmals 2008 in einer Notausgang genannten Gruppenausstellung in Outlet Istanbul begegnen. Danach belegte die Präsentation ihrer Serie inszenierter Fotografien und Mixed-Media-Collagen Unknown Sports (2009, Unbekannter Sport) während der Biennale, dass die lokalen Auftritte davor nur einen kleinen Teil ihrer großen Verheißung ausmachten: Die kluge, humorvolle und Tabus brechende Weise, in der sie das, was sie an ihrem Körper als Frau und in ihrem Leben unter Frauen erfahren und mitbekommen hatte, in ein Œuvre übersetzte, dessen starke Basis der Wille zu kämpfen und zu überleben ist. Ihr ganz eigener, seltsamer Grundton, in dem sie sich alternative Szenarien für den Alltag vorstellt und aufzeichnet, die Identifikationsmöglichkeiten mit offenem Ende bieten. Ihr Potenzial, unter den gesellschaftlichen Normen existierende Verletzbarkeiten herauszustellen und in Konstellationen von Stärke umzuwandeln.
Im April 2011 wurde in Rampa Istanbul die erste Einzelausstellung von Nilbar Güreş in der Türkei eröffnet. Die gut gestaltete und informative Schau umfasst nicht nur ihre jüngste, im Auftrag der Berlin Biennale geschaffene und dort erstmals gezeigte Produktion ÇırÇır (2010), die zum ersten Mal vorgestellte Serie TrabZONE (2010) und die gerade erst beendete Collage Yüz (2011), sondern auch zwei frühere und grundlegende Werke aus dem Jahr 2006: Das Performancevideo Undressing (Entkleiden) und die Collage Self-Defloration (Selbst-Entjungferung). Die Einladungskarte - eine von der Künstlerin ausgewählte Hochzeitseinladungskarte mit zwei androgynen Figuren als Braut und Bräutigam in einem pink glitzernden Herzen - kann offensichtlich als Teil der Ausstellung gelten. Es ist eine beispielhafte Geste der Galerie, für Nilbar Güreş an diesem Punkt ihrer Karriere eine Einzelausstellung auszurichten. Alles in allem ist dieses Solo-Statement eine großartige Gelegenheit, zu sehen, wo die ausgeprägt sensitive Praxis der Künstlerin in Bezug auf Zwang und Gewalt, die durch patriarchalische, autoritäre und heteronormative Gesellschaftscodes eingesetzt sind, um all das, was anders ist, unterzuordnen, herkommt und in welche Richtung sie geht. Die Hauptthemen von Güreş sind immer miteinander verknüpft und nehmen dabei unterschiedliche Formen der Performance, Fotografie, Zeichnung, Collage und Video an. Jede Figur, die als Teil ihrer Erzählungen mit offenem Ende erscheint, agiert als sie selbst. Jede Serie liegt ein starker Wunsch zugrunde, den Raum und die Orte, an denen sie aufgenommen worden ist, zu entterritorialisieren und neu zu kodieren; der Glaube der Künstlerin an unerwartete Performances des Körpers kann ihre Umgebung verändern.
Wenn man zur Galerie geht, begegnet man als erstem Werk Undressing (Ausziehen), das im Schaufenster zur Straße der oberen Galerie von Rampa gezeigt wird. In dieser Videoperformance wickelt die Künstlerin etliche Stoffschichten ab, die sie um ihren Kopf herum trägt, und spricht dabei die Namen von Frauen, mit denen sie zusammenlebte, womit sie die biographische Erfahrung des täglichen Lebens in dieses lokal und international politisch aufgeladene Thema einbringt. Die Arbeit entstand als eine Reaktion auf die nach dem 11. September verstärkt aufgetretene Islamfeindlichkeit, die sich in einer Zeit, in der einwandererfeindliche politische Gruppen in Europa die "verhüllte und demzufolge machtlose" muslimische Frauenfigur als Rechtfertigung ihrer rassistische Politik benutzten, insbesondere gegen Frauen richtete. Sie macht das Potenzial der in Wien und Istanbul lebenden Künstlerin deutlich, sich selbst als jemand zu positionieren, der von hier nach dort und von dort nach hier blickt, ein Potenzial, das sie befähigt, in ihrer Konzeptualisierung über enge geographische Grenzen hinauszugehen. Eine der interessanten Reaktionen an den Eröffnungstagen der Ausstellung kam von einem männlichen Passanten mittleren Alters, der die Umstehenden ängstlich fragte, wie weit sich die Frau in dem Video denn wohl enthüllen würde.
In der oberen Galerie ist Self Defloration wahrscheinlich das grundlegende Werk, um zu verstehen, wie die Künstlerin sich selbst in dieser Welt positioniert. In der Collage, die einschränkende Geschlechterrollen offen herausfordert, erklärt die Frau ein Besitzrecht über ihren eigenen Körper, indem sie den Akt der Selbstentjungferung an sich vornimmt. Das weist auf eine Revolte hin, die ihre ureigene Kraft aus dem Körper bezieht und diese (für einige) unvorstellbare Alternative jener Geistesverfassung hinzufügt, die Frauen unabhängig von Klassen- und Bildungsunterschieden beigebracht wurde, nämlich dass "die Frau keinen Namen hat" und auf den Mann warten muss. Diese durch den Körper ermächtigte Revolte steht nicht nur hinter Unknown Sports und den Vorgängerzeichnungen, sondern auch hinter ÇırÇır und TrabZONE. Die Ermächtigung erscheint als eine starke Geste der Hervorhebung sichtbarer und unsichtbarer Restriktionen, auf die Frauen in privaten und öffentlichen Bereichen stoßen. Sich gegenseitig solidarisch zu unterstützen ist die Hauptlösung, die sich die Künstlerin wünscht und vorstellt.
ÇırÇır ist an einem Schauplatz in einem Viertel am Stadtrand von Istanbul inszeniert worden, das der Staat kürzlich als Investition erworben hat. Nur dadurch ist es den Frauen aus Güreş Familie, die sich in der Serie alle selbst spielen, möglich gewesen, ihren Anteil am Gewinn zu bekommen, um ein eigenes Leben zu beginnen, denn davor hat die patriarchalische Ordnung immer bloß die Männer geschützt. Kuriose Szenarien der Befreiung und Solidarität unter Frauen aus unterschiedlichen Lebensbereichen sind um dieses abbruchreife Haus herum realisiert worden, und das zum Teil mit einem subtilen Hinweis auf boshafte Wünsche. So etwa in einem traumähnlichen Moment in Front Balcony (Vorderbalkon), als eine ältere Frau eine jüngere Frau beobachtet, die an der Strumpfhose einer auf einem Kühlschrank sitzenden jungen Frau zieht, oder in einem Moment des Triumphes und des Glücks eines lesbischen Paares mit seinem Baby in Ask For More (Verlange mehr).
In Familienporträt - Verborgene Frau lädt uns eine ungewöhnliche Familie ein, sie näher zu betrachten, und rüttelt uns aus unserem Alltagstrott auf. Die Wurzeln gießen zeigt eine metaphorische Geste des Nährens dessen, was dort bereits war, was in den freudigen Momenten des Singens und Spielens in Gathering (Zusammenkunft) gefeiert wird. Während uns Promise (Versprechen) auffordert, uns den Traum dieser Mädchen von einem besseren Leben vorzustellen, agiert die surreale Geste in Mirror (Spiegel) als ein mysteriöser Schlüssel zu diesem kollektiven Träumen.
In der von Güreş erst vor kurzem beendeten Serie TrabZONE geht es um die Inszenierung einiger Situationen aus den Sommern ihrer Kindheit, an die sie sich erinnert. Für die Künstlerin, die immer danach schaut, was sich hinter den traditionellen Strukturen verbirgt, hat sich die für ihre konservativen Werte bekannte nordöstliche Stadt - in der Frauen sozial nur wenig sichtbar sind, wie auch in vielen anderen anatolischen Städten - als ein produktiver Schauplatz erwiesen. Die Inszenierungen eröffnen ein humorvolles Feld der Imagination und zwingen die Betrachter, über das hinauszugehen, was sie bis dahin gelehrt worden sind. Beekeeper (Imker) bietet uns in vier Fotos das filmische Gefühl eines Phantommoments: Wozu mag die Imkerin wohl verschwunden sein, während sie ihre Schutzkleidung aufgehängt hat? In Worship (Gebet) gelingt der Künstlerin ein einzigartiges Porträt zweier Frauen, die in der Männersektion einer zentralen Moschee der Stadt beten, eine hinter der anderen, mit ihrem Kopf unter dem Rock der anderen, was Verlangen in dem am wenigsten erwarteten Moment offenbart. Das um die Köpfe zweier, in entgegengesetzte Richtungen gehender Frauen gebundene Kopftuch in Junction (Abzweigung) verdeutlicht in der türkischen Gesellschaft in der Luft hängende Spannungen und die Schwierigkeit, sich davon abzunabeln, wo man seiner Erziehung gemäß vermeintlich hinzugehören hat.
Nilbar Güreş schaffte es, sich von dem zu lösen, was man sie als ihre Herkunft und Zugehörigkeit gelehrt hatte, aber sie vergisst niemals, wo sie herkommt. Ihr Zorn auf die Ungerechtigkeit des Systems nährt eine offene und aufrichtige Beziehung zum Persönlichen und Politischen. Ihre Stimme verliert niemals ihre Tonlage, wenn sie unentwegt zur Sprache bringt, wie unvertretbar es ist, die Rechte jener zu verletzen, die anders sind und von jenen allgemeinen Normen abweichen, die lediglich der Ordnung halber errichtet worden sind. Wie die Frau, die sie in ÇırÇır porträtierte, malt sie sich eine bessere Zukunft aus und hofft auf diese. Solange Künstlerinnen und Künstler wie Nilbar Güreş voller Neugier, Willenskraft und Überlebensfantasie alternative Realitäten vorschlagen, glaube ich daran, dass es eines Tages eine bessere Zukunft geben könnte.
Anmerkung:
Övül Ö. Durmuşoğlu
Unabhängige Kuratorin und Autorin. Lebt in Berlin, Deutschland, und Istanbul, Türkei.
Nilbar Güreş in RAMPA
9. April - 21. Mai 2011