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Im Schaffen des Marokkaners erlangen Geräusche künstlerische und politische Bedeutung.
Von Abdellah Karroum | Jul 2011Karim Rafi ist ein interdisziplinärer Künstler, der begann, indem er mit der Produktion von Slamkonzerten (Festival Slam Klam) [1] experimentierte und Elektronik und Grafikdesign studierte. Jetzt steigt er mit seinem radikalen Projekt The Show is Over mit aller Wucht in die Welt der visuellen Künste ein. Es ist erstmals 2011 in der Ausstellung Fleurs, animaux, urbains, machines (Blumen, Tiere, Städter, Maschinen) im L’appartement 22 in Rabat zu sehen gewesen. Die Komposition vermischt das Visuelle und den Klang und ist aus einer "Assemblage" von Materialien entstanden, die zur Erzeugung von Sound benutzt werden. Der Künstler dekonstruiert diese Materialien, verändert deren Funktion und offeriert neue Möglichkeiten des Sehens/Hörens. Karim Rafi produzierte sein Kunstwerk als ein Manifest, in dem es um die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft geht, einschließlich der Gesellschaft des Spektakels. Das zentrale Element der Arbeit ist der Sound, hervorgerufen durch das Abtasten des Tonabnehmers an einer Stelle gleich nach der letzten Rille der Platte. Indem er den Tonabnehmer so positioniert, schlägt der Künstler vor, mehr auf das zu schauen und zu hören, was es nach dem Ende des konventionellen und logischen Tons gibt. Es handelt sich um ein Projekt, das eine dritte Zeitebene entwickelt. Diese Zeit würde über die Geschichte und die physische Existenz des Tons im Raum hinaus erzählt werden.
"Tout va bien (alles ist gut)", lautete die Botschaft, die Karim Rafi aus seinem Atelier in Casablanca schickte und auf einem der Tische im Ausstellungsprojekt Working For Change, dem Vorschlag für einen marokkanischen Pavillon auf der 54. Biennale Venedig 2011, platzieren ließ. Für die Dauer der Biennale wird der Künstler weiterhin täglich eine neue Seite und eine neue Mitteilung schicken, manchmal begleitet von einem Bild oder Sound. Es ist ein Buch, dass man zur selben Zeit liest, in der es geschrieben wird, in Ellipsen...
Seit den allerersten experimentellen, grafischen und Soundarbeiten des Künstlers hat Geräusch eine sowohl künstlerische wie auch politische Bedeutung. Das ist z.B. 1995 bei Cahos der Fall, als Karim Rafi mit Bildern und Sound illustrierte Geschichten schrieb. Seine Projekte entfalten sich wie die Büchse der Pandora oder eine Bibliothek mit vielfachen Ein- und Ausgängen. Jeder neue Zugang führt auf einen anderen neuen und nomadischen Pfad.
Mit seiner linguistischen, grafischen und klingenden Form legt das Kunstwerk die Unmöglichkeit einer Revolution offen und verkündet in Endlosschleife eine andere mögliche Revolution.
In einem improvisierten Dialog proklamiert Karim Rafi die Bedeutung des Sounds für seine intellektuelle, zerebrale Arbeit. Sound "erlaubt ein Entrinnen aus Bedeutung und eine Befreiung von der rational-irrationalen Trennung, von allen logischen Konstruktionen". Er ist an Bewegung gebunden, jenseits des Behältnisses und des vorgezeichneten Weges. Und was das Bild betrifft, so "illustriert es etwas, ohne es zu erklären. Es schlägt etwas vor. Statt zu konstruieren, dekonstruiert es, was soviel heißt wie eine Konstruktion nonverbaler Dekonstruktion."
Der Künstler ist ein Geschichtenerzähler. Wenn er nach der Mischung von Medien und dem Navigieren zwischen Kunst und Politik gefragt wird, entgegnet er, dass die Geschichte nicht notwendigerweise in textlicher Formulierung oder einem spezifischen Übertragungsmodus enthalten sein muss. Das Verb definiert er als "vielfarbige Buchstaben, formbares Kaugummi, Objekt und aktives skulpturales Material, ungrammatikalisch aggregierbar."
Der Künstler interessiert sich für nomadische Kultur, ihre Oralität und Formen des Geschichtenerzählens. Dieses Interesse steht auch mit jener dritten Zeit in Verbindung, in der Dinge nicht fixiert werden können. Das Interesse des Künstlers an multiplen Bedeutungen, statt an der einen singulären, erfordert Ellipsen und Offenheit gegenüber anderen Möglichkeiten. Hervorzuheben in Karim Rafis Schaffen ist auch der Amazigh-Gedanke aus einer philosophischen Perspektive, mit seiner Auffassung von Bewegung und dem ständigen Blick in die Zukunft [2]. Diese Auffassungen betreffen ebenfalls die Rede und das Wort Gnawa, das aus dem Begriff "Agnaw" der Berber stammt, was "Stille" oder "weise" bedeutet. Rede wohnt auch der Stille, der Abwesenheit inne, dem Bild der Beziehung der Tuareg zur Erde und zum Nicht-Besitzen dessen, was anderswo ist, wobei jedoch die ganze Zeit unendliche Möglichkeiten des Besiedelns dieses Anderswo projiziert werden. Oralität braucht Anwesenheit, um den möglichen Sound existieren zu lassen...
Die Räume des täglichen Lebens und der sozialen Kreativität sind eine wichtige Quelle visueller Inspiration und intellektuelles Material für Karim Rafis künstlerische Experimente. Der Künstler wählt Märkte und insbesondere Flohmärkte aus, um solche Räume in Museen oder ekstatische Filmtheater zu transformieren. Seine Arbeit auf den Märkten Casabarata in Tanger und Derb Ghalef in Casablanca sind vitale Beispiele dafür. Auf beiden lebte der Künstler in den Geschäften gemeinsam mit deren Eigentümern. Und er arbeitete mit den Inhabern zusammen, um die Waren der Läden, größtenteils aus Europa herübergebrachte Secondhand-Sachen, in einer Art Recycling neu zu organisieren, das mehr durch Notwendigkeit als durch Ökologie motiviert ist. Karim Rafis Interventionen transformieren die Räume des Alltagslebens in poetische Experimente und in Orte der Entwicklung seines künstlerischen Vokabulars.
Die einzig mögliche Revolution ist die der Sonne, die jeden Morgen erscheint. Der Gedanke des Widerstands würde auch in einfachen Sachen zu finden sein: "Galileische Revolution / wenn die Sonne aufgeht, gehen die Sterne unter". Licht bestätigt die Revolution des Kreislaufs und den ständigen Wandel der menschlichen Existenz, die eine permanente Expedition hin zum weitgehend unbekannten Anderswo ist. Das Gefühl der Unendlichkeit des Raums, des Mikroeffekts einer Tonwelle auf das Universum, eines Buchstabens des Alphabets auf der Zunge, bringt den Schöpfer dazu, nach einer größeren Nähe zum Geheimnis der Natur und der Magie des Zusammentreffens und des Konflikts zu suchen.
Karim Rafi nähert sich künstlerischem Schaffen an dessen Rändern entlang an. Das Zentrum des Spektakels ist ausgehöhlt, damit man darum kreisen kann, um das Auge des Zyklopen besser sehen zu können, wie der Künstler sagt. Und es sind die Vervielfältigung des Mediums, die Vermischung von Sprachen und Grundlagen, durch die er die Verschiedenartigkeit dieser um sich selbst drehenden Welt und ihrer sich wiederholenden Geschichte suggeriert...
Anmerkungen:
Abdellah Karroum
Unabhängiger Kurator und Kunstkritiker. Gründer/Direktor von L'appartement 22 in Rabat, Marokko. Lebt dort und in Paris, Frankreich.
Working for Change
Projekt für den marokkanischen Pavillon, Biennale Venedig
2. Juni - 15. August 2011
Spazio Punch, Insel Giudecca Island, Venedig
Produktionen, Treffen und Projekte mehrerer Künstler
Kurator: Abdellah Karroum