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Unabhängige Einrichtung für Kunst und Begegnungen in Rabat, Marokko. Interview mit A. Karroum.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Nov 2005Haupt & Binder: In welchem kulturellen Kontext und in welcher Kunstszene in Rabat und darüber hinaus in Marokko agiert L'Appartement 22? Was hat Sie dazu gebracht, ein solches Projekt zu initiieren?
Abdellah Karroum: In Marokko hat es in den letzten Jahren einen deutlichen kulturellen Wandel gegeben. Die schnelle Entwicklung der neuen Informationstechnologien, insbesondere des Internets, ermöglicht einen umfassenden Zugang zur Kultur anderer Länder der Welt. Dennoch ist Marokko mehr ein Konsument als ein Produzent von Kultur, was aus strukturellen Faktoren resultiert. Es gibt auch einen großen Mangel an Ausstellungs- und Distributionsmöglichkeiten und Treffpunkten für junge Künstler. Die wenigen nicht-kommerziellen Galerien unterstehen dem Staat, und ihre Programme sind nicht durch eine ernsthafte Kunstpolitik definiert. Tatsächlich sind die für die Programme dieser Räume Verantwortlichen keine Fachleute für Kunst, sondern Angehörige des Ministeriums für Kultur.
L'Appartement 22 ist ein Ergebnis dieser Situation und letztendlich eines Zufalls. Zunächst sollte die Wohnung eigentlich nur mein privates Zuhause sein. Nach dem Ende meines Studiums in Europa wollte ich in Marokko an Universitäten und Kunstschulen arbeiten. Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, was dem Kontext des Landes gemäße kulturelle Aktivitäten sein könnten. Ich kam nach Rabat, um bei der Schaffung einer Kunstabteilung an einer marokkanischen Universität mitzuwirken, dann mit Künstlern zu arbeiten und den Rest der Zeit Bücher zu schreiben. Letztendlich beschloss ich, meine eigene Wohnung als eine Alternative zum fehlenden Interesse der institutionellen Räume an den künstlerischen Formen, die mich interessieren, zu nutzen. Somit wurde L'Appartement 22 ein Raum der Freiheit für die Künstler und für mich.
Das vorrangige Ziel ist es, Kunstwerken eine Präsenz zu geben und Künstlern zu ermöglichen, das Publikum zu treffen. Das hat mit meinem Wunsch zu tun, gemeinsam mit Künstlern über Wege der Kommunikation und des Ausstellens nachzudenken, aber auch mit meiner Absicht, künstlerische Erfahrungen mit dem Publikum in Marokko und anderswo in der Welt zu teilen. Man braucht keine komplette technische Ausstattung und Gerätschaften, um bedeutsame Werke und Ausstellungen zustande zu bringen. Man muss nur den Künstlern zuhören und dem Publikum Aufmerksamkeit widmen. L'Appartement 22 zeigt sowohl schon berühmte Künstler - Ahmed Essyad, Fouad Bellamine, Fabrice Hyber, Jean-Paul Thibeau ... - als auch junge - Younès Rahmoun, Safaa Erruas oder die Studenten der Schule für Drama und Kulturelle Unterhaltung (ISADAC). Vor allem aber ist es ein Treffpunkt für Künstler, die sich mit dem aktuellen Geschehen in der Welt beschäftigen. Im Grunde geht es auch darum, kulturellen Aktivitäten einen Sinn zu geben und eine Definition von Kunst zu verbreiten, die aus der Zeit und dem Raum entsteht, in denen man lebt. Es würde mich glücklich machen, wenn ich mehr Künstler in das internationale Netzwerk der zeitgenössischen Kunst einführen könnte - besonders aus der jungen Generation -, die sich mit Dingen beschäftigen, die in unserem Alltagsleben weit verbreitet sind.
H&B: Können Sie uns die Räumlichkeiten und Einrichtungen von L'Appartement 22 sowie den Charakter des Viertels beschreiben, in dem es sich befindet?
A.K.: L'Appartement 22 liegt im Zentrum von Rabat, der administrativen Hauptstadt von Marokko, in der alle Ministerien sind, in einem Gebäude aus den 1920er Jahren gegenüber dem marrokanischen Parlament.
Das Viertel vermittelt einen Eindruck von der von der Atmosphäre im Lande, so z.B. die Allee Mohamed V., wo junge Leute spazieren gehen und sich abends treffend. Es ist auch die Gegend, in der wütende Studenten und junge Arbeitslose nahezu täglich versuchen, das Parlamentsgebäude zu erreichen und von der Polizei zurückgedrängt werden. Manchmal ist es unerträglich, besonders wenn die Polizei die Demonstranten unter Einsatz von Gummiknüppeln verfolgt...
L'Appartement 22 spielt mit dem Paradox, sowohl ein sehr kleiner als auch ein sehr großer Raum zu sein. Um zu L'Appartement 22 zu gelangen, muss man erst den Eingang eines alten Gebäudes ohne Hausnummer finden und dann in die dritte Etage hinaufsteigen. Mit nur 30 Quadratmetern ist die Fläche klein, doch die Konsequenzen dessen, was hier geschieht, gehen weit über den physischen Raum hinaus. Auf die hier gezeigten künstlerischen Arbeiten gibt es immer Reaktionen außerhalb von L'Appartement 22, sei es durch Bildungsaktionen, Performances in der Stadt oder Publikationen, die eine sensitive und intellektuelle Weiterführung der Werke sind.
H&B: Würden Sie uns bitte einige Beispiele von Ausstellungsprojekten nennen, die Sie in L'Appartement 22 präsentiert haben, und uns deren kuratorisches Konzept kurz erläutern? Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Künstlern konkret?
A.K.: Die erste Ausstellung in L'Appartement 22 war "JF_JH individualités" (Junge Frau_Junger Mann, Individualitäten). Die Arbeiten entstanden in den Räumen des Appartements im Rahmen eines zweiwöchigen Aufenthalts der Künstler, so z.B. die Brisa-Installation von Safaa Erruas, die 2005 bei der Biennale Junger Künstler aus Europa und dem Mittelmeerraum in Neapel zu sehen war. Das Grundprinzip der Zusammenarbeit zwischen den Künstlern unter dem übergreifenden Titel "JF_JH", bei dem es um die komplizierten Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Marokko geht, setzte sich bei anderen Ausstellungen fort: JF_JH Kohabitation, JF_JH Vereinbarungen, JF_JH Mitschuld. In den nächsten Monaten möchte ich dieses kollaborative Prinzip mit dem Projekt "JF_JH Freiheiten" weiterführen, bei dem eine nicht definierte Zahl an Künstlern mitmachen soll.
Es fanden auch schon einige Ausstellungen gut bekannter Künstler statt, wie Fouad Bellamine oder Mustapha Boujeamoui. Bellamine war eingeladen zu "Une leçon de peinture", einer Malklasse: länger als einen Monat lang arbeitete er im Angesicht des Publikums. Diese Aktion hinterließ einen starken Eindruck und löste Debatten über die Malerei in Marokko aus. Boujeamoui initiierte die Ausstellung "Super Tee", die aus drei Teilen, drei Werken und drei formalen Ansätzen bestand. Das ermöglichte ihm, seine Absichten zu testen und deren Sinn und Sinnlichkeit mit dem Publikum zu teilen. Alle seine Manifestationen gingen über den Ausstellungsraum hinaus, indem sie die sozialen, kulturellen und politischen Themen einbezogen, die mit dem Kontext des künstlerischen Schaffens in Marokko und im Ausland zu tun haben.
H&B: Wie hat das Publikum auf die bisherigen Projekte reagiert?
A.K.: Es gab großes Interesse seitens der Studenten, der Künstler sowie eines neugierigen, kulturinteressierten Publikums. Obwohl L'Appartement 22 keinen direkten Zugang zur Straße hat, machte sich eine Menge Besucher die Mühe, nach dem Eingang zu suchen, um den verschiedenen Manifestationen beizuwohnen. Die Treffen mit den Künstlern sind erfolgreich, weil es das marokkanische Publikum wirklich genießt, mit ihnen zu sprechen. Das kann damit zu tun haben, dass die marokkanische Kultur sowohl eine mündliche als auch eine visuelle ist. Außerdem hat die marokkanische Presse von Anfang an häufig über den Raum und das Geschehen hier berichtet. Nach dem Ende einer Veranstaltung gibt es immer Leute, die länger bleiben, um Freunde oder andere Künstler zu treffen. Die Diskussionen werden dann entspannter, bleiben aber nach wie vor ernst. Aus solchen informellen Treffen entstanden mehrere Projekte.
H&B: Was ist die größte Herausforderung, wenn man einen solchen Raum betreibt?
A.K.: Ein Erfolg besteht darin, dass andere Leute aus Begeisterung über L'Appartement 22 beschlossen haben, in ihren Wohnungen ebenfalls Kunst zu zeigen. L'appart du 2e und Le 17e in Casablanca sind gute Beispiele dafür, und ich hoffe, dass so etwas künftig noch mehr Verbreitung findet. Die Herausforderung besteht gegenwärtig darin zu erreichen, dass L'Appartement 22 sich selbst finanzieren kann. Ich wünsche mir, mit den Künstlern den Aspekt der Kooperation stärker entwickeln zu können und mehr Interesse bei Sammlern und Institutionen zu finden, die im Bereich der zeitgenössischen Kunst tätig sind.
H&B: Wie organisieren Sie das Programm der Künstleraufenthalte?
Das Grundprinzip der Arbeit von L'Appartement 22 sind anspruchsvolle Treffen und Kooperationen. Jeder Aufenthalt besteht in einer künstlerischen Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen im Kontext des Appartments, der Stadt, des Landes, der Welt. Und auch in einem sorgfältig erarbeiteten Experiment mit Formen und Medien, das nicht auf den Raum beschränkt ist. L'Appartement 22 ist dabei eine Art "Hauptquartier" oder "Raum für das Editieren", um ein Kunstprojekt zu entwickeln, das über den physischen Raum einer Ausstellung hinausgeht. Der Künstler ist nicht verpflichtet, eine Ausstellung auszurichten, aber ein öffentliches Künstlergespräch wird immer organisiert.
Dieses Programm von L'Appartement 22 beginnt damit, dass ich die Künstler treffe oder deren Werke entdecke. Wir arbeiten zusammen daran, eine Intention durch Ausstellungen, Vorträge, Performances etc. zum Ausdruck zu bringen. Dabei gibt es für mich keinen Unterschied, ob es sich um ein Projekt in L'Appartement 22 oder aber in einem Museum, im Hörsaal einer Universität oder im öffentlichen Raum handelt. Wenn wir dem Publikum gegenüberstehen, spiele ich die Rolle des Gastgebers, Kurators, Moderators.
H&B: Wie organisieren Sie das Programm der Künstleraufenthalte unter praktischen Gesichtspunkten? Zum Beispiel, wie lange ist die Aufenthaltsdauer? Laden Sie nur Künstler ein, deren Werk Sie schon kennen, oder akzeptieren Sie auch Bewerbungen und Vorschläge? Wohnen die Künstler in L'Appartement 22 während sie in Rabat sind? Wie lösen Sie den finanziellen Aspekt?
A.K.: Die Künstleraufenthalte von L'Appartement 22 sind immer mit spezifischen Projekten verbunden. Ein Aufenthalt kann bis zu fünf Wochen dauern. Da L'Appartement 22 eine private Einrichtung ist, wird jedes Projekt vom Künstler und vom Gastgeber vorbereitet. Die Künstler werden ausgehend von der Präsentation eines Projekts ausgewählt, wozu im Internet eine Ausschreibung veröffentlicht wird. Der Aufenthalt und die Veranstaltungen werden gemeinschaftlich finanziert. In diesen Prozess sind die Künstler und der Gastgeber einbezogen, sei es durch die Unterstützung der Produktion (Mieten, Verkäufe) oder durch öffentliche oder private Zuschüsse. Aber oft muss ich die Produktionskosten vorstrecken, was eine im Vergleich mit den Galerien recht beschränkte Investition ist. Die einzige Institution, die unsere Projekte derzeit freundschaftlich unterstützt, ist die französische Botschaft in Marokko. Wenn ich in Rabat bin, lebe ich in L'Appartement 22. Demzufolge muss ich den Künstler, der zu einem Aufenthalt kommt, woanders unterbringen, was aber nur zwei- bis viermal pro Jahr vorkommt. Manchmal wohnen Künstler aus dem Ausland bei Kollegen am Ort oder bei Freunden.
H&B: L'Appartement 22 organisiert in Marokko gemeinsam mit der Asociación para la Mediación Cultural aus Vejer de la Frontera in Spanien und mit Synesthesie aus Frankreich das Projekt "Coprésences". Könnten Sie bitte kurz beschreiben, was es damit auf sich hat und welche Aktivitäten in diesem Rahmen in Marokko stattfinden?
A.K.: "Coprésences" wird von drei Kuratoren entwickelt: Anne-Marie Morice von Synesthésie, Cécile Bourne von der AMC in Spanien und mir von L’Appartement 22. Der marokkanische Teil dieses Projekts begann, als Fabrice Hyber sein "Museum of Plastic" mit dem Auftakt einer Reise entlang der "Ölroute" von Marokko über den Nahen Osten nach Indonesien initiierte. Bis zur Eröffnung des "Museum of Plastic" im Jahre 2011 untersucht Fabrice Hyber mit diesem Projekt die Beziehungen Europas zum Islam.
Mohamed El-Baz und Christophe Boulanger waren im Juli bzw. im September im Rahmen ihrer Mitwirkung am Konzept des "abwesenden Kapitals", das in den nächsten Monaten entwickelt wird, in L’Appartement 22.
Alle Projekte von "Coprésences" basieren auf der Einbettung der künstlerischen Arbeit in den spezifischen Kontext und auf der Mitwirkung des Publikums. Die Auswirkungen des können sowohl lokal sein, hinsichtlich des konkreten Aktionsplans und der unmittelbaren Erfahrungen, als auch universell auf einer künstlerischen und menschlichen Ebene.
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.
Gründer, Leiter:
Abdellah Karroum