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Nichts ist, was es zu sein scheint. Über Azade Kökers Ausstellung "Entkettet – Dissolution" im Elgiz Museum Istanbul, 9. Oktober 2015 - 7. Januar 2016.
Von Abigail R. Esman | Okt 2015Bei jeder Künstlerin und jedem Künstler entzündet sich die Leidenschaft, die den kreativen Akt hervorbringt, an einem Universum von Spannungen gegen die Realität: seien es John Constable beim Malen der Details einer Landschaft oder Frank Stella bei der Erkundung des künstlerischen Prozesses (Linie + Form + Farbe), in jedem verschmelzen der Widerhall des Realen und des Imaginierten, des Gegenwärtigen und der Idee, des Ewigen und des Ephemeren irgendwo in einem Jenseits außerhalb und innerhalb des Kunstwerks.
Für Azade Köker ist jener Raum ungewöhnlich komplex, reich an formalen und Bedeutungsebenen, real und metaphorisch, in Werken, die ihre Betrachter herausfordern, sie dazu drängen, das in Frage zu stellen, was sie sehen, was sie glauben, was sie wissen, und sogar die Kontexte ihres eigenen Lebens.
Ebenso wie sie ihre Fotografien schichtet, indem sie ihren bildhaften Raum durch Bild und durch Form konstruiert, baut sie Wogen von Metaphern und Bedeutungen auf. Oft artikuliert sie diese Ideen durch ihre Einbeziehung eines omnipräsenten Schädelmotivs, das kaum wahrnehmbar auf so vielen ihrer Fotomontagen auftaucht. Obwohl es sich nur dem aufmerksamen Blick erschließt, ist es für jedes dieser Bilder äußerst wichtig und wesenseigen. Bei Köker hat der Schädel nichts mit Tod zu tun, sondern ist vielmehr ein Symbol für das Verständnis von Zeit (und Sterblichkeit), von Zeitlosigkeit (und Leben an sich) und auch für die Ewigkeit von Kunst. (Hier ist es nicht möglich, näher auf die Beziehung zu den Totenköpfen in Vanitasgemälden holländischer Meister einzugehen, die Köker für einen wichtigen Einfluss auf ihr eigenes Schaffen erachtet.) "Zwei Dinge bleiben vom Menschen nach dem Tod übrig", sagt sie. "Das Skelett und die Idee."
Es würde demzufolge passend scheinen, dass die Körperlichkeit von Kökers Schaffen traditionelle Vorstellungen von Kunst und Material so oft herausfordert (das "Skelett" des Kunstwerks, könnte man sagen) und die Konzepte ihrer Mittel erweitert: sind es Fotografien? Collagen? Ist eine Collage aus Fotografien auf Leinwand ein zweidimensionales Werk oder - wegen der Tiefe der Textur - dreidimensional? Oft montiert die Künstlerin auch Video in die statische Oberfläche ihrer großformatigen Leinwände und führt neue Dimensionen (auch hier im wörtlichen und im übertragenen Sinne) in das Kunstobjekt und unser Verständnis davon ein.
Und so füllen Bilder ihre Bilder, vernebeln sie, verbergen sich, tauchen auf und kommen wieder zum Vorschein: sie sind der Geist alter Städte, verloren gegangener Worte; sie sind die Gesichter der Opfer politischer Morde, die von Märtyrern, deren Mörder niemals gefunden worden sind, eingebettet in das Skelett des Türkischen Justizpalasts (Justizpalast, 2014); sie füllen und formen die Landschaften, Hunderte und Aberhunderte gesichtslose Figuren, zusammengesetzt und verknüpft und geschichtet, um ein Waldgebiet zu bilden, eine Wüste, eine Stadt (Beirut, 2014), Orte, an denen wir schon waren, Orte, wo wir niemals gewesen sind; sie sind ein stilles Meer von Totenschädeln, die einen Wald anfüllen (Landschaft der Stille, 2010) - eine Kollision von Industrie und Natur, die erwartete Umweltkatastrophe und der Zyklus von Leben und Tod, eine Erinnerung daran, dass einzig das Vergängliche wirklich von ewiger Dauer ist. Wir sind hier und doch nicht hier. Die Schädel durchkreuzen unsere Sicht, verschwinden wieder: der Wald bedeckt sie, und dann ist es vorbei.
Es ist eine Illusion, gefertigt aus einer komplizierten Collage aus Fotografien auf einer massiven Leinwand: doch Köker scheint uns zu fragen, sind diese Fotografien nicht ebenfalls Illusionen? Ist unsere Wahrnehmung der Welt, die sie erfasst und dann neu erschafft, nicht genauso gut eine Realität wie jede andere?
Es sind solche Kunstgriffe - und das Spiel mit Metaphern, mit Herausforderungen -, durch die Azade Kökers Werke weit mehr als einfach nur schöne Bilder und ästhetische Objekte sind, die es zu bewundern gilt - wenngleich sie auch das sind. Eine schwere Kette, verrostet und massiv, hängt schwer herunter und windet sich auf dem Boden: es ist die Last der Mühen, die Last von Sklaverei, die Last des Wissens, jenes Wissens, das Imagination und Möglichkeiten in Fesseln hält.
Jedoch: diese Kette ist aus Binden und Papier gemacht. Sie ist leicht und locker, und der Rost ist nicht bloß der von Alter und Verschleiß, sondern ebenfalls künstlich, hier verursacht von der bewusst geführten Hand der Künstlerin; er entspringt dem Zusammenwirken kreativer Kräfte: die der Künstlerin und der Natur.
Insofern ist es jedoch nicht einmal eine Kette: es ist eine Skulptur, ein Spiel von Form und Material, etwas, das ist, das sowohl das ist und wieder auch nicht ist, was man zu sehen glaubt - eine Kette. Vielleicht ist es das, was einen selbst bindet: die eigenen Bemühungen um Verstehen, dieses sehr menschliche Bedürfnis, in den Dingen einen Sinn zu erkennen, und zwar selbst dort - wie in der Kunst - wo sich kein Sinn ergibt und keiner erforderlich ist.
Gut möglich, dass dergleichen mehr als alles andere das Wesen von Kökers Kunst definiert: nichts ist, was es zu sein scheint. Eine Fotografie eines Apfels (Der Apfel, 2011) ist tatsächlich keine Fotografie eines Apfels. Sie ist ausgeschnitten und neu arrangiert, die Künstlerin, die einen Apfel neu schafft, der kein Apfel ist, komplett gebaut aus Farbe und Papier - den Werkzeugen der Künstlerin -, und indem sie dies tut, interpretiert sie den Schöpfungsmythos komplett neu: Hier ist Eva zur Schöpferin geworden und der Apfel (als Kunstwerk) ist unsterblich, im Grunde die Verkörperung der Unsterblichkeit an sich.
Und so wird die Künstlerin zur ultimativen Schöpferin, zur Erfinderin einer neuen Realität, die sowohl im (Kunst-)Objekt greifbar als auch für immer jenseits des Berührbaren ist, eingefangen in ihrer Vision, in dem nur in ihrer Imagination festgehaltenen Ideal: "sie erscheinen 'real', aber sie sind nicht real: sie verkörpern nur meinen Eindruck von Dingen".
Indem sie diese Eindrücke mit anderen teilt, lädt uns Azade Köker großzügig in ihre Realität ein; aber mehr noch, sie lädt uns ein, die Eindrücke zu hinterfragen, die wir auch selbst in uns tragen, das anzuzweifeln und neu zu bedenken, was wir sehen - oder glauben zu sehen - das uns umgibt - und so vielleicht unser Eigenes neu zu erschaffen.
Abigail R. Esman
Kunstjournalistin und Beraterin. Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher über Kunst und zeitgenössische Kultur. Schreibt regelmäßig für Kunstmagazine. Lebt in New York, den Niederlanden und Istanbul.
Azade Köker
Entkettet – Dissolution
9. Oktober 2015 - 7. Januar 2016
Elgiz Museum
Beybi Giz Plaza Maslak
34398 Istanbul
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