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The Mapping Journey Project von Bouchra Khalilis ist bis 28. August 2016 im MoMA New York zu sehen. Dazu Auszüge aus einem Interview, erschienen in der ersten Monografie über die marokkanische Künstlerin.
Von Omar Berrada | Apr 2016Bouchra Khalili arbeitet an der Grenzlinie zwischen visuellen Künsten und Film. In ihren filmischen Arbeiten - Installationen oder Filme an sich -, die mit dokumentarischen Essays in einem fragmentarischen Sinne des Begriffs zu tun haben, geht es um Auffassungen von Bewegung, Beziehung und Distanz zwischen physischen und imaginären Geographien. In Form von Kurzgeschichten etablieren diese kurzen Filme unter Einbeziehung von Schrift und Sprache Systeme von Notationen als visuelle Sätze, mit denen in urbanen Räumen oder in Landschaften gefundene Zeichen dechiffriert werden sollen. Die Bezeichnungen sind durch Beschreibungen artikuliert, die als Mittel zur Dekodierung und Interpretation durch Bilder dienen.
(P. Cassagnau, Story Mapping, p. 38)
Auszüge aus einem Gespräch zwischen Bouchra Khalili und Omar Berrada, veröffentlicht in "Story Mapping", der ersten Monographie über die Künstlerin.
Omar Berrada: Als wir dich fragten, was dein Beruf ist, hast du geantwortet, dieser sei "Bilder machen", statt Filme, Videos, Kino...
Bouchra Khalili: Das ist einfach nur eine Art, stolz und bescheiden zugleich zu antworten. Ein Bild zu machen, bedeutet es zu filmen, es aber auch durch ein Territorium, Ton, Editieren zu artikulieren. Es existiert nicht für sich selbst, losgelöst von dem Ort, an dem es aufgenommen wurde, von der Geschichte, die es in sich birgt, von seiner Beziehung zu dem Sound, einschließlich der niemals nur zufälligen "atmosphärischen" Geräusche. Es gibt viele unterschiedliche Ebenen, mit Übergängen von etwas Infra-Dünnem bis zu einer gewissen Offensichtlichkeit der Zeichen. Und es kann passieren, dass die Modalitäten der Präsentation des Werkes ebenfalls zur Konzeption der Bilder gehören. Das ist zum Beispiel bei Installationen der Fall.
O. B.: Wo findest du deine Bilder? Sie sind mit einem Territorium verbunden, aber du musst mit den Bilder noch einiges tun, um sie zu entwickeln.
B. K.: Ich finde sie in der Realität. Wenn deine Frage darauf abzielt, ob sie vorbereitet sind, so dass ihre Herstellung die Widerspiegelung eines vorgefassten Konzepts sein würde, lautet die Antwort nein. Ich weiß nie, welche Art von Bild ich machen werde, bevor ich das in Angriff nehme. Natürlich gibt es einen Auswahlprozess, der von der Geographie her kommt: Ich sage "Das ist es". Wenn es da ein Bemühen gibt, das Bild zu formen, dann besteht es genau im Prozess des Auswählens und Herausziehens von dort, wo es sich befindet. Offenkundig hat meine Wahrnehmung des Ortes einen Einfluss auf das, was gezeigt wird, besonders weil ich im Allgemeinen versuche, den Ort nicht unmittelbar erkennbar werden zu lassen...
O. B.: Was du zeigst ist nicht zwangläufig das, was du gesehen hast.
B. K.: Das ist sehr schwierig zu erklären. Es ist das, was André Bazin "die immanente Ambiguität der Realität" genannt hat. Zum Beispiel der Grund, weshalb ich nach Istanbul reise, sind die Schichten. Die konventionelle Kartographie zeigt, dass Istanbul in zwei Ufer geteilt ist, auf der einen Seite ist Europa, auf der anderen Asien, und in der kollektiven Vorstellung ist Istanbul der Orient, aber Istanbul ist auch Teil des Balkan. Es ist auch ein Ort des Durchgangs, insbesondere des heimlichen. Wie sollte der Durchgang gezeigt werden? Wie sollten wir zeigen, was niemals gezeigt wird? Also die Idee des Durchgangs in all ihrer Vieldeutigkeit, weil der Bosporus eine extrem instabile Gegend ist: eine physische Grenze, eine imaginäre Grenze und eben auch eine Grenze ohne Grenzposten.
Es ist immer wieder überraschend zu erleben, wie enttäuschend die Fahrt zwischen dem europäischen und dem asiatischen Ufer ist. Sie dauert 10 Minuten, nichts ändert sich, und zugleich finde ich das faszinierend. Dasselbe passiert in Ceuta: wenn du über die Grenze gehst, bist du in Spanien und es ist eine Stunde später. Dann gehst du 10 Meter zurück und du bist in Marokko und es ist eine Stunde früher. Und dabei hat sich nichts geändert. Solche Art von Ambiguität interessiert mich.
Das hat zwar nichts damit zu tun, beschreibt aber einfach nur diesen Nebel kleiner Dinge, die dazu führen, dass ich mich für einen Ort zu interessieren beginne. Aber was aus alledem zu einem Bild wird, ist gleichzeitig die Distanz und die Kollision zwischen all den vorgefassten Darstellungen und dem, was ich zu zeigen versuche. Das ist nicht sehr klar...
O. B.: Doch, es ist ein guter Beginn, weil es zum Ausdruck bringt, dass das Bild eine Distanz ist.
B. K.: Ganz richtig, ich denke, das Bild ist eine Distanz. Es ist auch die Bedeutung, die ich dem Begriff des Editierens geben würde. Wenn wir über Editieren reden, sprechen wir nicht immer über eine Distanz, sondern über eine "Klebestelle", welche die Nahtstelle zwischen zwei Filmstücken ist, die aneinander geklebt worden sind. Doch die Verbindungsstelle ist genau der Platz für das Bild. Es ist die Theorie des Intervalls von Dziga Vertov, die ich immer faszinierend fand, weil sie auf der Idee basiert, dass der Film auf der Beziehung zwischen separaten Bildern aufgebaut sein muss, und insbesondere zwischen voneinander entfernten. Das ist wohl das, was Breton meinte, als er Pierre Reverdy im Manifest des Surrealismus zitierte: "Ein Bild ist nicht stark, weil es brutal oder phantastisch ist, sondern weil die Assoziation von Ideen entfernt und genau ist." Was das Bild dann zustande bringt, ist die Kollision zwischen dem was nah ist und dem was entfernt liegt. Das müsste total operativ sein, und tatsächlich ist es die mehrdeutigste und komplexeste Angelegenheit, weil damit genau das Gegenteil von dem behauptet wird, was ein Film ist: nämlich keine Abfolge, sondern eine Diskontinuität und eine Lücke. Letztendlich befindet sich das Bild nicht unter den gezeigten Bildern, sondern in dieser Lücke. Laut Definition ist es nicht sichtbar und trotzdem das, was am meisten vorkommt.
O. B.: Es gibt auch eine Lücke, weil das Werk nicht nur aus Bildern geschaffen ist. Du hast gesagt, dass zum Bild auch der Ton und vieles mehr gehören. Und zwischen den Schichten muss editiert werden.
B. K.: Das ist eine ziemlich grundlegende Frage. In 80% der Filme verbindet das Schneiden alles. Wenn du Angst hast, eine Soße zu verderben, streust du einen Andicker hinein, um sie zu binden. Für mich hat das Editieren die entgegengesetzte Funktion. Tatsächlich findet es nicht zum Verbinden statt, sondern zum Auflockern, um die Fragilität der Dinge zu offenbaren, ihre Vieldeutigkeit. Ich finde das Wort "editieren" sehr problematisch, weil es unter technischen Gesichtspunkten in meinen Werken kaum irgendwelches Editieren gibt. Verschiedene Videos sind aus Sequenzaufnahmen aufgebaut oder Sequenzen an sich. Das ist der Grund weshalb ich, wenn ich über Editieren rede, insbesondere darüber spreche, wie sich ein sehr spezifischer Ort mit einer ganz einzigartigen menschlichen Erfahrung und den mit diesen Erfahrungen verbundenen Tönen artikuliert, egal ob das ausgedrückte Wörter oder die verschiedenen direkten Töne sind. Und dann ist da auch der Ausstellungsraum, den ich als eine Art Schneideraum sehe, in dem die Videos untereinander interagieren, wo deren Präsentation die Verbindungen offenlegen, die ich zu schaffen versuche. Alle diese Elemente müssen "editiert" werden, um das Bild entstehen zu lassen.
O. B.: Das erinnert mich an das Werk des Komponisten Georges Aperghis. Er schafft musikalische Sequenzen, indem er Silben in Französisch verbindet. Es fängt wie ein Wort an, ein Satz, und wir erwarten, das zu verstehen, aber dann hören wir eine Abfolge unerwarteter Silben, die keinen Sinn ergeben. Es ist der Rhythmus, um den es dabei geht. Aperghis meinte, er wolle die "Psychologie abkoppeln".
B. K.: Wenn er über das Abkoppeln spricht, impliziert das, dass da normalerweise etwas verbunden war. Abtrennen bedeutet auch Verbinden, es sei denn, es handelt sich nicht mehr länger um die fabrikmäßigen Verbindungen (männlicher Stecker in weibliche Steckdose, etc.). Wir benutzen einen Stecker, der nicht adaptiert ist und trotzdem funktioniert. Es ist wie beim Wechselstrom: er muss erst in die eine und dann in die andere Richtung fließen. Auf dieselbe Weise müssen wir das Gefühl haben, das Bild und der Sound gehen in entgegengesetzte Richtungen, um dann schließlich begreifen zu können, dass dies ja gar nicht der Fall ist. Ich würde sagen, der Sound in meinem Werk ist das Gegenteil eines Off-Kommentars. Der Sound erklärt das Bild nicht, er nimmt an der Ausformung des Bildes teil. Das Editieren bedeutet hier: auf der einen Seite gibt es ein Bild, auf der anderen den Sound, und wenn du sie näher zusammenbringst entsteht daraus ein drittes Bild, das dem im Entstehen begriffenen Video innewohnt. Es ist kein klares Bild, denn es erscheint langsam, baut sich mit dem Video auf und hoffentlich auch darüber hinaus, mit der Fähigkeit, in der Imagination nachzuhallen. Von da an wird der Blickwinkel des Betrachters entscheidend, weil er all das zusammenbringen kann, was er sieht, was er hört, was er sich vorstellt und was er sich ausmalt.
Bouchra Khalili (*1975 Casablanca, Marokko) studierte Film an der Sorbonne Nouvelle und bildende Kunst an der Ecole Nationale Supérieure d'Arts de Paris-Cergy.
Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Ausstellungen in verschiedenen Ländern präsentiert, darunter: Liverpool Biennale (2010); Studio Museum, New York (2010); Museum of Contemporary Art, Detroit (2010); INIVA, London (2010); Gallery 44, Toronto (2010); 2. Thessaloniki Biennale (2009); Museum Reina Sofia National, Madrid (2009); Queens Museum of Art, New York (2009). Sie erhielt mehrere renommierte Auszeichnungen, wie kürzlich den Cultures France Hors Les Murs Award.
Omar Berrada
Autor, Übersetzer und Kritiker. Geboren in Marokko. Lebt in Paris, Frankreich.
Vom 9. April bis 28. August 2016 ist Bouchra Khalilis The Mapping Journey Project im MoMA in New York zu sehen. Die von Stuart Comer kuratierte Ausstellung präsentiert das gesamte Projekt im Donald B. and Catherine C. Marron Atrium des MoMA auf acht einzelnen Screens. The Mapping Journey Project ist eine Videoserie (2008 - 11) über die Berichte von acht Menschen, die durch politische und ökonomische Umstände gezwungen worden sind, sich illegal auf Reisen durch den Mittelmeerraum in Richtung Europa zu begeben.
Bouchra Khalili - Story Mapping
Texte von Philippe Azoury, Pascale Cassagnau; Interview mit Bouchra Khalili von Omar Berrada
2010, Englisch / Französisch, 96 Seiten, Farbabbildungen
ISBN: 978-2-91839-901-8, EAN: 9782918399018
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