Universes in Universe

Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.

Europa u boji. 1939 -1944

Info / Kontext zur Gedichtsammlung

"Europa im Kampf" ist eine in den Jahren 1943/44 heimlich im Konzentrationslager Ravensbrück entstandene Sammlung von 47 Gedichten und Liedern aus elf Nationen.

Die Tschechinnen Vlasta Kladivová und Vera Hozáková konnten durch ihre Tätigkeit in der Bauleitung von Ravensbrück das nötige Material beschaffen, um die Gedichte mit Tusche auf Papierbögen niederzuschreiben, und als Buch zu binden. Sie setzten mit dieser heimlichen Tätigkeit ihr Leben aufs Spiel, insbesondere, wenn sie das Buch durch die Kontrollen am Lagereingang schleusten.

Der Anlass für die Sammlung, so Vlasta Kladivová, sei das Gedicht Ghetto gewesen. Das Gedicht stammt von einer Polin, die die Nationalsozialisten aus einem Ghetto nach Auschwitz-Birkenau deportierten und dort in der Gaskammer ermordeten. Der Zettel, auf dem dieses Gedicht notiert war, sei von einem jungen jüdischen Mädchen, das in der Effektenkammer arbeitete [wo die Kleidung und die Besitztümer der ankommenden Häftlinge lagen], in einem Mantel gefunden worden. Dieses letzte Vermächtnis einer Person, die die Nationalsozialisten in den Gaskammern ermordeten habe Vlasta Kladivová tief erschüttert.

Das Gedicht "Ghetto"

Frühling im Ghetto
1943, Anonym, Polnisch

Man sagt, der Frühling sei gekommen.
Der Regen rauscht in einem Gewitter,
dann hüpfen Vögel herum.
Durch dicke Mauern aber
und Galgenstricke
sehe ich dich nicht, du Frühling.
Obwohl du doch nah bist.

Du nimmst uns den Ekel immerhin,
machst keine Unterschiede
wohin du blickst.
Hinter den Ghettogittern
machst du die Latten gelb.
In den Mauern werden
die stinkenden Höfe noch dunkler.
Und doch spielen hier Kinder,
Kinder im Ghetto.
Ihnen schickst du deine Sonne.

Krank sehen sie aus, blutleer, elend.
In ihren Gesichtern leuchten
traurig schwarze Augen.
Das Grab des Vaters ist noch nicht mit Gras bewachsen.
Die Schwester schreibt schreckliche Briefe aus dem Lager.
Der Bruder, der den Zettel bekam, hat sich noch nicht gemeldet.
Die Mutter hat Fieber und Schüttelfrost von der Arbeit.
Zu Hause fehlen Brot und Kartoffeln.
Aber man muß doch essen,
jeden Tag etwas essen.

An der Front fallen junge Soldaten,
Wie es heißt für Führer und Vaterland.
Und hier Trauer, Galgen, Leichen,

O Gott, wenn es dich gibt – SOS.

Nachdichtung: Wolfgang Fietkau

Obwohl die Sammeltätigkeit vorwiegend auf Vlasta Kladivová zurückgeht, wäre sie ohne die Hilfe von Vera Hozáková nicht möglich gewesen. Diese hatte nämlich dafür gesorgt, dass Vlasta Kladivová zur Arbeit in der Bauleitung abkommandiert wurde. Vera Hozáková, die bereits mit dem Transport am 14. Januar 1942 in Ravensbrück eintraf, kam im Herbst 1943 zur Bauleitung, da sie als Architekturstudentin die dafür notwendigen Fähigkeiten mitbrachte. Als ihr damaliger Chef ihr erlaubte, eine Frau als weitere Hilfskraft zu suchen, wählte sie Vlasta Kladivová, die im August 1943 aus Auschwitz nach Ravensbrück kam, weil sie, so Vera Hozáková, aufgrund ihres geschwächten Zustandes und wegen ihrer "dicken Brille" gefährdet gewesen sei.

Vera Hozáková schrieb die aus elf Nationen stammenden Gedichte in Tusche nieder und versah das Werk mit Illustrationen. Auch einige ihrer eigenen Gedichte fanden Eingang in die Sammlung. Das Buch enthält ein Inhaltsverzeichnis, das auf die nationale Herkunft der Dichterinnen verweist, jedoch nur in zwei Fällen die Verfasserin nennt. Der Verzicht auf den Verfasserinnenhinweis, sollte die Frauen im Falle einer Entdeckung des Buches schützen. Doch es gab noch einen weiteren Grund: Es seien die Texte, die überliefernswert waren, so Vlasta Kladivová. Die Autorschaft hätte geringe Bedeutung, und zwar weil die Texte, stellvertretend von einer verfasst, die Texte aller Frauen gewesen seien.

Vlasta Kladivová betrachtet die Gedichte als "Dokumente für die Atmosphäre im Lager", als "Zeugnis über die Menschen, die unter sehr schweren Bedingungen zu überleben versuchten". Sie zeigten noch heute, "wie schwer das Leben dort war und wie sich der Mensch trotzdem darüber hinwegzusetzen versuchte". Die Gedichte "repräsentieren Menschen, die für eine bessere Welt zu kämpfen bereit waren“ und bezeugen den "Kampf für die Ideale der Humanität".

Das Buch hielten sie versteckt, in den letzten zwei, drei Wochen vor der Befreiung band sich Vera Hozaková das Büchlein um den Körper. Sie hatte Glück, es wurde nicht entdeckt. (C. Jaiser)


Vlasta Kladivová übergab das Buch in den 1990er Jahren der Literaturwissenschaftlerin Constanze Jaiser. Sie konnte es zusammen mit Jacob Pampuch und mit Hilfe von Spenden sowie ehrenamtlich Tätigen, die die Texte übersetzten und nachdichteten, als Faksimile zum 60. Jahrestag der Befreiung von Ravensbrück herausgeben:

Constanze Jaiser, Jacob David Pampuch (Hrsg.): Europa im Kampf 1939–1944. Internationale Poesie aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.
Faksimile, Begleitband und Hör-CD mit Stimmen von Überlebenden
Berlin, Metropol Verlag, 2005/2009

Vlasta Kladivová - Biografie

Vlasta Kladivová

Vlasta Kladivová, geborene Ruprychová, kam am 20. August 1943 als junges Mädchen, völlig entkräftet, von Auschwitz nach Ravensbrück (n° 22052). Durch Vera Hozákovás Hilfe wurde sie Assistentin in der Bauleitung. Dort musste sie Baupläne abzeichnen. Vlasta Kladivová lagen die vielen unterschiedlichen Gedichte, die im Lager entstanden waren, sehr am Herzen, da diese die Atmosphäre im Lager dokumentierten und, so ihre Überzeugung, Menschen repräsentierten, die für eine bessere Welt zu kämpfen bereit waren. In den Jahren 1943/44 sammelte sie Gedichte und Widerstandslieder und schuf heimlich, gemeinsam mit Vera Hozáková die Anthologie internationaler Lager-Lyrik "Europa u boji". Sie überlebte die Haft und widmete sich später als Historikerin der Erforschung des Nationalsozialismus und Holocaust. So ist sie vertreten in einem vom Muzeum Oświęcim herausgegebenen Band über "Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau". 1994 erschien ein Buch über ihre Erfahrungen in Auschwitz-Birkenau. Vlasta Kladivová starb im Sommer 2003 in Prag.

Vera Hozáková - Biografie

Vera Hozáková

Vera Hozáková, geboren unter dem Namen Vera Fialová am 28. Oktober 1917, trat zwanzigjährig in die Kommunistische Partei ein. Sie wurde verhaftet, weil sie mit Jozef Smerkowski, Kontakt hatte, für den sie Verbindungsglied zur Partei war. Am 14. Januar 1942 wurde sie mit sechzig Frauen aus dem Prager Pankrác-Gefängnis ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert (n° 9011). Dort arbeitete sie einige Zeit in der Kunstgewerbeproduktion. Ab Herbst 1943 war sie in der Bauleitung tätig. Sie schrieb zahlreiche Gedichte, von denen nicht alle erhalten blieben. Auch an dem von Anicka Kvapilová geleiteten illegalen Chor nahm sie teil. Für sie waren es die Gedichte, die Freundschaften und die feste Hoffnung auf eine Zukunft, die ihr halfen, das Konzentrationslager zu überleben. Nach der Befreiung blieb Vera Hozáková noch bis Ende Mai 1945 in Ravensbrück, um ihre Freundinnen im Krankenrevier zu betreuen. Im Jahr ihrer Heimkehr heiratete sie ihren Verlobten, der auf sie gewartet hatte. Sie brachte vier Kinder zur Welt und war als Architektin tätig. Heute lebt sie in Hradec Kralóve, Tschechien. Vor einigen Jahren schrieb Vera Hozáková ihre Erinnerungen nieder, um Zeugnis abzulegen und die Nachkommenden zu ermutigen, für alle Zeit "Lüge, Demagogie, Herdentrieb und kollektive Verantwortlichkeit abzulehnen".

Gedichte aus Europa im Kampf