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Zur Bedeutung der Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück

Von Constanze Jaiser

Warum wurde im Konzentrationslager gedichtet?

Diese Frage klingt einfach, und zugleich ist der Umstand, dass an einem solchen Ort überhaupt Gedichte entstehen konnten, irritierend. Um auf sie Antworten zu finden, müssen die Umstände ihrer Entstehung wie auch die Betroffenen selbst in ihrer Autorität als Augenzeuginnen in den Blick genommen werden. Die virtuelle Präsentation der Gedichte und anderer kreativer Zeugnisse durch die Künstlerin Pat Binder folgt dieser Prämisse.

Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück wurden in den Jahren seines Bestehens, von 1939 bis 1945, mindestens 1200 Gedichte verfasst. Von über 130 in Ravensbrück inhaftierten Frauen aus mehr als 15 Nationen ist inzwischen bekannt, dass sie sich als Dichterin betätigten. Viele von Ihnen schrieben Gelegenheitsgedichte. Manche jedoch schufen ein umfangreiches Werk. Dabei spielte die Autorschaft im KZ eine geringe Rolle. Die Verfasserinnen stellten ihre Worte den anderen zur Verfügung; sie drückten das aus, "was alle empfanden". Die Texte wurden von Mund zu Mund weitergereicht, Kameradinnen beschafften Papierschnipsel und Bleistiftstummel, sorgten für Übersetzungen in andere Sprachen, versteckten die Schnipsel in ihren Holzpantinen oder am eigenen Körper und schmuggelten die Texte aus dem Lager.

Wann wurde gedichtet?

Zum Schreiben veranlasste oft eine einzelne Person, der eine Freude gemacht, die getröstet, an die gedacht werden sollte. Das Leben im KZ, der Tod nahestehender Frauen, die Sorge um Kinder, Männer, Freunde und Verwandte, die Sehnsucht nach der Heimat waren die Anlässe, Schmerz, Kummer und Sehnsucht in gereimte Worte zu fassen. Hinzu kam aber auch die überlebensnotwendige Ablenkung vom KZ-Alltag, der aus stundenlangem Appellstehen, Zwangsarbeit, aus der Angst vor Krankheiten und Tod und aus der Hilflosigkeit gegenüber dem Leid der anderen bestand. So wurde auch häufig während der Arbeit und des Appells sowie vor dem Einschlafen gedichtet. Die Worte wurden solange im Gedächtnis wiederholt, bis sie sich von selbst einprägten. Sie wurden an die Nächsten weitergegeben oder sogar in heimlich organisierten kulturellen Abenden in der Baracke rezitiert und auch gesungen.

Reimen gegen das Vergessen

Immer ging es um eine Abgrenzung von den Lagerrealitiäten, die die Individuen zu verschlingen drohten, und damit um eine Bestätigung der eigenen Existenz als Person. Gesucht wurde ein Ausdruck für die eigenen Erfahrungen sowie ein gegenseitiger Austausch. Die Dichtende wollte im Herzen einer anderen Person eine Spur von sich hinterlassen, die möglichst über den eigenen, wahrscheinlichen Tod hinaus Bestand haben sollte. Die kommunikative Absicht im Reimeschmieden setzte sich fort in dem Wunsch, den Toten eine Stimme zu geben und ein Zeugnis für die Nachwelt zu schaffen. Das Gedicht, so könnte man sagen, wird zum Gefäß lebendiger Existenz. In ihm wird das Gedenken an die Noch-Lebenden wie auch die Schon-Toten vergegenwärtigt und für eine Zukunft bewahrt.

Benennen durch Symbole - Bannen in die geschlossene Form

Das Gedicht eignet sich aus formalen und inhaltlichen Gründen besonders zur Beschreibung der erlittenen Erfahrungen. Zum einen können durch seine kurze, rhythmische, meist gereimte Form Inhalte besser behalten werden. Der Status der Mündlichkeit, der den äußerst schwierigen Schreib- und Existenzbedingungen im KZ geschuldet ist, brachte oft einfache Formen und Bilder hervor. Zum anderen aber ermöglicht das Gedicht ein "Zusammenschieben" von Lager-Welt und Nicht-Lagerwelt, ein Beschreiben von konträren Erfahrungen, die vom Ich in keine kausale Struktur mehr gebracht werden konnten. Das Unvereinbare der eigenen Existenz konnte vorübergehend, zum Beispiel über Symbolisierungen der in beiden Welten sichtbaren Natur, überbrückt und gleichzeitig zum Ausdruck gebracht werden. Durch die dem Gedicht eigene dialogische Form wurde es darüber hinaus möglich, für Momente erneut in Kontakt zu sich selbst zu treten und in der Folge davon die Nächste(n) wahrzunehmen. Dies erfordert einen ungeheuren Mut: Innezuhalten und Hinzusehen, der eigenen Zerstörtheit gewahr zu werden und die Unerträglichkeit der Verbrechen zu bezeugen. Doch das Gedicht ermöglicht gleichzeitig auch eine (überlebensnotwendige) Gegenbewegung, und zwar aufgrund seiner rhythmischen Struktur, die dem menschlichen Atem ähnelt, sowie aufgrund seiner gebetähnlichen, magischen Anrufungstendenz. Das Benannte wird gleichsam ins Gedicht gebannt und damit - im Akt des Dichtens und des sprechenden Nachvollzugs - abgewehrt. Immer spricht aus diesem Akt der Glaube an die prinzipielle Anrufbarkeit des Menschen.

Poetische Zeugnisse als lebendige Vergegenwärtigung

Das im Gedicht repräsentierte Individuum kann sich nur im Prozess des Zeugnisablegens, zu dem notwendig ein hörendes Gegenüber gehört, Eingang ins Gedächtnis verschaffen. Aus der Sphäre des Todes heraus, die das Leben im KZ bestimmte, wurden diese Reime und gebetähnlichen Anrufungen auf Zettel geschrieben. Sie sind - wie es der Dichter Paul Celan in seiner berühmten Meridianrede formulierte - als "Flaschenpost" aufzunehmen. Als Rätselbotschaften einer (unbegreiflichen) Sehnsucht bewegen sie sich darauf zu, eines Tages vernommen zu werden. Ihre Botschaft muss aktiv zusammengesetzt, ja trotz aller unüberwindlichen Fremdheit sinnlich vergegenwärtigt werden. In diesem unlösbaren Paradox bewegen sich ganz bewusst auch die von Pat Binder geschaffenen Zugänge - und diesem müsste sich im Grunde jede Rezeption stellen. Am Schluss dieser Vergegenwärtigung steht nie eine Befreiung - damals nicht und heute erst recht nicht -, sondern ein Abgrund, der nicht mehr schöpferisch und auch nicht mehr wissenschaftlich überwunden werden kann. Der Vorgang des Zeugnisablegens, das sich unter Beteiligung eines Hörenden erst ereignen kann, verläuft vielmehr in einer immer wieder neuen, aufmerksamen Hinwendung. Ihr einziger Sinn besteht darin, den Ruf des Gedichtes "unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-Noch" zurückzuholen, ihm "Gegenwart und Präsenz" zu ermöglichen. (Paul Celan, Ges. Werke, Bd. 3, S. 197). Im Sichtbarmachen derjenigen, die rufen und die denjenigen, welche nicht mehr zu sprechen in der Lage sind, ihre Stimme leihen, erfüllt sich ein Gedenken, das notwendig unabgeschlossen bleiben muss.

Constanze Jaiser
im August 2000