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Die ungewöhnliche, ereignisreiche Geschichte des Archivs und der fotografischen Arbeit von Al Ani ist ein wesentliches und dennoch paradoxes Zeugnis der jüngsten Geschichte des Irak.
Von Catherine David | Feb 2016Für die Leser von Zeitungen und Magazinen, die sich trauriger Weise an die Bilder von Kontrollpunkten, Barrikaden, Soldaten und ausgebrannten Hinterlassenschaften von Autobomben gewöhnt haben, und für die Besucher und jungen Iraker, die nichts über den Vorkriegs-Irak wissen (und auch nichts über die Iran- und Golfkonflikte), lassen die Bilder von Latif Al-Ani eine andere Welt wiederauferstehen, eine, die seitdem verschwundene ist - gewaltsam von der Landkarte getilgt -, die er aber noch frisch in seiner Erinnerung behält und die er sich bisweilen auserkoren zu haben scheint, um sich dort zur Ruhe zu setzen.
Ob an einem Tisch im Haywar, der Café-Galerie von Qasim Sebti, oder im nahen Büro der Gesellschaft der Fotografen (die zu etablieren er half), immer wieder scrollt Latif Al-Ani an einem Computermonitor durch die Scans, die von seinem Archiv (das sich jetzt in der Arab Image Foundation in Beirut befindet) übriggeblieben sind. Wenn er sie hervorholt, erzählt er seinem Publikum unermüdlich Geschichten von dem, was im heutigen kollektiven Bewusstsein die belle-époque des Irak zu sein scheint: die Zeit vom Ende der 1950er Jahre bis 1979 als Saddam Hussein an die Macht kam.
Durch seine Arbeit in der Ölindustrie mit dem Iraqi Petroleum Magazine in den 1950er Jahren und dann später im Rest des Landes begleitete und dokumentierte er sehr systematisch die geplante Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft des Irak - in Schulen und Büros sowie in der Landwirtschaft und in Fabriken. Er war auch Zeuge des Wandels, der in Bagdad vonstatten ging, das durch die Projekte solch bedeutender Architekten wie Kahtan al Madfai und Rifaat Chadirji oder von Künstlern wie Jawad Selim transformiert wurde.
Seine Bilder sind Teil einer Verteidigung und eine Illustration irakischer Kultur - in all ihrer Vielfalt und Komplexität -, die heutzutage auf so grausame Weise nachhallt: die mesopotamischen Altertümer und traditionellen Siedlungen, der Trubel auf Marktplätzen und urbaner Zeitvertreib - Picknicks und mazgouf an den Ufern des Tigris, maqam Konzerte oder sogar die kleinen Boutiquen und Cafés in den Muntanabi- und Rachidstraßen.
Doch seine Aufnahmen aus dem politischen Bereich (offizielle Reisen, Eröffnungen, Paraden und Reden) für die irakische Nachrichtenagentur bieten eine andere Sicht auf genau dieselben Jahre, indem sie die Formen und Persönlichkeiten politischer Macht darstellen, aber auch die ersten Anzeichen der Schatten hinter der Fassade jener goldenen Jahre…
Während es stets schwierig ist, einem Fotografen zu glauben, wenn er einem versichert, er würde keine Bilder mehr machen, hat Latif Al-Ani seine Arbeit 1979 offiziell eingestellt. Zu einer solch radikalen Entscheidung gibt es in der Geschichte der Fotografie keine wirkliche Entsprechung, und dadurch sticht sie als eine persönliche Reaktion auf das erlebte Drama seines Landes und seiner Bürger hervor, aber auch als eine Metapher der gemeinsamen Tragödie. Infolgedessen erlebte Latif Al-Ani die schrecklichen Jahre des Irak von Krieg und Zerstörung mit offenen Augen, aber mit geschlossenem Objektiv.
Auf diese Weise bleibt es uns überlassen einzuschätzen, inwieweit die ungewöhnliche, ereignisreiche Geschichte des Archivs von Al-Ani und seiner fotografischen Arbeit ein wesentliches und doch paradoxes Zeugnis der jüngeren Geschichte des Irak ist.
Catherine David
Kuratorin, Kunsthistorikerin. Stellvertretende Direktorin und Leiterin der globalen Öffentlichkeitsarbeit des Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. Künstlerische Leiterin der Documenta X, 1997.
2015 zeichnete die Prinz Claus Stiftung Ossama Mohammed und 10 weitere Kunstschaffende für ihre herausragende Arbeit für Kultur und Entwicklung aus.
Prinz-Claus-Preisjury:
Latif Al-Ani wurde dafür ausgezeichnet, dass er ein außerordentlich reichhaltiges und vielschichtiges Archiv einzigartig historischer Bilder der irakischen Gesellschaft geschaffen hat; dafür, dass er Irakern und der Welt eine grundlegende Gedächtnisbank bietet, die von einem modernen, prosperierenden und nach vorn blickenden Land Irak zeugt, bevor es durch den Golfkrieg verwüstet wurde; und für seine führende Rolle bei der Entwicklung der Dokumentarfotografie im Irak.