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Nach dem Atomabkommen könnte der Drang der iranischen Kunstszene nach Selbstbestimmung abermals von Erwartungen einer nach leicht definierbaren, identitätsbasierten Bewegungen lechzenden westlichen Kulturindustrie überschattet werden.
Von Michel Dewilde | Mai 2016Als ich am 7. März 2016 an der Eröffnung der umfangreichen Ausstellung des international gut bekannten belgischen Künstlers Wim Delvoye im Museum Zeitgenössischer Kunst von Teheran (TMoCA) teilnahm, hatte ich eine Art Déjà-vu.
Nach dem so lange erhofften Atomabkommen erlebt die stolze iranische Hauptstadt die Ankunft einer neuen Schar ausländischer Amtsträger und Geschäftsleute, gefolgt von einer weiteren Gruppe von Kuratoren, Sammlern und Museumsdirektoren aus dem Ausland, die anscheinend den immensen Reichtum der zeitgenössischen Kunstwelt des Iran entdeckt haben. Ich dachte darüber nach, welches die Auswirkungen dieser jüngsten Invasion auf eine Kunstszene sein würden oder könnten, die - wie die Mehrheit der Bevölkerung - durch die auferlegten Sanktionen in eine ernste wirtschaftliche Notlage geraten ist. Ohne Zweifel ist die einheimische Kunstszene niemals so lebendig wie jetzt gewesen, wo sie mit immer mehr Akteuren, Galerien, von Künstlern betriebenen Räumen und unabhängigen Initiativen auftrumpft. Aber die lokale Kunstwelt scheint in einem Grenzbereich des Dazwischen zu schweben, in welchem sich die Erwartungen an die Zukunft mit Formen von Angst und Sorge vermischen. Blitzartig kam mir die Arbeit Des-Integration (Video einer Performance, 2012) von Yashar Azar Emdadian in den Sinn: man sieht den Künstler in einem öffentlichen Park auf einem persischen Teppich stehen und sich seinen nackten Oberkörper komplett rasieren. Ist die Auslöschung der körperlichen Kennzeichen der ultimative Schritt für einen iranischen Künstler, um von der internationalen, westlichen dominierten (Kunst-) Szene akzeptiert zu werden? Oder führt das Festhalten an einem internationalen Diskurs im Gegenteil letztendlich zum gänzlichen Selbstverlust? Ich bemerkte verschiedene Formen der Orientierungslosigkeit und Undeutlichkeit in solchen Gemälden wie der Serie Amalgamation (2015) von Nasser Bakhshi. Wir sehen Wälder emporgereckter Arme und Hände, die möglicherweise protestieren oder einfach nur feiern - aber wogegen oder wen?
Nahezu unvermeidlich erinnerte ich mich an zwei Gedankengänge: einerseits das Wechselspiel zwischen Regierungspolitik, den lokalen und internationalen Märkten und deren nachfolgendem Einfluss auf die iranische Kunstszene; und andererseits die komplexe Beziehung der Kunstpraxis im Iran zur Suche nach kultureller Zugehörigkeit und dem Wunsch nach einer, wenngleich relativen, ästhetischen Autonomie. Es ist wichtig, dabei die spezifische Kunstszene im Iran selbst von der umfangreichen Diaspora zu unterscheiden.
Im Spiegel versteckte Moderne
Seit der Dynastie der Kadscharen und insbesondere seit der Regentschaft von Nāser ad-Din Schah (herrschte von 1848 bis 1896) vollzog der Iran eine schnelle, von oben verordnete Modernisierung - eine Modernität, die viele Jahrzehnte lang umstritten war und auf gewisse Weise Irans frühe und gleichzeitig turbulente Beziehung zur Moderne symbolisiert. Naser al-Din Shah förderte die Einführung moderner Fotografie und Malerei im Iran. Es seien hier solch wichtige Figuren wie der Maler Kamal al-Mulk (* 1847-1940), vermutlich der Vater der modernen iranischen Malerei, und Fotografen wie Antoin Sevruguin (* 1840?-1933) erwähnt. Besonders fasziniert mich Sevruguins verblüffendes Porträt Naser-al-Din Shah an seinem Schreibtisch in der Spiegelhalle sitzend (1890?). In gewisser Hinsicht fasst es die komplexe Beziehung Irans zur Moderne zusammen. Mit dieser bemerkenswerten Fotografie scheint Sevruguin einen Teil des berühmten Gemäldes Las Meninas (1656) von Diego Velázquez auf den Iran des 19. Jahrhunderts zu transponieren. Wie der spanische Barockmeister stellt Sevruguin eine königliche Szene dar, in diesem Falle den Kadschar-König, der an seinem Schreibtisch sitzt, und bezieht sich selbst als Autor in das Porträt ein. Aber damit endet der Vergleich: im Gruppenbildnis von Velázquez erscheinen die Gestalten des spanischen Königs und der Königin in dem Spiegel im Hintergrund des Gemäldes, wahrscheinlich eine Anspielung auf die unsichtbare Machtbeziehung und die dominierende Position des Königspaars, das im Grunde außerhalb des Gemäldes steht. Stattdessen rückt Sevruguin die zentrale Figur des Werkes, den Kadschar-König, ein Stück zurück und lässt vor dem Betrachter einen offenen Raum. Verblüffender Weise ist es Sevruguin - mit seiner Kamera - der vom Spiegel hinter dem König reflektiert wird. Demzufolge sind es der Künstler oder die Kunst selbst, die gegenüber dem Monarchen und dem abwesenden Betrachter dominieren. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass egal wie sehr Modernität und westlich beeinflusste Moderne einer Bevölkerung aufgezwungen werden, die persönliche und lokale Sichtweise überwiegen wird und der Künstler seine eigene Version artikuliert, seine eigene Interpretation hinzufügt. Seit den Kadscharen hat der Iran mehrere wichtige Kunstbewegungen hervorgebracht, in denen die Regierung eine grundlegende Rolle spielte. Ich meine damit z.B. die berühmte Saqqakhaneh Kunstbewegung (gegründet 1960-62) während der Pahlavi Dynastie, bei der eine Fusion lokaler Traditionen mit Interpretationen der Moderne festzustellen ist. Danach haben verschiedene Regierungen der Islamischen Revolution (1977 bis heute) unterschiedliche Positionen zur Moderne und zeitgenössischen Kunst eingenommen, von offen unterstützend bis klar restriktiv. Seit 2005 ist die Bedeutung des Galeriensystems und ausländischer Auktionshäuser signifikant gewachsen.
Jenseits von Identitätspolitik
2016 könnte der Drang, der Wunsch nach einer künstlerischen Selbstbestimmung abermals von den erneuerten Erwartungen der nach leicht definierbaren, identitätsbasierten Bewegungen lechzenden Kulturindustrie überschattet werden. Dieses Phänomen an sich ist nicht neu. Ich habe es ab 2005-2006 persönlich erlebt, als eine Reihe von Auktionshäusern und Institutionen, genährt von einer Gruppe Galerien, mit vielen Wanderausstellungen in weiten Teilen der bekannten Welt eine Art "iranischen Boom" arrangierten. Die Tatsache, dass die meisten der beteiligten Künstlerinnen und Künstler schon seit den späten 1990er Jahren arbeiteten und dass diese "Nicht-Gruppe" nur ein kleiner Teil einer sehr großen und facettenreichen Kunstszene im Land und in der Diaspora war, ist selten erwähnt worden. In gewisser Hinsicht repräsentierte diese kleine Gruppe den Iran, die Region, die Glaubensrichtungen, und deren wahrgenommene kulturelle Differenz war oft das einzige verbindende Merkmal oder kuratoriale Kriterium. Ich meine damit eine Generation von Künstlerinnen und Künstlern, die vornehmlich in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurden und seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Erscheinung traten. Dazu gehören Bita Fayyazi (* 1962), Khosrow Hassanzadeh (* 1963), Sadegh Tirafkan (* 1965-2013), Mehran Mohajer (* 1964), Shadi Ghadirian (* 1974), Mahmoud Bakhshi Moakhar (* 1977) und andere. Mehrere von ihnen nahmen an den bahnbrechenden Ausstellungen des Teheraner Museums für Zeitgenössische Kunst (TMoCA) teil, die oft mit solchen Etiketten wie "Konzeptuelle Kunst" und "Neue Kunst" versehen worden sind. Es ist diese Generation, die während der Präsidentschaft von Seyyed Khatami (1997-2005) ins Blickfeld rückte. Nach dem traumatischen Krieg mit Irak (1980-1988) und dem internationalen Boykott des Landes war es die erste Künstlergeneration, die die Freiheit hatte zu experimentieren und sich den anderen Teilen der Welt und insbesondere dem Westen anzunähern. Dieser besondere Zeitraum bleibt für mich die intensivste, aufregendste, experimentellste und sogar unvollendete objektbasierte Phase in der jüngeren zeitgenössischen Kunst des Iran. Aber diese Situation änderte sich nur ein paar Jahre später: damit meine ich die Auswirkungen der einflussreichen Auktion von Christie's in Dubai (2006) oder die vielen Wanderausstellungen vor allem im Westen. Infolgedessen wandte sich der globale Kunstmarkt der blühenden iranischen Kunstszene zu, und deren relative Testphase und Laborsituation ist zum Teil unterbrochen und sogar umorientiert worden. Nach der angeblichen "Entdeckung" der chinesischen, indischen und anderer nationaler und ethno-kultureller Bewegungen in den 1990er Jahren durch den internationalen Kunstmarkt kam jetzt Iran an die Reihe. Der Heißhunger auf leicht erkennbare und demzufolge marktfähige Kunstwerke, die eine Reihe vorgefasster, oftmals orientalistischer Vorstellungen vom Iran, dem Islam, der Lage von Frauen, Formen des Extremismus etc. bestätigen, führte zu einem Wuchern im Wesentlichen ethnisch ausgerichteter Gruppenausstellungen. Die Rückwirkungen auf eine Reihe noch jüngerer Kunstpraktiken waren alarmierend, weil die oft spielerischen oder analytischen und kritischen Positionen gegenüber dem lokalen Kulturerbe und den orientalistischen Stereotypen einer frohlockenden Einverleibung identitätsbasierter Themen und Motive wichen.
Was kommt nun als Nächstes? Eine Reihe von Kunstwerken sticht hervor, in denen Elemente des Abwesenden, des Verschwindens oder sogar des Zerfalls im Kern einer Schaffensweise stehen, die das Experimentieren lebendig erhält - statt eines überreichlichen Spiels mit dem Glänzenden und dem Glatten.
Ich denke dabei an solche Werke wie Where the heads of the renowned rest (2009) des Fotografen Mohammad Ghazali (* 1980). Darin erkennen wir Ansichten von Teheran, so wie sie aus dem flüchtigen und leeren Blickwinkel einer Reihe von Statuen berühmter Persönlichkeiten gesehen werden. Dann sind da die Installationen und die damit in Zusammenhang stehenden interaktiven Performances von Neda Razavipour (* 1969) wie Self-service (2010-2016), bei der das Publikum aufgefordert ist, Teile des eigenen persischen und iranischen Erbes auszuschneiden. In ihren letzten Performances schichtet sie Elemente ihrer persönlichen Biographie auf und zertrümmert sie. Und schließlich seien Barbad Golshiris (* 1982) jüngste Arbeiten erwähnt, gezeigt in der Ausstellung Curriculum Mortis (2015). Es ist eine Reihe erstaunlicher Grabsteine und Markierungen der Gräber von Leuten, Künstlern, Schriftstellern und Dichtern, die ihm viel bedeuten. Golshiri agiert als Bibliotaph: unter den Grabsteinen verbirgt er Bezugnahmen, Manuskripte, Schriften, die alle darauf warten, erinnert, ausgegraben zu werden. Sein Werk aktiviert Neugier, Erinnern, und es kämpft gegen Amnesie.
Michel Dewilde
Belgischer Kunsthistoriker und Kurator. Er kuratierte Ausstellungen für die MSK & SMAK Museen (Gent), Gynaika (Antwerpen), CC Brügge und arbeitet freischaffend. Derzeit ist er einer der Kuratoren der Triennale Zeitgenössischer Kunst und Architektur in Brügge, Belgien.