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Über das Schaffen des Künstlers im Kontext seiner irakisch-kurdischen Herkunft. Mit Fotos seiner Installation auf der 56. Biennale Venedig 2015 und früherer Werke.
Von Lutz Becker | Mai 2015Künstler und Publikum sind durch kollektive Erinnerungen miteinander verbunden. Ein Kunstwerk existiert nur in den Augen seines Machers und jener, die es sehen und seine Bedeutung empfinden können. Wie alle anderen, so tragen auch Künstler ihr gesamtes Leben lang Erinnerungen und emotionale Muster in sich. Diese basieren zum großen Teil auf geographischen, nationalen, tribalen und familiären Hintergründen. Ständig interagieren historische und persönliche Ereignisse, bereichern und formen Lebenserfahrung und lösen innere Prozesse aus, die definiert und zum Ausdruck gebracht werden müssen. Künstler haben die Befähigung, Fertigkeiten und die mentalen Werkzeuge, subjektive Erfahrungen zu externalisieren, indem sie diese in kreative Energie umwandeln. Das künstlerische Werk ist ein Akt der Transformation, bei dem subjektive Erfahrung in einer Form zusammengefasst wird, durch die sie eine allgemeinere Bedeutung und Gültigkeit erlangt. In diesem Prozess nutzen Künstler ihre Wahrnehmung von Vergangenheit und Gegenwart, ihre eigene Realität, als Anregung. Die Fähigkeit, diese zu interpretieren, steht im Zentrum der kreativen Entscheidung. Diese Position muss immer wieder gegen vorherrschende Konventionen und Vorurteile verteidigt werden. Jene innere Unabhängigkeit zu erlangen, neuartige Ausdrucksformen zu finden und eine produktive Kohärenz zu erreichen ist das Resultat permanenter Aufmerksamkeit und Suche, der Hinterfragung und Überprüfung der Realität und ihrer mannigfaltigen Variationen und Möglichkeiten.
Walid Siti wurde in Duhok geboren, einer Stadt in Irakisch-Kurdistan. Er begann sein Studium der Malerei am Institut der Schönen Künste in Bagdad und studierte danach grafische Kunst an der Akademie der Schönen Künste in Ljubljana, im früheren Jugoslawien. Obwohl er seit 1984 in London lebt und arbeitet, bleibt er seinen Wurzeln emotional verbunden und unterhält ständig Kontakte mit der Familie und Freunden in seinem Herkunftsland, das für lange Zeit durch Krieg in Mitleidenschaft gezogen war und sich derzeit in einem hastigen und fragilen Bemühen im Wiederaufbau befindet.
In seiner Retrospektive im Leighton House, London 2008, stellte Siti an Texturen der Erde, das Gewicht und die Farbe von Felsen und Nachbildungen der ewigen Gebirge Kurdistans erinnernde Gemälde aus. "Aus den tragischen Verhältnissen in seinem Heimatland, der Abgelegenheit der Landschaft und der emotionalen Prägung durch seine frühe Umgebung bezieht er viel von seiner Inspiration. In seinem Werk Precious Stones betont er die mystische Bedeutung von Steinen, heiligen, verehrten Felsen und Bergen, die Jahrhunderte lang die Zuflucht der kurdischen Gemeinschaft waren und durch Unterwerfung, Massaker, Teilung und Zerstörung zu Kultstätten geworden sind." [1] Eine Serie von Zeichnungen aus dieser Periode, Family Ties (2004-2008), nimmt die organische Struktur von in der Natur verankerten Familiennetzwerken auf und widerspiegelt den Rhythmus der Jahreszeiten, von Leben und Tod. Hier beschäftigte er sich mit einem seiner zentralen Themen, nämlich dem Platz des Individuums in der Gruppe, dem Wir und Ich und dem Sie und Wir. Haus und Familie werden als Orte der Sicherheit und des Fortbestehens erinnert, erscheinen aber damals schon durch namenlose Kräfte, äußere Belastungen und Spannungen bedroht.
Das Leben im permanenten Exil setzt Walid Siti den Qualen, aber auch den Vorzügen von Entfremdung aus, durch die er kritische Perspektiven, Selbsterfahrung und ein stärkeres Bewusstsein seiner Identität erlangte. "Wir leben in einer merkwürdigen Zeit, in einer einzigen Welt, doch inmitten vieler verschiedener Wirklichkeiten. Ich bin das Produkt dieser Komplexitäten. In meinem Schaffen widerspiegeln sich Verzweiflung, Hoffnung und Sehnsucht. Ich habe an verschiedenen Orten gelebt, unter unterschiedlichen emotionalen Bedingungen. Diese bisweilen flüchtigen Existenzstadien versetzten mich in die Lage, ein Zeuge und Träger der Erinnerungen an viele Veränderungen und Erfahrungen zu sein, die eine Vielfalt von Gefühlen, von Angst und Verzweiflung, von Ungerechtigkeit und Unterdrückung beeinflussten, aber auch einige Momente der Hoffnung und des menschlichen Verständnisses mit sich gebracht haben."
Die Identität des Künstlers wird immer wieder Spannungen unterworfen, wenn er in der Neuorientierung und dem Wiederaufbau Irakisch-Kurdistans in der Nachkriegszeit, vor allem in seiner Heimatstadt Duhok, das Aufkommen atypischer sozialer und ökonomischer Strukturen sieht, die auf den kapitalistischen Modellen Westeuropas und der USA imitieren. Ausgehend vom neuen Wohlstand der ölreichen Staaten des Nahen Ostens hat eine Welle dramatischer Veränderungen eine ganze Region erfasst, vom Golf bis zum Kaspischen Meer, einschließlich Irak, Syrien, der kurdischen Region und der Türkei. Der Rausch des Ölbooms, Vergeudung und Gier, diktieren die Gestalt der gegenwärtigen Entwicklungen und die Ungewissheiten der Zukunft. Inmitten eines Verlusts familiärer Standards, Beziehungen und Werte überwiegt eine gewisse Diskontinuität.
Unter dem Banner der Modernisierung werden alte Stadtviertel abgerissen und Bevölkerungen entwurzelt. Spekulanten zwingen den kommunalen Verwaltungen gigantische Bauprogramme auf. Bei der Nachahmung westlicher Architekturstile und Planungsmodelle werden fremdartige Systeme sozialer Organisation aufgezwungen, die zur Auflösung traditioneller Lebensformen führen und Familienzusammenhalt und alte soziale Strukturen zerstören.
Walid Sitis künstlerische Bemühungen richten sich gegen eine solche absichtliche Zerstörung von Bindungen der Menschheit an ihre Ursprünge und ihre Geschichte. "In den letzten zwei Jahrzehnten wandte sich meine Arbeit hin zu zurückhaltenden Formen von Abstraktion, einer Sparsamkeit und Konzentration von Elementen, die aus kulturellen und historischen Bezügen und zeitgenössischen Phänomenen abgeleitet sind. In jüngster Zeit erlitt die geographische und soziale Landschaft der kurdischen Region einige der schlimmsten Verwüstungen ihrer Geschichte. In meinem Schaffen verarbeite und entwickle ich Gebilde und Formen, in denen solche Tragödien und Qualen widerhallen mögen. Erinnerung und Beobachtung haben eine größere Wirkung gewonnen, wie ich meine Ideen formuliere."
Siti lebt und schafft zwischen dem Hier und dem Dort, zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Sein instinktives Wissen um die Grenzen und Widersprüche innerhalb der Welt, in der wir leben, führt ihn zu einer sich ständig vertiefenden Suche, Reflexion und Visualisierung seiner inneren Bilder, so wie sie in den Metaphern, Zeichen und Symbolen zum Ausdruck kommen, die in seinen Zeichnungen, Gemälden und Konstruktionen erscheinen.
In seinen jüngsten Werken präsentiert er Alternativen zu der Zerstörung, deren Zeuge er geworden ist. Er sucht Transparenz und Licht im Gegensatz zu der Härte und Brutalität einer Stadt der Wolkenkratzer; er glaubt an positive Aktionen und gute Beispiele. Er setzt die Großartigkeit der Berge und Täler gegen die artifizielle Dynamik urbaner Ausweitung. In seinem Panoramagemälde City Mountain und der Installation Cityscape schafft er eine Antithese zu der Invasion von Natur durch Beton- und Stahlarchitektur, die den finanziellen und politischen Mächten dienen, die gegenwärtig das Land beherrschen.
Das Thema zwei großer Triptychen ist die Art, wie das Neue Babylon in Ausmaß und materieller Präsenz mit den Ausdehnungen der alten Landschaften, mit den Bergen, konkurriert. Wie in den meisten seiner jüngeren Werke verwendet Siti in beiden Gemälden eine begrenzte Farbskala, vor allem erdige Töne, Ocker, gebranntes Umbra und starke hell-dunkel Kontraste, akzentuiert mit Schichten aus weißen und schwarzen linearen Strukturen. In Things to Come überlagert ein Netz urbaner Konstruktionen den Berg, während im Falle von Three Points of View der Berg dominiert und im Grunde die Stadt zurückzuerobern scheint. Wie Siti beobachtet, diktiert die physische Umwelt eine Lebensweise: "Ich habe das Gefühl, dass die Bevölkerung in diesen Städten, in dem von ihnen repräsentierten System, eingeschlossen ist. Die Menschen werden zu Teilen einer solchen Struktur und mehr und mehr von der Idee einer Gemeinschaft getrennt. Aufgesplittert in kleine Gruppen von geringem sozialen Zusammenhalt unterwirft sich die Bevölkerung den Hierarchien der Macht. Die Organisation einer historisch gewachsenen Stadt kann einen Ort symbolisieren, der individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Selbstverwirklichung Raum gibt. Architektur unseres kulturellen Erbes, wie Pyramiden, Ziggurats oder Minarette, verdeutlicht diese Idee. Die in unserer Kultur herausgebildeten Beziehungen widerspiegeln eine geschichtete soziale Struktur. Aus diesem Grund habe ich mein Interesse an den historischen Orten, Gebäuden und Monumenten des Nahen und Mittleren Ostens bewahrt. In der Hoffnung, dass dies Licht auf unsere gegenwärtige Geschichte wirft, möchte ich den historischen Kontext verstehen."
Jahre der Aggression, des Krieges und religiöser Richtungskämpfe haben ein Stadium permanenter Instabilität geschaffen; selbst der gegenwärtige Bauboom wird mit Aggression betrieben. In seiner Gemäldeserie The Seven Towers deformiert der vertikale Höhendrang die traditionelle Spiralform. Es gibt da Mehrdeutigkeiten, in denen die Stabilität der Türme infrage gestellt wird: sind sie im Aufbau begriffen oder schon am Verfallen? Upward Rhythm zeigt einen wankenden Turm. Er wird von Leitern und Gerüsten gestützt, aber seine innere Struktur krümmt sich, ist kurz vor dem Zerbrechen. Der Künstler gab ihm die Form eines Blattes und wies damit darauf hin, dass alle menschliche Schöpfung niedergehen wird und womöglich zurück in den Schoß der Natur gleitet. Die skulpturale Installation Seven Towers ist eine Sequenz aus aufrechten Strukturen von großer Kompliziertheit, Türmen oder Wolkenkratzern, an Gerüste oder Baustellen erinnernd. Mit ihrem schwarzen Anstrich wirken sie stark, metallisch, flexibel, doch sie sind aus Stroh gefertigt, was ihre Fragilität betont.
Walid Siti konstruiert seine Werke aus Formen, die stets an die grundlegende Beziehung der Menschheit zur Natur erinnern. Die "Konstruktionen seiner Vision" legen Gegensätze und Diskrepanzen der urbanen Existenz unserer Zeit offen. Seine Kunst verlangt vom Betrachter eine Art "konstruktiven Sehens", eine aktive Sehweise, wobei die Betrachter Blickwinkel, Positionen, Pfade hin zur Bedeutung der Werke entdecken, Nähe und Distanz, darin implizierte Endlichkeit und Unendlichkeit. Er mobilisiert und beteiligt die Betrachter.
Anmerkungen:
Lutz Becker
Filmemacher, Künstler und Kurator aus Berlin, lebt in London.
Walid Siti wird vertreten von