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Über die Künstlergruppe in Karatschi, Pakistan, die gemeinsam Kunst im alltäglichen urbanen Bereich entwickelt und präsentiert.
Von Simone Wille | Apr 2015Das Tentative Collective besteht aus einer Gruppe von jungen Menschen, die in Karatschi arbeiten, Ideen und Ressourcen teilen, Bilder produzieren. Vor allem aber widmen sie sich Projektionen von Bildern, die sie mit einem Projektor auf einer Rikscha an diversen öffentlichen Orten der Stadt an Bauten projizieren. Dabei bemühen sie sich, sowohl Erfahrungen von Künstlern und Institutionen als auch die des Publikums unterschiedlicher ethnischer Herkunft in Verbindung zu bringen. Das Tentative Collective wurde 2011 von Yaminay Chaudhri gegründet. Die Kerngruppen besteht aus Hajra Haider, Zahra Malkani, Shahana Rajani und Fazal Rizvi. Die "Idee, kollektiv und kollaborativ zu arbeiten", wie es Shahana Rajani ausdrückt, um "die Stadt zu erforschen und neu zu entdecken", wie von Hajra Haider kommentiert, ist letztlich das, was die Gruppe, deren Mitglieder aus den unterschiedlichsten Praktiken kommen, zusammen brachte. Während sich ihr Ansatz auf die Stadt als den Ort der An- und Wiederaneignung richtet, schöpfen sie gleichsam aus der Metropole als einer Ressource oftmals nicht verknüpfter Kommunikation und Zirkulation von Mechanismen.
Vielzahl von Kulturen
Karatschi kann weder auf einem gemeinschaftlichen sozialen Leben aufbauen, noch liegt ihm das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte zugrunde. Karatschis Entstehung lässt sich nicht auf die Zeit der Moguln Herrschaft zurückverfolgen, so wie das bei Lahore der Fall ist. Stattdessen begann Karatschis Existenz als Stadt erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein rapides Wachstum und eine rasante Entwicklung ein. In enormer Geschwindigkeit verleibte es sich seine Umgebung ein und zieht bis heute Zuwanderer aus ländlichen Gebieten sowie anderen Ländern an. Wegen des Fehlens einer Historie sin die Bewohner der Stadt deshalb von dieser selbst geformt worden - Gemeinschaft für Gemeinschaft, Ethnie für Ethnie - jede davon irgendwie zur Stadt gehörend, aber mit sehr wenig Interaktion innerhalb der Gemeinschaft und ethnischen Gruppe. Könnte darin eine der Ursachen für den gegenwärtigen Zustand der Stadt liegen?
Innerhalb der urbanen Topografie von Karatschi gibt es viele Künstler, Schriftsteller, Filmemacher, die sich auf ihre Weise mit der Vielschichtigkeit der komplexen Stadt, der jungen Vergangenheit sowie der so oft diskutierten Gegenwart beschäftigen. Das vielschichtige soziale Gewebe der städtischen Gesellschaft, die enorme kommerzielle Energie, die Koexistenz vom Wachstum des Kapitals und städtischem Verfall, all dies ist zu einer Fundgrube für eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern geworden. Innerhalb dieses Klimas hat eine Künstlergruppe bereits in den frühen 1990er Jahren das visuelle Umfeld der Stadt mit seinen vielen produktiven Energien erkundet. Diese Bewegung wurde später als "Karachi Pop" bezeichnet und hat die künstlerische Produktion sowie das theoretische Denken weit über die Grenzen der Stadt nachhaltig beeinflusst.
Ein zentrales Anliegen der "Karachi Pop" Bewegung war, wie autonome Kunst überhaupt auf die Visualität des allgemeinen, populären Geschmacks reagieren und dabei die konfliktreiche Situation der Stadt mit einbeziehen kann. Das Tentative Collective nimmt eine ähnliche Position ein, aber statt das Populäre des Alltäglichen zu erforschen, erkundeten frühe Projekte wie Beyond Walls und A Pakhtun Memory (letzteres fand bei Filmfestivals viel Aufmerksamkeit) durch das Interagieren mit sogenannten "instant communities" sowohl dessen Möglichkeiten als auch Grenzen und generierten dabei unkonventionelle Formen der Partizipation.
2012 begann das Mera Karachi Mobile Cinema Projekt damit, gratis Filmvorführungen innerhalb verschiedener Stadtviertel anzubieten. Gezeigt wurden Handyfilme, die von Bewohnern der jeweiligen Viertel aufgenommen worden sind. Diese Alltagserfahrungen, die auf Häuserwände, Züge und Bahnhöfe projiziert wurden, generierten einen Raum für temporäre Begegnungen und Dialoge und brachten Privates an die Öffentlichkeit. In letzter Zeit, seit Januar 2015, hat das Collective in Kooperation mit weiteren Künstlerinnen und Künstlern mit einer neuen Serie von Projektionen begonnen. [1] Gezeigt werden Arbeiten, die für sich eine starke Verbindung mit der Stadt Karatschi aufweisen.
Raum umkehren und einfügen
Diese Vorführungen starteten mit den Funland-Karachi Series II (2014) von Bani Abidi. Die Mehrkanal-Videoinstallation wurde mit Unterstützung der 8. Berlin Biennale und des DAAD Künstlerprogramms produziert. Die Intention, die Videos an diversen Orten in Karatschi zu zeigen, besteht darin, deren originale Aufnahmeorte zu invertieren, so dass sie in unterschiedliche Kontexte der Stadt eingefügt werden können. Dieser Akt kann als das Bemühen des Tentative Collective interpretiert werden, Möglichkeiten auszuloten, etwas miteinander zu teilen und zu interagieren, nicht miteinander verbundene Teile der Gesellschaft einander näherzubringen.
Die Vorführung des Videos Near and far sights/sites converge von Naiza Khan, gefilmt durch ein selbst gebasteltes Teleskop am Strand von Manora (einer Insel vor Karatschi) an einem Nachmittag während des Monsuns, ist in den engen, labyrinthischen Gassen des Stadtviertels Golimar gezeigt worden. Das ist ein Beispiel für das Konzept des Umkehrens von Räumen, indem der Originalschauplatz zu den Menschen gebracht wird, die an die Strände von Manora fahren, um dem konfliktreichen Alltag in der Stadt für einen Moment zu entfliehen. Mit diesen und weiteren Projektionen scheint der Zugang des Tentative Collective zur Stadt von der Absicht bestimmt zu sein, zu einem Verständnis des eigenen Dilemmas und dem Bewusstsein einer Zugehörigkeit zu dieser Stadt beizutragen, also einer Zwangslage, mit der sich viele Künstler in Karatschi letztlich auseinanderzusetzen haben.
Wie kann die Bedeutung der Vorgehensweise des Tentative Collective in einen Dialog mit der Stadt Karatschi treten?
Die Praxis des Collective wurde häufig im Zusammenhang mit sozialem Aktivismus diskutiert, wovon sich die Gruppe explizit distanzieren möchte. Das Überschreiten räumlicher Grenzen innerhalb einer Stadt, die so groß und komplex wie Karatschi ist, scheint für das Tentative Collective eine gezielte Herausforderung zu sein, aber auch für die Künstlerinnen und Künstler, deren Videoarbeiten das Collective projiziert. Sich der Auswirkungen der Arbeit mit mehreren Akteuren, Zuschauern und Perspektiven völlig bewusst, sieht sich das Tentative Collective mit der Realität konfrontiert, dass die vielen Sehnsüchte der Bewohner Karatschis innerhalb eines solch weiten geografischen Raumes nicht umfassend definiert werden können. Deshalb ist ihre Arbeitsweise innerhalb der prononcierten, aber miteinander verknüpften Auffassung von Raum und Ort zu diskutieren, wobei der Raum sowohl als ein Ort, von dem aus sich eine ästhetische Praxis entfaltet, als auch ein diskursives Feld erachtet wird, eine ermöglichende Position, die den Weg für eine selbstreflexive Vermittlung eröffnet. Shahana Rajanis fasst die Vorgehensweise der Gruppe gut zusammen, wenn sie sagt, "ich denke, dass alle von uns an kritischer Wissensproduktion durch neue Wege des Sehens interessiert sind, neue Formen des Engagements sowie neue Ansätze von Beziehungen."
Anmerkung:
Simone Wille
Kunsthistorikerin. Autorin des Buches "Modern Art in Pakistan. History, Tradition, Place", veröffentlicht 2014 von Routledge, Neu-Delhi.
Tentative Collective
Junge Menschen in Karatschi, Pakistan, die gemeinsam Kunst in den urbanen Bereich bringen. Vor allem projizieren sie mit einem Projektor auf einer Rikscha Bilder und Videos auf Bauten an öffentlichen Orten der Stadt. Ihre Zusammenarbeit begann im Dezember 2011.
Kontakt: