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Kunst, Elemente der Pop-Kultur und sozialer Bewegungen seit 1980 zeichnen Ursprünge aktueller Kontexte in der Türkei nach.
Von Bora Gürdaş | Okt 2015In den Jahren nach dem Staatsstreich vom 12. September 1980 vollzogen sich in der Türkei fundamentale Transformationen der politischen, sozialen und kulturellen Strukturen. Das wechselnde Erscheinungsbild des Landes ließ ideologische Kämpfe, kontroverse Erneuerungspolitik und Streitigkeiten über unverdiente Einkommen erahnen, was sich alles bis heute fortsetzt. Die neoliberale Politik nach der Verfassung von 1982 wurde zum Grundprinzip der von der Anavatan Partisi [ANAP, Mutterlandpartei] gestellten, ersten zivilen Regierung nach dem Militärputsch. Die ANAP förderte eine auf Konsum orientierte Gesellschaft, während das Militärregime alle oppositionellen Bewegungen und politischen Organisationen abblockte. Während der 1980er Jahre verkündete die Regierung in Absprache mit dem Militär Wohlstand und Befreiung und hielt im gesellschaftlichen und politischen Leben zugleich ein autoritäres Regime aufrecht.
Die 1980er sind in der Türkei eine Periode, in der die Regierung dem Filmemacher Yılmaz Güney und dem Sänger Cem Karaca die Staatsbürgerschaft aberkannte (1983); der Nationale Sicherheitsrat hob ein Verbot auf, das die politischen Aktivitäten politischer Parteien einschränkte (1983); mit dem Bau des Atatürk-Damms setzte die Regierung ihr Südostanatolisches Projekt (GAP) fort; und der Premierminister Turgut Özal wurde zum achten Präsidenten der Republik Türkei gewählt (1989). Ebenfalls in jenem Jahrzehnt schloss die Regierung die Staatsgrenze zu Bulgarien, als die Zahl der Immigranten auf 300.000 anwuchs; die First Lady Semra Özal richtete in einem historischen Wahrzeichen Istanbuls, dem Yıldız Kasrı [Yıldız Pavillon], für die Stiftung zur Befähigung und Förderung Türkischer Frauen (die Presse nannte deren Mitglieder für gewöhnlich "Daisies") Kostümfeste zu ottomanischen Themen aus; der transsexuellen Sängerin Bülent Ersoy wurde Auftrittsverbot erteilt; gleichzeitig erfreute sich der Arabesken- und Volkssänger İbrahim Tatlıses Dank seiner Nähe zur Mutterlandpartei goldener Jahre. Und, als Erinnerung an die wiederkehrende Natur von Geschichte, die gegenwärtigen Debatten über die dritte Bosporusbrücke, die Öffnung des Hagia Sophia Museums für religiöse Gebete, die Umwandlung des Taşkışla Campus der Technischen Universität von Istanbul in ein 5-Sterne-Hotel und der Bau einer Tunnelröhre - all das begann schon in den 1980er Jahren. Die Auflistung solcher Fakten geben eine kritische Übersicht über die Periode: es war eine Zeit der Verbote, der Schließungen, des Zugestehens von Rechten und der Rücknahme derselben, der Bestrafung und Belohnung, des Gewinnens und Verlierens.
Die Ausstellung How did we get here [Wie kamen wir hierher], die bis zum 29. November 2015 in SALT Beyoğlu und SALT Galata zu sehen ist, zeichnet ein soziologisches Porträt der Türkei in den 1980er Jahren, indem sie Elemente populärer Kultur und Bezüge zu sozialen Bewegungen darstellt, die sich nach dem Staatsstreich von 1980 ausbreiteten. Nurdan Gürbilek, der Autor von Das neue kulturelle Klima in der Türkei, beschrieb die Periode als "Explosion von Ton, Rede und Bild", und das materialisiert sich in der Ausstellung durch Fotografien, Dokumente sowie Ton- und Bildaufnahmen. Werke, die sich mit dem präsentierten Archivmaterial beschäftigen, tragen zu einem besseren Verständnis der sozialen Dynamik in jenem Jahrzehnt bei. Dies sind Willkommen im Land des Verlusts (1998) von Halil Altındere, ausgewählte Videos von Serdar Ateşer (1989-1998), 191/205 (2010) von Aslı Çavuşoğlu, Pariser Zeit: "Die Trennung" (2011) und Pariser Zeit: "Die Karte und das Territorium" (2012-2014) von Barış Doğrusöz, Imitation/Illustration (1987/2015) von Ayşe Erkmen und Der Schrank (1997/2015) von Hale Tenger.
Merve Elveren und Erman Ata Uncu, die Leiter für Recherche und Visualisierung der Ausstellung, wollten mehr die in der kollektiven Erinnerung unterrepräsentierten Aspekte der Zeit zwischen 1983 und 1993 hervorheben als die ohnehin schon ausgiebig erörterten Themen präsentieren. Aus privaten Archiven zusammengetragene Fotografien und Videos der feministischen Bewegung Die Bewusstsein bildenden Gruppentreffen (1984), die erste Massendemonstration der Frauenbewegung Solidarität gegen häusliche Gewalt (1987) und die "Frauen in Schwarz", ein Aufruf zur Unterstützung von Hungerstreiks in Gefängnissen, verdeutlichen nicht nur, wie Feminismus in der Türkei in den 1980er Jahren konzeptionell verstanden und praktiziert wurde, sondern in diesen visuellen Aufzeichnungen manifestiert sich ebenso ein Aufstand von Frauen und der Drang, sich über die Geschlechterproblematik hinaus ebenso für andere Angelegenheiten zu engagieren.
How did we get here stellt auch die Petition von Intellektuellen vor, die am 15. Mai 1984 an das vom Diktator zum Präsidenten gewandelte Staatsoberhaupt und den Sprecher des Parlaments geschickt wurde. Diese von 1.256 Menschen unterzeichnete und vom Premierminister scharf kritisierte Petition mit dem Titel "Beobachtungen und Ersuchen die demokratische Ordnung in der Türkei betreffend" zielte darauf ab, rechtliche und praktische Einschränkungen aufzuheben, die Produkte intellektueller Aktivität und Kunst verhindern; die Struktur des Rates für Höhere Bildung (YÖK) zugunsten einer auf dem Wahlprinzip basierenden Autonomie zu überwinden; Pressefreiheit zu fordern. Es soll daran erinnert werden, dass die öffentliche Erklärung "Demokrasiye Darbe" [Coup für Demokratie] von 2014 dasselbe Schicksal ereilte und die Unterzeichner vom Präsidenten wegen "fehlender Moral" attakiert worden sind.
Ein weiterer in How did we get here untersuchter Meilenstein der 1980er sind die Verlagswirtschaft und die Medien. Die Ausstellung bezieht 270 Originalausgaben verschiedener Magazine aus jener Zeit ein, wodurch es möglich ist, die Vielfalt der Medien in jenen Jahren zu erkennen und zu würdigen. Eine der interessanten Beobachtungen in diesem Ausstellungsteil sind solche geschlechtsspezifischen Magazine wie Erkekçe, Kadınca, Playboy, Penthouse, Playmen, die in jener Periode aufkamen, als Diskurse über Sex immer weniger behindert wurden. Politische Satirezeitschriften von den verschiedenen Ecken des Spektrums wie Limon und Hıbır erlangten unter jüngeren Lesern eine enorme Popularität, und solche Magazine wie Toplum ve Bilim, Birikim, Gergedan, Metis Çeviri, Kalın, Nokta, Gösteri und Adam Sanat widmeten sich Kunst, Geschichte, Politik und Literatur. Unter all den in der Ausstellung vorgestellten Zeitschriften sticht Sokak [Straße] besonders hervor. Mit seiner dissidentischen redaktionellen Ausrichtung beeinflusste die Wochenzeitung Sokak die alternativen Bewegungen der Periode durch ihre provozierenden Überschriften. 1989 und 1990 bemühte sich Sokak mit der Sektion "Kenne deine Rechte" darum, ein demokratisches Bewusstsein der Bürger für rechtliche Restriktionen und Verfassungsbrüche zu entwickeln. Außerdem verdienen Texte über die Literaturszene in einer anderen Sektion der Ausstellung Aufmerksamkeit, denn sie verdeutlichen Trends und illustrieren, wie die Mechanismen der Zensur in den 1980er Jahren funktionierten.
Die Zensur in den 1980ern war auch im Falle des Kinos nicht viel anders. 1983 erhielt Hakkari'de Bir Mevsim [Eine Saison in Hakkari] auf dem Berliner Filmfestival Berlinale vier Auszeichnungen, doch in der Türkei wurde der Film mit Berufung auf den Ausnahmezustand verboten. Ein Ausschnitt daraus ist in der Ausstellung zu sehen. Es kann gesagt werden, dass es im Filmschaffen jener Zeit um das Alltagsleben, psychologische Subtexte, Frauen sowie um "andere" sexuelle Ausrichtungen geht. In diesem Kontext ist die in die Ausstellung einbezogene komplette Version von Anayurt Oteli [Ömer Kavur, 1986; Hotel Mutterland] ein hervorragendes Beispiel für ein Filmschaffen, das sich einer gewöhnlichen Geschichte mit introvertierter und psycho-sexueller Dynamik widmet. Der Antiheld des Films, Zebercet, kann als Widerspiegelung einer Gesellschaft interpretiert werden, die mit den "Gespenstern der Vergangenheit" und "Zukunftsängsten" zu leben hat.
Wenn ich auf meine naiven und glücklichen Kindheitsjahre in den 1980ern zurückblicke, erinnere ich mich, wie ich ausgelassen zu Petr’oil tanzte, dem Beitrag von Ajda Pekkan zum Eurovision Song Contest 1980, erstaunt der Eiskunstlauflegende Katarina Witt zusah, an den Silvesterabenden Bingo spielte, mich sonntags bei Programmen klassischer Musik im Fernsehen tödlich langweilte, über die VHS-Aufnahmen von bunten Abenden neben meinen Eltern lachte (ohne zu wissen, worum es bei den Witzen ging) und mich durch die erotischen Sendungen des ersten türkischen Privatsenders Star 1 erregt fühlte. Die Bezüge zu 1993 - dem Jahr, bis zu dem How did we get here reicht - bedeuten auch für mein eigenes Leben einen Wendepunkt. All die süßen Erinnerungen meiner Kindheit endeten mit dem, was durch die Nachrichten ging: die Ermordung des Journalisten Uğur Mumcu in Ankara, das Massaker an alevitischen Dichtern, Schriftstellern, Musikern in Sivas… Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, fallen mir nur zwei Worte ein: Rekurrenz und Zügellosigkeit…
Bora Gürdaş
Kunsthistoriker und -Kritiker. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Kunstgeschichte, Hacettepe Universität, Istanbul, wo er promovierte.
Archivmaterialien, u.a. Magazine, Plakate, Fotografien, Videos und Filme.
In der Ausstellung Werke von:
Halil Altındere
Serdar Ateşer
Aslı Çavuşoğlu
Barış Doğrusöz
Ayşe Erkmen
Esra Ersen
Hale Tenger
Recherche:
Merve Elveren und Erman Ata Uncu
Visualisierung: Esen Karol
Die Ausstellung ist Teil des Programms: "The Uses of Art – the Legacy of 1848 and 1989" von L'Internationale.
How Did We Get Here
3. September - 29. November 2015
SALT Beyoğlu und SALT Galata
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