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Künstlerische Interventionen in Kappadokien setzen sich mit der dortigen Landschaft, Felsarchitektur und vielschichtigen Vergangenheit auseinander. Von Fulya Erdemci & Kevser Güler, mit vielen Fotos.
Jun 2015Mit seiner außergewöhnlichen geologischen Struktur, monumentalen Landschaft und einzigartigen Felsarchitektur sowie seiner vielschichtigen Vergangenheit ist Kappadokien eine ganz besonders befrachtete Gegend. Außerdem befindet sich die Region in einem komplizierten Übergangsprozess von einer weitgehend landwirtschaftlichen Lebensweise und Lebensgrundlage zu einer auf Tourismus basierenden Ökonomie. Deshalb ist das von PozitifLive im Rahmen des Cappadox Festivals organisierte Cappadocia Struck Schritt für Schritt im Zuge der Herausbildung eines besseren Verständnisses dieser intensiven Geographie komponiert worden.
Die Ausstellung wurde in der Uçhisarlı Çarhacı Mustafa Effendi Villa und in dem Gebäude-"Komplex" realisiert, der exemplarisch für die hybride Architektur von Uçhisar und dessen Siedlungen steht, die durch einen nahezu organischen Prozess entstanden sind, indem sie sich den Konturen der Topographie anpassten. Aus diesem Grund fungierte der Komplex aus Gebäuden, in dem Natur und Architektur sowie verschiedene historische Momente ineinander fließen, als unmittelbar beteiligter Akteur, statt nur ein Veranstaltungssort zu sein.
Wie die Ausstellung selbst, so waren auch die Projekte der Künstler auf ein Stadium des Werdens ausgerichtet. Deshalb galten die künstlerischen Produktionen als Gesten, denn sie bezogen sich auf Unmittelbarkeit, Spontanität und das Unfertige, das ihren Antworten auf Kappadokien entsprach. Indem sie einen Raum für die Verständigung über die Ausdrucksweisen künstlerischer Imagination bei der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ort öffneten, schufen die Künstler neue Projekte, fokussiert auf die Geographie, Architektur und Siedlungen zusammen mit den Formen des Wohnens in der Gegend. In seinem in einer Felsenhöhle projizierten Schattenspiel brachte Christoph Schäfer nicht nur seine Faszination für die Körperlichkeit der durch das Behauen von Felsen entstandenen Architektur und die Gestaltung der Stadt durch menschliche Körper zum Ausdruck, sondern fasste die Höhlenstadt auch als eine praktische Kritik urbaner Planung auf. Bei Ornamentation - Uçhisar ließ sich Cevdet Erek durch die lokale Klanglandschaft inspirieren und erkundete den akustischen Charakter der Vielfalt von Räumen, in denen unterschiedliche Architekturformen koexistieren. Zu seinen auf Mustern basierenden Rhythmen fügte Cevdet die Geräusche von Tauben hinzu, einem seit Jahrhunderten wesentlichen Element der Region. Statt diese bloß aufzunehmen, imitierte Cevdet das Flügelschlagen der Tauben durch das Zusammenklappen eines kleinen Notebooks.
Murat Şahinler und seine Mitarbeiter Can Altıneller, Engin Büke und Yakup Çetinkaya beschäftigten sich mit geologischen Prozessen und Transformationen der Region, durch welche die gegenwärtige physische Umwelt entstand, und präsentierten eine Art des "Modellierens" durch die Umgestaltung alltäglicher Gegenstände wie dem "Stundenglas aus Asche", Lavaströmen, Feuerwerksraketen und dem "hausgemachten" Vulkan. Aufbauend auf solchen Gedankenverknüpfungen wie der zwischen dem Anzünden eines Streichholzes und dem Urknall assoziierten sie solche natürlichen Prozesse wie die Herausbildung des Universums, die Dynamik von Ausbreitung und Kontraktion sowie Vulkanausbrüche mit sozialen Prozessen.
Es gab Projekte in direktem Kontakt mit der Geographie. Ayşe Erkmen schuf eine Intervention auf der Burg von Uçhisar, dem höchsten Punkt und größten, märchenhaften Schornstein der Region. Sie platzierte dreifarbige Kugeln in den Löchern an der Burg und schuf so einen Kontrast zur organischen Form und monochromen Farbe der Felsarchitektur und hob deren skulpturale Erscheinung, Ausmaß sowie die natürlichen und kulturellen Prozesse hervor, durch die sie eine derartige Gestalt erhielt. Maider López realisierte im Zemi-Tal eine performative Aktion. Sie stellte 25 Leute zunächst auf 25 Flügel, und dann versammelten sich diese Leute auf nur einem einzigen Hügel und gaben der Landschaft eine menschliche Dimension. Zwei weitere Projekte von Maider standen ebenfalls zur Geographie in Beziehung. Disappearing visualisierte unsere Erfahrung unter solchen spezifischen geographischen Bedingungen an sich, während Moving Stones den performativen Gang der Künstlerin durch Uçhisar dokumentierte und sich auf die unsichtbaren Veränderungen der Landschaft sowie auf das ständige Bewegen von Steinen für das Bauen, die Spekulation oder das Machen von Kunst bezog. Ein weiteres, direkt mit der Geographie verbundenes Projekt war die Erforschung der Flora von Kappadokien durch Özge Önderoğlu Akkuyu & Emin Naci Akkuyu. Als Özge nach Nevşehir zog, fing sie an, Fotos von den Pflanzen als den "Unsichtbaren von Kappadokien" zu machen, und dieses Bemühen erweiterte sich zu einer regelrechten Forschung.
Hera Büyüktaşçıyan, Nilbar Güreş und Murat Germen bezogen sich auf die sozioökonomischen und politischen Bedingungen der Region. Hera ging vom historischen Fall der griechischen Gemeinde aus, die wegen des 1923 zwischen der Türkei und Griechenland vereinbarten Abkommens für einen Bevölkerungsaustausch gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Das Werk entlehnt seinen Titel der in den Eingang der Villa von Serafim Rizos in Sinasos (Mustafa Pascha) eingravierten Inschrift "Und gehört niemals niemand", was sich auf die Myriaden von Leuten bezieht, die in Anatolien wohnten. Nilbar Güreş widmete sich in einem der Räume der Villa den Spuren festgelegter Geschlechterrollen. Während ihres Arbeitsbesuchs stieß sie in einem Souvenirladen, den eine Produzentengemeinschaft aus Frauen der Region führt, auf ein Geschäftsbuch. Sie gab nicht nur spezielle Stickereien für ihre Installation in Auftrag, sondern bat auch darum, dieses Geschäftsbuch präsentieren zu dürfen, um eine Sicht auf das Modell basisdemokratischer Wirtschaftsorganisationen zu ermöglichen. In seinen bewegten Bildern, artikuliert in drei Kugeln als untere, mittlere und obere Welt in Anlehnung an die spezifischen Wohnungen der Region, hinterfragte Murat Germen das abwegige Bild von Kappadokien, das verschiedenen Formen der Konsumskultur darbieten, und erkundete Möglichkeiten alternativer Sehweisen.
Die Ausstellung fand im Rahmen eines Musikfestivals statt und präsentierte auch eine Arbeit, bei der es um Musik als konzeptuellen Kommentar ging. Inspiriert durch den Monochord des Pythagoras erfand John Körmeling den Frogsichord, eine Erweiterung durch zwei Tastaturen, bei dem die Töne auf dem Zählen und der Lautstärke basieren. Das zweite Konzert von Charlemagne Palestine mit dem Instrument fand im Bağlıdere (Liebes-) Tal statt.
Wie Yorgo Seferis in den 1950er Jahren in seinen Notizen über Reisen nach Kappadokien schrieb, ist es merkwürdig zu sehen, wie sich die Geographie in dem Landstrich vor dem Berg Erciyes verändert. Cappadocia Struck bemühte sich um eine Teilhabe an der "romantischen" Ehrfurcht vor dieser so außergewöhnlichen Landschaft, indem verschiedene Möglichkeiten, sie heutzutage wahrzunehmen und zu erfahren, aufgezeigt wurden.
Cappadocia Struck
16. - 31. Mai 2015
Cappadocia, Nevşehir, Türkei
Kuratorin: Fulya Erdemci
Assoziierte Kuratorin: Kevser Güler
Künstler, Mitarbeit und Recherche:
Ayşe Erkmen, Cevdet Erek, Christoph Shaefer, Hera Büyüktaşçıyan, John Körmeling & Charlemagne Palestine, Maider Lopez, Murat Germen, Murat Şahinler in Zusammenarbeit mit Can Altıneller, Engin Büke und Yakup Çetinkaya, Nilbar Güreş und Özge Önderoğlu Akkuyu & Emin Naci Akkuyu
Orte:
Ausstellung: Uçhisarlı Çarhacı Mustafa Effendi Gebäude"komplex".
Experimentelle Musikdarbietung: Bağlıdere (Liebes) Tal
Minimalistische Intervention: Burg Uçhisar
Initiator/Veranstalter: