Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.
Golshiri über sein Interesse für Begräbnisse und Gräber. Er reflektiert über Politik des heiligen Bodens und schildert einige seiner Grabmale auf Friedhöfen und im White Cube.
Jan 2015Keine menschliche Aktivität ist so vielfältig und alt wie das Leichenbegräbnis und die Ausstattung von Grabstellen. Nahezu alles was wir über die sehr frühen Zeitalter wissen, basiert auf Gräbern und Urnen. Vor allem durch diese menschlichen Manifestationen verstehen wir, was die Denkweise der Leute beherrschte, zum Beispiel welche prähistorischen Glaubensvorstellungen und Praktiken es gab. Wo keine historischen Aufzeichnungen vorhanden sind, können wir aus den Gräbern unsere Schlüsse ziehen: die Art, wie die Menschen ihre Verstorbenen beisetzten, die Ausrichtung der Körper, die Grabbeigaben, die sie zusammen mit den Toten vergruben, wie sie die Grabstellen markierten und anderes mehr. Verglichen mit dieser Geschichte ist die Kunstgeschichte eine sehr junge Disziplin.
Aber man müsste blind sein, um nicht zu sehen, was diesen beiden Gebieten gemein ist. Friedhöfe könnten als "hochgradige Bildungsorte" angesehen werden, denn Bildung basiert auf Erinnerung, und Wissen auf Akkumulation. An keinem anderen Ort als den Friedhöfen kann man in einer einstündigen Tour eine umfangreichere Geschichte der Architektur besichtigen. Diese architektonischen Phasen sind nicht notwendigerweise an ihren geographischen Kontexte gebunden. So wurde zum Beispiel der New Yorker Greenwood Cemetery erst 1838 eingerichtet, vereint jedoch Formen der Architektur und Kunst aus Jahrhunderten. Friedhöfe zeugen auch von Unglücken und Katastrophen von Gesellschaften und beherbergen Gedenkstätten für nationale Helden und Persönlichkeiten. Diese Räume sind Heteropien der Zeit für die darin befindlichen Objekte und Leute aller Epochen und vielfältiger künstlerischer und architektonischer Stile an einem realen Ort. Es gibt nur noch einen anderen architektonischen Raum, der in diesem Sinne funktioniert: das Museum. Auch Museen umspannen alle Zeiten und Epochen in einem immobilen Raum, und es ist üblich, dass die im Besitz eines Museums befindlichen Objekte intakt bleiben, was ebenfalls auf den Friedhof zutrifft. Friedhöfe und Museen sind öffentliche Räume, und in jüngerer Zeit sind sie in vielen Ländern zu von der Allgemeinheit genutzten Grünflächen geworden. In Iran ist das allerdings nicht der Fall.
Wie viele andere öffentliche Plätze, unterliegen Friedhöfe strengen Regeln, sowohl geschriebenen wie ungeschriebenen. Ein naheliegendes historisches Beispiel ist Bêhêsht-ê Zahrâ im südlichen Teil des Hauptstadtgebiets von Teheran, der größte Friedhof in Iran. Dieser Friedhof spielt eine unübertroffene Rolle in der zeitgenössischen Geschichte und Politik Irans. Als Ayatollah Khomeini am 1. Februar 1979 siegreich in den Iran zurückkehrte, fuhr er direkt zu diesem Friedhof und sprach inmitten der Revolutionäre, Märtyrer, Verstorbenen, der unbeschädigten Mausoleen, zerbrochenen Grabsteine und nicht gekennzeichneten Gräber zur Nation. Inmitten dieser Grabstätten wandte er sich gegen das Regime des Schahs und den neuen Premierminister und dessen Administration. Neben den Anhängern des Ayatollahs liegt Irans Geschichte in der Erde des Friedhofs: darin befinden sich die sterblichen Überreste von den Märtyrern des Irak-Iran Kriegs bis zu solchen Dissidenten wie denen der Volksfedajin-Guerilla Iran (Bild 1), einer radikalen, 1971 entstandenen marxistisch-leninistischen Bewegung, die sowohl gegen den Schah wie auch gegen die Islamische Republik kämpfte; Mitglieder der Tudeh-Partei des Iran (Partei der Massen); die Volksmodschahedin des Iran; Sakineh Ghasemi alias Pari Bolandé, die legendäre Prostituierte des Schah-Regimes, Kinostars, Sportler, Ahmad Shah, der König der Kadscharen und dessen Frau, Reza Shahs letzte Ehefrau Sa’eed Emami, eine der treibenden Kräfte der massenhaften Ermordung von Intellektuellen, und seit jüngerer Zeit auch die Opfer der Grünen Bewegung. Kein anderer Raum umspannt eine solche Vielfalt. Obwohl sich diese Liste unendlich fortsetzen ließe, gibt es auch jene, die von dem heiligen Boden verbannt sind, damit die als Ungläubige und Abtrünnige geltenden nicht die Ruhestätte von Muslimen beschmutzen.
Etwas zu diesem Ort beizusteuern, kann nicht mit anderen künstlerischen Arbeiten verglichen werden. Einer meiner Beiträge zu dieser monströsen Anhäufung von Grausamkeit, Mitgefühl, Freude und Verrat hat mit der Grundidee eines Grabsteins zu tun. Ich musste dazu verschiedene Gesetze umgehen und neue einführen. Das Grab ohne Titel war für einen Mann gemacht, dem kein Grabstein zugestanden wird. Grabsteine solcher Leute werden systematisch zerbrochen, und im ganzen Land gibt es viele anonyme Gräber, die den Freunden, Gefährten und Familien der Verstorbenen selbstverständlich bekannt sind. (Bild 4 & Bild 5)
Die Familie von Mim Kâf Aleph erteilte mir einen Auftrag, und gemeinsam dachten wir über etwas nach, das nicht zerstört werden kann. Aber was kann man überhaupt machen, wenn sogar die riesige Gedenkstätte von Dr. Mohammad Mossadeq zerstört wurde: Mossadeq, der demokratisch gewählte Premierminister des Iran von 1951-1953, dessen Regierung durch einen vom britischen MI6 und der US-amerikanischen CIA gesteuerten Staatsstreich gestürzt wurde, hatte sich gewünscht, in der Nähe der Märtyrer des 30Tir [1] auf dem Êbn-ê Bâbêvayh Friedhof beigesetzt zu werden. Der Schah lehnte diese Bitte ab, und sein Körper ist kurzerhand im Boden seines Grundstücks vergraben worden. Selbst nach der Revolution wurde sein Wunsch nicht erfüllt, doch anlässlich des Jahrestages des 30 Tir errichteten Mitglieder der Partei der Iranischen Nation (deren Führer, Dariush Forouhar, ebenfalls ein Dissident und Aktivist, und dessen Ehefrau Parvaneh Eskandari wurden während der Serienmorde 1998 brutal umgebracht und in Bêhêsht-ê Zahrâ beigesetzt) ein Ehrenmal für ihn am Begräbnisort (Bild 6). Nicht einmal eine Woche später war die Gedenkstätte anscheinend von einem Bagger oder einer ähnlichen Maschine niedergerissen und dem Erdboden gleich gemacht worden. Jetzt, da es zerstört ist, sieht das abgerissene Ehrenmal wie ein Zenotaph aus, ein Grab ähnliches Denkmal für jemand, der irgendwo anders begraben wurde. (Bild 7)
Jedwede dauerhafte Grabinschrift für Mim Kâf Aleph hätte seine Familie in Gefahr gebracht. Deshalb ist mein Grab ohne Titel zu seinem Gedenken ephemer angelegt. Es ist eine Schablone in zwei Teilen, die von der Familie jederzeit mitgenommen werden kann. An der Stelle des Grabes platziert, wird Ruß darüber gestreut. Dadurch zeichnet sich der Text ab, der je nach Stärke des Windes in ein paar Tagen weg geweht ist. (Bild 8 & Bild 9) Das ist nicht nur gegen den status quo des Friedhofs gerichtet, sondern setzt sich auch über das hinweg, was konventionelle Grabsteine bieten, nämlich die Dauerhaftigkeit von etwas, dass eigentlich für unsere Vergänglichkeit steht. Grabsteine funktionieren als eine Vanitas, die nur den Tod darstellt und unsere Vergänglichkeit symbolisiert, aber deren eigene Körperhaftigkeit soll angeblich nie vergehen und sich sogar möglichst nicht verändern. (Bild 10)
In einem Sarkophag, was wörtlich "Fleisch verzehrend" bedeutet, soll sich der Körper zersetzen, doch das Objekt selbst soll intakt bleiben. Doch mein Sarkophag für Chohreh Feyzdjou, eine iranische Künstlerin, die in Paris lebte und starb, ist jetzt am Verschwinden. Die Notwendigkeit, etwas zu durchdringen, war wesentlich für Feyzdjous Schaffen. Der körperliche Aspekt von Kunst war für sie nicht sekundär, und Spuren von Lebendigkeit sind in ihrem Werk eliminiert worden. Da der Prozess des Todes der Prozess der Metamorphose selbst war, ist Concession Éphémère als ein sich langsam veränderndes, ephemeres Grabmal gemacht worden, ein Sarkophag, der nicht aus Stein besteht, sondern aus Wachs, Walnussfarbstoff und Ruß sowie aus postumen Überbleibsel des Schaffens von Chohreh Feyzdjou, nämlich Kokosnussfasern, die sie verwendete, um Haare darzustellen. Mit all dem, was die Künstlerin oft benutzte, wurde ein sich langsam zersetzender Sarkophag auf ihr Grab auf dem Pantin Friedhof in Paris gestellt. (Bild 11)
Aber nicht alle Ehrenmale sind Begräbnisstätten. Zenotaphe (Scheingräber) enthalten keine Körper und markieren auch keine Ruhestätten von Verstorbenen. Die meisten Grabmale, die ich gemacht habe, können als Zenotaphe wahrgenommen werden: Zenotaph für Jan Van Eyck, der in der Kathedrale von Saint Donatian beigesetzt wurde und später durch die Franzosen abhandengekommen ist; La Petite Mort de Sade, eine Gedenkstätte für Donatien Alphonse François de Sade; Grabstein für den ermordeten Übersetzer von Borges, Todesurteil (ein Denkmal für Ezzatollah und Haleh Sahabi und Hoda Saber) [2], Zenotaph für Arin Mirkan [3], und so weiter. Ahmad Mir-Alaei hat als erster Werke von Borges ins Persische übersetzt. Am 24. Oktober 1995 ging er am Morgen 7:45 Uhr von zu Hause weg zu einem Treffen um 8:00 Uhr in seinem eigenen Buchladen, doch kam er nie dort an. Er sollte um 14:00 Uhr desselben Tages eine Rede an der Medizinischen Schule halten. Aber der Vortrag wurde aus unbekannten Gründen abgesagt. Nachts um elf meldete die Polizei den Fund eines Körpers und forderte die Familie des Opfers auf, wegen der Identifizierung zur Dienststelle der Polizei zu kommen. Als Todesursache wurde Herzstillstand angegeben. Im Iran ist sein Name mit Borges verbunden. Wie so viele Serienmorde an iranischen Intellektuellen, ist sein Fall ein ungelöstes Puzzle geblieben. Berichten zufolge ist der Übersetzer von Sicherheitskräften verfolgt und sogar festgenommen und zum Verhör in ein Hotel gebracht worden. Sein Körper wurde im Jolfâ Distrikt von Isfahan gefunden. Man behauptete, eine halbleere Flasche selbst gebrannten Wodkas und Zigaretten hätten neben seinem Körper gelegen und sein Arm hätte Einstiche aufgewiesen. Sein Magen hatte den aufgenommenen Alkohol nicht verdaut, denn er war schon lange zuvor tot. (Bild 12)
Friedhöfe sind dazu da, die im Exil Lebenden, die Bewohner einer Heterotopie, zu zähmen. Ihre Regeln dienen dazu, Tot, Ermordung und Exekution harmlos erscheinen zu lassen. Meine größte Intention besteht darin, das zu ändern, doch wenn meine ephemeren Interventionen Eingang in solch einen ganz anderen Raum wie ein Museum finden, verlieren sie ihre Macht. Dort sind Konservatoren, Restauratoren und Kuratoren, um sie zu kurieren, sie dauerhaft zu machen, sie Skulpturen zu nennen, denn in ihrer engen Klassifizierung stehen ihnen keine anderen Begriffe zur Verfügung.
Anmerkungen:
Barbad Golshiri erläutert, warum er sich für Begräbnisse interessiert und Grabmale schafft.
Er reflektiert über Politik des heiligen Bodens und schildert einige seiner Grabmarkierungen auf Friedhöfen und im White Cube.