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Greffer, Espalier, Dresser. Ausstellung in L’appartement 22, Rabat, 25. Juni - 30. September 2014. Kuratorialer Text und Fotos.
Von Emma Chubb | Jul 2014Greffer: Aufpfropfen, veredeln, okulieren. "Etwas einfügen oder in oder auf etwas befestigen, um eine vitale oder unlösliche Einheit zu erzeugen."
Espalier: Spalier, Rankgerüst. "(Eine Pflanze) wird an einem Rankgerüst hochgezogen; etwas durch ein Spalier stützen. Auch figurativ."
Dresser: Dressieren, zähmen, bändigen. "Die Wildheit oder Heftigkeit (eines Menschen, Tieres oder Dinges) bändigen; unterwerfen, bezwingen, zügeln; sanft, geschmeidig oder fügsam machen." [1]
Der Titel von Mohssin Harrakis neuer Werkgruppe und gleichnamiger Ausstellung in L’appartement 22 ruft botanische Bilder hervor und impliziert etwas, das als eine vereinfachte Beschreibung von Gartenbau gelten könnte: Pflanzen aufeinander pfropfen und zu ihrem Halt an ein Spalier binden. Mit anderen Worten, sie gefügig machen. Der Mensch triumphiert über die Natur und bringt sie dazu, das ganze Jahr über und auch außerhalb der Saison unübliche Früchte zu tragen.
Greffer, Espalier, Dresser ist eine Installation aus dreiunddreißig Zeichnungen und Harrakis erste Arbeit, seit er nach Marokko zurückkam. Im Januar 2014, nach sieben Jahren in Frankreich, wo er Studienabschlüsse in Toulon und Dijon machte, bevor er nach Paris zog, kehrte er in seine Heimatstadt Asilah an der nördlichen Atlantikküste Marokkos zurück und richtete sein Atelier in einem früheren Restaurant ein. Harraki, der 2007 das Institut des Beaux Arts in Tétouan absolvierte, gehört zu dem Kreis, den Abdellah Karroum theoretisch als die "Generation 00" definierte, wozu solche Künstler wie Mustapha Akrim, Yto Barrada und Younès Rahmoun sowie Karroum selbst zählen. [2]
Was Harraki Zeichnungen nennt - in Französisch dessins, in Arabisch rasūmāt - sind tatsächlich drei eineinhalb Quadratmeter große Eisenplatten, die wie Gemälde an den Wänden von L’appartement 22 hängen, und dreißig mit Spiralen zu einem Skizzenbuch gebundene Seiten aus Eisen, präsentiert wie eine Skulptur auf einem hohen Holztisch bzw. Lesepult. In formaler Hinsicht sind die Werke Hybride: die großen Tafeln sind verschiedenartig geätzt, geschliffen, geschweißt, erodiert und bemalt, und auf den Seiten des Skizzenbuchs kombinierte der Künstler Collage, Malerei und Radierung. Die etymologischen Wurzeln von grafting [im engl. Original = Veredelung, Aufpfropfen - Anm.d.Ü.] liegen im Lateinischen graphium - Griffel, Schreibstift -, und der schwierige Prozess des Zeichnens auf großen Eisenplatten bedeutet, dass auch diese Werke okuliert, mit einem Gitter stabilisiert und gezähmt worden sind. Harraki benutzte Schleifmaschine, Schneidbrenner und Säure, um auf die drei Eisenplatten zu zeichnen, die auf einem großen Metallrahmen (vergleichbar dem Spalier) befestigt werden mussten, damit sie sich nicht verdrehen oder wellig werden. Man sagt, ein Künstler meistert eine Technik, aber man könnte auch sagen, er zähmt sein Material. Oder versucht dies.
Für Harraki bedeuten die botanischen Metaphern veredeln, an ein Spalier binden und bändigen einen Weg der Anpassung, um über patrilineale Geschichte und deren Übertragung nachzudenken, Themen, die seit 2010 im Zentrum seines Schaffens stehen und die eine wichtige Verbindung zwischen Harraki und seiner Künstlergeneration ausmachen. Weil Geschichte lange auf die Genealogien herausragender politischer und religiöser Persönlichkeiten aufgepfropft wurde, bietet der Familienstammbaum dem Künstler eine Möglichkeit, den Prozess unnatürlicher Selektion - d.h. Manipulation und Ausschluss - zu untersuchen, der ihm zugrunde liegt. Doch unter Harrakis Händen wird dieser Stammbaum weitaus umfassender als seine standardisierte Darstellung in Schulbüchern, Abstammungstafeln oder Biographien. Obwohl viele Zeichnungen die Form des Baumes beibehalten, ist andererseits in den klaren, tief in die Oberfläche des Eisens eingeschnittenen Linien jedweder organische Bezug verlorengegangen. In diesen Zeichnungen wird der Familienstammbaum zu einem bürokratischen Diagramm oder einer strikt gezeichneten Grafik, was vielleicht ein Hinweis auf die Administration von Geschichte und Institutionen - besonders Bildungseinrichtungen - ist, die ihn stützen.
Wie technische Zeichnungen und Diagramme ist der Familienstammbaum gerade wegen seiner Fähigkeit von Nutzen, komplexe menschliche Beziehungen in linearer Form darzustellen. Auch das ist eine Art der Bändigung, eine die sich darum bemüht, soziale, historische und politische Bedingtheiten in zweidimensionalen Kurven, abhängigen Variablen und verallgemeinernden Theorien deutlich zu machen. Aber die grafische Einfachheit von Harrakis Baum ist trügerisch, und es sind Ungewissheit und Hybridität, die seine Zeichnungen charakterisieren. Keine Nachnamen erscheinen hier. Nur Vornamen sind in der Art von Untertiteln in die Ecken der Tafeln oder auf die Ränder der Seiten geschliffen. Es tauchen auch Jahreszahlen auf, alternierend zwischen den im Maghreb üblicherweise benutzten arabischen Ziffern und der arabischen-indischen Schreibweise, die im Maschrek vorherrscht. Doch ist nicht näher angegeben, worauf sich die Daten beziehen und ob die runden oder ovalen Knotenpunkte einen Bereich markieren, in dem ein Name erscheinen soll, oder ob es sich dabei vielmehr um die Spur seiner Auslöschung (mit der Schleifmaschine) oder Schwärzung (mit Farbe) handelt. So oder so bietet Harraki keinen Hinweis darauf an, welcher Name zu welchem Zweig gehört. Diese Mehrdeutigkeit, wer zuerst kommt und wer wen zeugte, lässt den Grad erkennen, bis zu dem Harrakis Familienstammbaum nicht in der Lage ist, die Information und Richtung zu vermitteln, die man davon eigentlich erwartet. Und weil sich außerdem viele Namen auf den Tafeln und dem Skizzenbuch wiederholen, ist der Zweck des Benennens - als eines Mittels, ein Individuum zu bezeichnen und es von anderen Individuen zu unterscheiden - hier als irrelevant wiedergegeben.
Und ja, all die Vornamen, die auf den geschweißten, geschliffenen und bemalten Oberflächen von Greffer, Espalier, Dresser erscheinen, sind unzweifelhaft männlich. Dies hat teilweise mit der Abwesenheit von Frauen in Harrakis Quellenmaterial zu tun, zu dem die Gründungsdaten einiger politischer Parteien in Marokko, Mitgliederlisten der Istiqlal und alte Handbücher für angehende Polizeioffiziere gehören. Und es spiegelt die historische Realität wider, dass selbst nach der Überarbeitung des Familiengesetzes des Landes 2004 marokkanischen Frauen nur begrenzte Erbschafts- und Namensrechte zugebilligt werden. [3] Hier treibt Harraki die marginale Position von Frauen in der nationalen wie der familiären Geschichte zum Äußersten, indem er die Frauen allesamt ausklammert und den phallokratischen Grundton eines ganz und gar männlich generierten und generierenden Stammbaums in den Vordergrund rückt. Diese Stammbäume ohne Frauen als unnatürlich zu beschreiben, würde zugleich die Gefahr bedeuten, die seit langer Zeit bestehende Identifikation des Männlichen mit dem Sozialen und Politischen und des Weiblichen mit Natur zu reproduzieren. Vielmehr birgt Harrakis pointierter Ausschluss von Frauen im Kontext seiner Beschäftigung mit den Prozessen und Mächten von Geschichte die Frage in sich: inwieweit funktioniert der Familienverbund als Ort der Verwurzelung und Verstärkung offizieller Geschichte (al-ṭārīkh al-rasmī), statt als deren Relativierung. Außerdem ergibt sich aus der physischen und chemischen Kraftanstrengung, die notwendig ist, um die eisernen Oberflächen zu bearbeiten, zu verstärken und zu bändigen - Elektrowerkzeuge, Säuren, ein Schweißgerät und speziell angefertigte Geräte sind dazu nötig - noch eine andere Frage: welche Gewalt steht hinter solchen rein männlichen Stammbäumen und der Geschichte, die sie übermitteln?
Aufpfropfen hat auch eine biologische Bedeutung, indem der Begriff eine technisch fortgeschrittene medizinische Antwort auf eine akute Verletzung bezeichnet. Daher kommt seine chirurgische Definition: "Etwas (ein Stück Haut, Gewebe, etc.,) in einen anderen Teil des Körpers oder von einem Tier zu einem anderen verpflanzen." [4] Wenn dies gelingt, sind die auf dem Körper hinterlassenen Markierungen nicht nur Narben einer überstandenen Verletzung, sondern Spuren - Zeugen - des Überlebens des Patienten. Letztendlich ist es eine Prozedur, die heilen soll. Wir müssen in die Geschichte zurückblicken, um einen Weg nach vorn zu finden, sagte mir Harraki nach einem langen Tag, den wir damit verbrachten, seine Eisenzeichnungen an den Wänden von L’appartement 22 anzubringen. In anderen Worten ausgedrückt, müssen wir nicht einfach nur die Seite der Vergangenheit aufblättern, sondern uns vielmehr zu der beschwerlichen Aufgabe aufmachen, uns ihr und dem Veredeln, Abstützen und Zähmen dessen zu stellen, was sie kennzeichnet. Und so möchte ich zu Harrakis greffer, espalier, dresser ein letztes Verb, eine letzte Aufforderung, hinzufügen: Abhilfe schaffen, überwinden. Von den vielen Definitionen des Begriffs sollen hier zwei besonders erwähnt werden:
- Kurieren, heilen, lindern (eine Krankheit, Wunde, etc.). Auch figurativ.
- Die Balance und Varianten wiederfinden: Gleichgewicht wiederherstellen; eine ungleiche oder ungerechte Situation korrigieren oder einrenken. [5]
Abhilfe schaffen, überwinden. So könnte auf Marokkos Geschichte zurückgeblickt werden, um einen Weg nach vorn zu finden, zu heilen, zu erneuern.
Anmerkungen:
Emma Chubb
Presidential Fellow und Doktorandin in Kunstgeschichte an der Northwestern University (Evanston, IL USA) und ein 2016 Camargo Foundation Fellow.
Ausstellung kuratiert von Emma Chubb
(Curatorial Delegation)
Mohssin Harraki
Greffer, Espalier, Dresser
[Aufpfropfen, Spalier, Bändigen]
25. Juni - 30. September 2014