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Interview mit der Mitbegründerin Reem Gibriel über die positiven Erfahrungen mit einem Festival für Videokunst in Libyen.
Von Arwa Abouon | Mai 2014Die Arete Stiftung für Kunst und Kultur ist eine libysche NGO (Nicht-Regierungsorganisation), die sich darum bemüht, kulturelle und künstlerische Leistungen im Land zu präsentieren und zu fördern. Die von Reem Gibriel, Khaled Mattawa und Nedal Swehli gegründete Initiative soll auch den künstlerischen und kulturellen Austausch beleben.
Die libysch-kanadische Künstlerin Arwa Abouon hat Reem Gibriel, die Geschäftsführerin von Arete, via Email interviewt.
Arwa Abouon: Die Ausstellung von Videokunst First Glance der Stiftung fand vor zwei Jahren zum ersten Mal statt. Welche Wirkung hatte sie?
Reem Gibriel: Die Leute waren von der Nutzung der Altstadt von Tripolis, den Gassen und dem Marktbereich, als Ausstellungsort beeindruckt. Das allein war schon neu. Die Idee von Kunst im öffentlichen Raum ist in Libyen neu - du wirst dich daran erinnern, dass den Leuten nichts anderes gezeigt wurde, als das Bild Gaddafis oder was auch immer ihm diente. Deshalb war die Nutzung des öffentlichen Raumes durch normale Leute für normalen Leute etwas Neues. Es war auch so, dass die Bewohner der Altstadt seit Jahren darum gebeten hatten, ihr Gebiet zu entwickeln. Sie wissen um dessen Pracht und dass es eine große Touristenattraktion werden könnte. Ihnen war bewusst, dass die Künste ein Weg sein könnten, das Gebiet aufzuwerten. Deshalb hießen sie uns willkommen.
Wir hatten die Videos zuvor einer Gruppe junger Leute gezeigt, und sie sagten uns Ihre Meinung über einige davon, von denen sie dachten, sie würden zu kontrovers sein oder könnten leicht missverstanden werden. Deshalb entfernten wir diese. Wir wollten keine unnötige Kontroverse provozieren. Wir wollten, dass die Leute die Altstadt genießen. Die Mittelklasse geht dort niemals hin, nicht einmal am Tage. Die Familien zeigen ihren Kindern einen der interessantesten Teile ihrer Stadt nicht. Wir wollten erreichen, dass die Leute die Altstadt mit Kultur, Jugend und Spaß assoziieren.
Arwa Abouon: Welche Hindernisse gab es auf dem Weg und was würdest du als deine größten Erfolge bezeichnen?
Reem Gibriel: Ich kann sagen, dass es beim ersten Mal überhaupt keine Hindernisse gab. Tatsächlich waren die Leute in der Altstadt sehr kooperativ und Ihre Vorschläge verbesserten unsere eigenen Ideen. Und weil uns schließlich so viele Leute halfen, wurde uns bewusst, dass wir den Umfang der notwendigen Arbeit womöglich unterschätzt hatten. Als wir davon träumten, war uns nicht klar, dass wir mindestens 30 freiwillige Helfer brauchen würden, um die Videos an den 9 festgelegten Stationen zu zeigen. Wir unterschätzen auch den Aufwand, der notwendig war, um die Ausstellung bekannt zu machen. Uns war nicht klar, wie aufwendig es sein würde, die Monitore aufzustellen und an den Strom anzuschließen. Und natürlich hatten wir eventuelle Stromausfälle nicht einmal in Betracht gezogen. Das passierte glücklicherweise nicht. Irgendwie fanden sich Lösungen für all diese Probleme. Und wir haben auch sehr hart gearbeitet.
Bei der zweiten Ausstellung im Jahr 2013 traten wesentlich mehr logistische Hindernisse auf. So wie im Jahr davor hatten wir die Veranstaltung für den frühen November geplant. Aber es gab einen Zwischenfall, bei dem eine Miliz 40 zivile Demonstranten tötete, und wir mussten den Event um drei Wochen verschieben. Dann regnete es einige Tage lang und ganz Tripolis war überschwemmt, insbesondere die Altstadt. Und dann gab es auch noch die Stromausfälle, die jeden verzweifeln ließen.
Letztendlich wechselten wir in die Rote Burg, die große Festung im Stadtzentrum. Es ist ein alter Ort, ein riesiger Palast mit vielen Bereichen unter freiem Himmel, so wie in der Altstadt. Deshalb war sie perfekt geeignet und viel leichter zu bewältigen. Die offizielle Verwaltung der Roten Burg war sehr gastfreundlich und stellte Sicherheitspersonal und einige Elektriker zur Verfügung, die eine hervorragende Arbeit geleistet haben.
Wir freuten uns sehr über den Erfolg. Erneut erschienen über 800 Leute. Die meisten von ihnen hatten die Rote Burg bis dahin noch nie betreten. Die Rote Burg war der letzte Ort, an dem sich Gaddafis öffentlich zeigte. Auch die Reaktion auf die Videos war großartig, besser als beim ersten Mal. Wir stellten Sound an, und in der Burg servierten wir heißen Tee und Kaffee. Die Besucher fühlten sich sicher und genossen die Kunstwerke und brachten ihre Familien mit. Wir begegneten neuen Leuten, die beim ersten Mal nicht da gewesen waren. Und bis zur letzten Minute regnete es nicht. Aber genau um 20:00 Uhr, der Schließzeit unseres letzten Tages, begann es zu gießen. Doch wir hatten uns vorbereitet und für einen solchen Fall schon im Jahr davor Regencapes gekauft, die wir jetzt an die Leute verteilten, die zu ihren Autos rannten. Es war toll.
In vielerlei Hinsicht bestand unser größter Erfolg sowohl dieses Mal als auch schon davor in dem Team von Freiwilligen, das wir zusammenbringen konnten. Wir stellten ihnen die DVD-Player, den Projektor und die Verlängerungen zur Verfügung. Beim zweiten Mal gaben wir Ihnen auch die Monitore, und sie installierten alles. Sie waren fantastisch - unabhängig und zuverlässig. Diese jungen Leute gefunden zu haben, gibt uns im Hinblick auf Libyen große Hoffnung.
Arwa Abouon: Videokunst ist für Libyen ein aufregendes neues Medium. Plant ihr in diesem Bereich Workshops für die Gemeinschaft oder soll dergleichen in die Schulen für jene Künstler eingeführt werden, die sich auf diese Weise ausdrücken möchten?
Reem Gibriel: Als wir begannen, bestand unser größtes Anliegen darin, etwas zu zeigen: der Jugend und den Künstlern Libyens eine neue Kunstform näherzubringen. Junge Leute hatten Kameras, und seit dem Beginn der Revolution gab es viele Workshops, bei denen vermittelt wurde, wie Dokumentationen erstellt werden und man basischen Graswurzel-Journalismus betreibt. Die technischen Fertigkeiten waren also nicht das Problem. Es ging jetzt vielmehr um das Fehlen von Ideen und Konzepten, und wir hatten das Gefühl, dass den jungen Künstlern unterschiedliche Ansätze nähergebracht werden sollten. Wir glauben auch weiterhin, dass dies das Hauptthema ist. Aber wir gewinnen jetzt auch den Eindruck, dass Präsentation und technisches Training kombiniert werden müssen. Da wir so schlecht mit Personal ausgestattet waren und vorher nur wenig Förderung zur Verfügung hatten, sind wir nicht in der Lage gewesen, uns der Ausbildung stärker zu widmen, aber das kommt noch.
Arwa Abouon: Werdet ihr euer Programm dahingehend ausweiten, dass ihr auch Aufenthalte für Künstler anbietet, die kommen und das Land erleben und dann Werke in Bezug auf die lokale Kultur und das dortige Leben schaffen?
Reem Gibriel: Wir planen durchaus, Künstler einzuladen, die Workshops geben und intensiv mit jungen Künstlern interagieren sollen. Die Situation in Libyen ist noch ziemlich instabil und die Erteilung von Visa kann etwas kompliziert sein. Deshalb können wir nicht als Gastgeber für Aufenthalte dienen. Aber wir sind eine Informationsquelle für viele Künstler und Journalisten. Sie erfahren etwas von uns, und wir helfen ihnen bestmöglich.
Arwa Abouon: In der Ausstellung First Glance habt ihr Werke von Künstlern aus anderen Ländern gezeigt. Wenn ihr solche Arbeiten auswählt, zieht ihr dabei auch die konservative Kultur Libyens in Betracht? Wie stark wollt ihr durch Kunst provozieren?
Reem Gibriel: Gegenwärtig ist es schon ein großer Erfolg, wenn es gelingt, die Leute aus ihren Häusern zu holen. Es ist für sie schon provozierend, wenn man versucht, sie dazu zu bringen, über die gegenwärtige Instabilität hinaus zu denken. Das muss man jetzt sogar mit jungen Menschen tun. Die Libyer denken intensiv über ihre gesellschaftlichen Problemen nach. Trotz ihres Leids und ihres Pessimismus sind sie für neue Gedanken offen. Wir finden, die richtige Balance für ein ausgelaugtes Volk besteht darin, es zu veranlassen, ins eigene Land zu investieren und darüber nachzudenken, wie um sie herum Schönheit geschaffen werden kann, denn genau das ist es, was sie brauchen. Jawohl, man will auch provozieren, aber ohne unnötige Kontroverse. Man muss den Menschen Kunst geben, die relevant und engagiert ist und Möglichkeiten einer Interaktion eröffnet. Wir möchten, dass sich die Leute stark genug fühlen, um kreativ zu sein, und nicht derart angegriffen, dass sie Barrieren aufbauen.
Arwa Abouon: Politische Themen und die Revolution vom 17. Februar waren die Hauptthemen der Videos, die entweder von Künstlern oder von den Medien aus Libyen verbreitet wurden. Gibt es neue Themen, die ihr durch diese Initiative aufgreifen möchtet?
Reem Gibriel: Gerade wegen der begrenzten Themen und Diskurse der Revolution wollten wir uns eben auf Darstellung fokussieren. Wie es scheint, wurde dem Regime die ganze Schuld gegeben, aber niemand sprach die Brüche in der Gesellschaft an, die es dem Regime überhaupt erst ermöglichten, die Bevölkerung in einer solchen Weise zu kontrollieren. Niemand hat die neuen destruktiven Kräfte antizipiert, die jetzt in Erscheinung getreten sind - den Extremismus, die Korruption, den Tribalismus, die ablehnende Haltung gegenüber der Freiheit der Frauen und die kriminellen Banden. Und selbst jetzt wagt niemand zu sagen, dass die Revolution womöglich gescheitert sein könnte.
Das Problem besteht darin, dass Künstler nach Konsens suchen, sich bemühen, eine akzeptable Idee für ihr Schaffen zu finden. Und fehlende intellektuelle Unabhängigkeit ist die größte Schwachstelle unserer kulturellen Szene und unserer Gesellschaft im Allgemeinen. Mit unserem Wunsch nach Einheit ersticken wir Unabhängigkeit. Wir müssen lernen, dass wir Unabhängigkeit und Einigkeit durchaus zusammen haben können, und wenn es keine kritisch denkenden Künstler gibt, dann wird man nicht in der Lage sein, die Probleme zu antizipieren, die für das Auseinanderbrechen der Gesellschaft verantwortlich sind. Wir möchten die Künstler ermutigen, ihrer Gesellschaft voraus zu sein und nicht hinter ihr her zu laufen. Und wir finden, dass diese Art von Wagemut durch Darstellung erlangt werden kann, dadurch, dass wagemutige und ambitionierte Kunstwerke gesehen werden, die tiefgreifende Fragen stellen.
Arwa Abouon: In ganz Nordafrika ist die Dichtkunst in der Kultur der Araber und Amazigh tief verwurzelt. Denkst du, dass dies in Form von Videokunst dargestellt werden kann? Und wer sind die bekannten libyschen Dichter und Autoren, die du gerne auf dem Bildschirm sehen würdest?
Reem Gibriel: In Libyen gibt es eine tiefe Trennung zwischen Dichtung und den Videokünsten. Die meisten jungen Leute, die sich für Videokunst interessieren würden, lesen keine arabische Dichtung, weder die volkstümliche oder die klassische. Vielleicht kennen sie Rap Songs in Arabisch und Englisch. Und das Bewusstsein der Dichter für die visuellen Künste ist durch die traditionellen Medien und Stile eingeschränkt. So sind sowohl die Dichter wie auch die jungen Videokünstler für diese Trennung verantwortlich zu machen. Die Dichter schreiben nicht über Themen, die für junge Leute von Bedeutung sind, und junge Leute bemühen sich nicht, ihre Gedanken und ihre Sprache zu vertiefen. Es wäre großartig, wenn beide zusammen kämen, aber das haben wir noch nicht gesehen. Du hast uns eine gute Idee gegeben. Dankeschön.
Arwa Abouon: In der Videokunst ist Performance weit verbreitet. Ist das allgemeine libysche Publikum offen für diese Art des Ausdrucks?
Reem Gibriel: Soweit wir sagen können, ist das junge Publikum offen für alles. Wir haben noch nicht viele Arbeiten der auf Performance beruhenden Videokunst gezeigt. Wir haben nicht viele gefunden, die in Arabisch sind und die wir verwenden könnten. Es kann sein dass wir uns noch nicht gut genug umgeschaut haben. Auf jeden Fall müsste die Performance in Arabisch sein, um eine Wirkung zu erzielen.
Arwa Abouon: Wer sind die normalen Besucher eures Festivals? Sind Frauen und Männer in etwa gleich vertreten? Ist das Festival familienfreundlich? Wie verschiedenartig ist euer Publikum?
Reem Gibriel: Junge Männer sind unabhängiger, und sie kamen. Viele warteten vor der Burg eine halbe Stunde vor der Schau. Es gab Gruppen junger Frauen, die zusammen gekommen sind, und es gab auch Familien. Ich würde sagen, das Publikum setzte sich aus etwa 40% Frauen und 60% Männern zusammen, was ziemlich gut ist, wenn man die angespannte Sicherheitslage bedenkt.
Arwa Abouon: Welches sind die verschiedenen Orte unter freiem Himmel, an denen ihr Präsentationen plant, und warum diese spezifischen Standorte?
Reem Gibriel: Wir würden gern wieder in die Rote Burg gehen und ebenso in die Altstadt. Doch würden wir auch unternehmungslustiger sein und in andere Teile von Tripolis gehen, vielleicht in die Randbezirke. Wir würden gern mehr Veranstaltungen für Kinder ausrichten, etwas, das Familien Spaß macht und bei dem sie fühlen, dass es ihren Kindern nützt. Das mag nicht unbedingt Videokunst sein, sondern Kurzfilme und vielleicht auch Animationen. Es sollte aber visuelles Material sein, das man üblicherweise nicht im Fernsehen vorgesetzt bekommt und das verschiedene Fragen stellt.
Arwa Abouon: Welche libyschen Nachwuchskünstler sollten wir kennen, die mit Videokunst arbeiten? Gibt es andere libysche Künstler, die wir zur Kenntnis nehmen sollten?
Reem Gibriel: Muhannad Ben Lamin, der in der Werbung arbeitet und Videos für den öffentlichen Bereich macht, hat begonnen, interessante Videokunst zu schaffen.
Arwa Abouon: Hofft ihr, diese Initiative auf das ganze Jahr auszudehnen, indem ihr ein spezifisches Zentrum oder Kino in Tripolis oder Bengasi einrichtet?
Reem Gibriel: Unser nun schon seit fast zwei Jahren existierender Filmclub in Tripolis ist ziemlich stark geworden. Demnächst werden wir den einhundertsten Film zeigen. Wir können uns glücklich schätzen, in Dar Al-Funun, The Art House, einen großartigen Partner zu haben, der es uns erlaubt hat, seine Galerie für Filmvorführungen zu nutzen. Wir würden schon gern einen Ort für Filmvorführungen und einen Raum für darstellende Künste nur für uns haben, aber das wäre derzeit zu viel verlangt. Und wir mussten unsere Aktivitäten auf Tripolis beschränken. Die Sicherheitslage in Bengasi ist schwierig gewesen, und wir konnten unsere Aktivitäten nicht nach dort ausweiten. Wir müssten in Bengasi eine solide Basis haben und was auch immer wir tun, muss der dortigen Situation angemessen und machbar sein.
Arwa Abouon
Visuelle Künstlerin, geboren in Tripolis, Libyen. Lebt in Montréal, Kanada.
Das Team:
Arete Gründer und Management:
Reem Gibriel
Khaled Mattawa
Öffentlichkeitsarbeit:
Wessal Gebril
Grafikdesigner:
Mohamed Bougshata
Logistik:
Aseel Mehdawi
Technische Koordination:
Mohamed Boro
Farouk Ashour
Koordination der Helfer:
Aburahman Sbeta
Mahmoud Wheshi
Helfer bei den Projektionen:
Mohamed Nattah, Suhaila Ahmed, Hasan Saad, Mohamed Al Yaseer, Hayam ben Jaber, Nada Abou Hmeda, Aya Burki, Mawada Burki, Enas Pach Agha, Anas Hgeeg, Anas Garni, Abullah Turki, Ali Zoghdani, Siraj Dayer Eleel, Waheeb Khaled, Bilal Treesh, Mohamed Yazji, Hisham Arifi, Mohamed Pach Agha, Shaker Gubtan, Omar Zmerli, Ahmad Bara, Abeer El Honi, Mahmoud Ben Mahmoud, Zinab Fazani.