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Über die spirituelle Dimension seiner Kunst und seine neuen Werke im öffentlichen Raum in La Forêt d’Art Contemporain, Frankreich.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Okt 2013Pat Binder & Gerhard Haupt: Auch wer dich nicht persönlich kennt, nimmt bei der Begegnung mit deinem Werk neben dem ästhetischen Genuss gleich auch eine sehr tiefe spirituelle Dimension wahr. Ist diese spirituelle Dimension ein Element, an dem du von Anfang an bewusst gearbeitet hast? Wie kam sie zustande und welche Rolle spielt sie in deinem künstlerischen Schaffen?
Younes Rahmoun: Bewusst habe ich sie nicht immer wahrgenommen, obwohl sie auf gewisse Weise schon da war, im Grunde bereits in meiner Kindheit, so etwa in einer Vorliebe für Materialien, die der Erde nahe sind, wie Stein, Holz und Wasser. Während meines Kunststudiums begann ich, mich mehr für die ästhetischen, formalen Aspekte der Kunst zu interessieren, und ich konzentrierte mich darauf, technische Fertigkeiten zu entwickeln und von der westlichen Kunst zu lernen - so wie es im Allgemeinen geschieht, wenn wir in der Ausbildung sind. In jener Zeit benutzte ich weiterhin "arme" Materialien natürlicher Herkunft. Nachdem ich die Kunst der Welt studiert hatte, richtete ich den Blick in den letzten beiden Jahren an der Schule, 1997 und 1998, wieder auf meine eigene Kultur. Im Grunde hatte ich diese immer irgendwie präsent, aber von da an bemühte ich mich um eine stärkere Einbeziehung dessen, was mich umgibt, sowohl in der Stadt - Tétouan mit dem andalusischen Einfluss, den gut gebauten Häusern und den Farben - wie auch auf dem Lande - dem Rif mit seinen Lehmhäusern, handgefertigten Materialien, etc. All das hat mich bei der Entwicklung meines Schaffens inspiriert. Und was mich in meinem Leben weiterhin begleitete, ist das Bemühen, mich den Leuten auf grundlegende, einfache Weise mitzuteilen, so dass alle verstehen können, was ich mache - ein Japaner genauso wie ein Afrikaner -, und Angehörige aller Kulturen etwas in meinem Werk finden, das ihnen vertraut ist.
B. & H.: Wodurch ist dir die Notwendigkeit der Rückkehr zu deiner eigenen Kultur bewusst geworden?
Y.R.: Schon während meiner Kindheit und Jugend ist das etwas gewesen, das mir immer am Herzen lag. Ich möchte offen sein, alles lernen, mich aber zugleich nicht verlieren. Und um mich nicht zu verlieren, muss ich wissen, "wohin ich meine Füße stelle". Ich möchte fliegen, die Welt von oben sehen, aber zugleich brauche ich ein Nest, einen Ort zum Ausruhen, einen Platz, an dem ich sicher sein kann. Das ist das, was meine Kultur mir ermöglicht, weil es in mir ist, in meinem Blut, und so bin ich immer ausgehend von meiner Kultur zu anderen Kulturen gereist, hin und zurück. Aber 1997-98 wurde mir bewusst, dass dadurch etwas Neues in meine Arbeit einfließen könnte, eine bereichernde Ingredienz.
B. & H.: Und die spirituelle Dimension?
Y.R.: Meine Installationen jener Epoche und bis heute bestehen aus verschiedenen Elementen, die sich wiederholen, und das immer in ungeraden Zahlen. Mit dem ästhetischen Teil meiner Arbeit bin ich durchaus zufrieden gewesen. Was mich aber beunruhigte, war das Konzeptionelle. Und ich begann mich zu fragen: Welches Konzept verfolge ich in meiner Arbeit? Wonach suche ich eigentlich? Weshalb gefällt mir die Wiederholung? Was hat das zu bedeuten?
Dann begann ich, nach Zahlen zu suchen, die in meiner religiösen Kultur verwurzelt sind und die eine Bedeutung für mich haben, wie die 7, die 5, die 3 oder höhere Zahlen wie die 17 oder die 99. Auch beschäftigte mich die Anordnung der Werke in den Räumen. Bevor ich mich für eine Ausrichtung nach Mekka entschied, dachte ich über den Saal, in dem ich ein Werk installieren würde, als architektonisches Problem nach.
Im Jahr 2001 realisierte ich in einer Ausstellung in Marseille unter anderem ein Werk mit dem Titel Nafas, bestehend aus 17 Tüten zu je 50 Litern, die ich mit meinem Atem gefüllt und mit einem Knoten verschlossen hatte. Ich legte sie mit dem Knoten nach unten auf den Boden, so dass man diesen nicht sah und sie ästhetisch interessanter aussehen, wie Pyramiden oder Kapuzen des Djellaba [traditionelles marokkanisches Kleidungsstück - A.d.Ü.], als wären es in einer Moschee betende Personen. Ich ordnete die 17 "Formen" in 5 Reihen an: In der ersten legte ich 2 ab, in der zweiten 4, dann 4 und dann 3 und in der letzten wieder 4. Die 17 ist die Zahl der Bewegungen, die wir beim Beten ausführen. Die 5 Linien sind die 5 Gebete eines Tages: Am Morgen sind es 2 Bewegungen des Betens, genannt rakat, am Mittag sind es 4 rakat, am Nachmittag ebenfalls 4 und während des Gebets beim Sonnenuntergang werden 3 dieser Bewegungen ausgeführt. Beim letzten Gebet, wenn es schon Nacht ist, sind es wieder vier rakat.
Und warum die ungeraden Zahlen? Die Antwort darauf kam mir einige Jahre später in den Sinn. Die erste ungerade Zahl, die 1, bedeutet für mich Gott, dieses Wesen, das weder männlich noch weiblich ist, keinen Geruch hat, keine Farbe, keine Form, keinen Anfang, kein Ende, und das nichts und niemand ähnelt. Und die ungerade Zahl, die als nächste folgt, ist die 3, gebildet aus diesem Wesen, das nichts ähnelt, plus einem Paar (der 2), das gut und böse sein kann, Dunkelheit und Licht, das Weibliche und das Männliche.
B. & H.: Also immer als Dualismus? Als Gegensätze? Bedeutet dies demzufolge 1 (Gott) plus zwei Gegensätze?
Y.R.: Genau. Wir können auch auf andere Weise beginnen, mit dem Paar der Gegensätze, negativ - positiv, dunkel - hell, und die 1, die dann die 3 vervollständigt, ist das Wesen, das bewirkt, dass das Paar funktioniert. Die Gegensätze können ohne dieses Element, die totale Energie, nicht funktionieren. Es ist das Element, das eine unendliche Anzahl von Paaren in verschiedenen Dimensionen, im Makrokosmos wie im Mikrokosmus, ermöglichen kann. Ohne dieses Wesen, durch das eine gerade Zahl zu einer ungeraden wird, kann die Welt nicht funktionieren.
B. & H.: Hast du deine Installation Nafas im Jahr 2001 schon nach Mekka ausgerichtet?
Y.R.: Ja.
B. & H.: Und sämtliche Installationen, die du seitdem geschaffen hast, so z.B. die Ghorfas [1], sind nach Mekka ausgerichtet?
Y.R.: Genau. Seit damals sind alle meine Werke, die in einer gewissen Richtung angeordnet werden müssen, nach Mekka ausgerichtet. Und das Schöne daran ist für mich, mir vorzustellen, dass sich verschiedene Werke, wie die Ghorfa, die in Kamerun war, oder diejenige, die ich gerade in Frankreich fertigstellte, oder die 2006 in Singapur, an den verschiedenen Orten der Welt immer auf denselben Punkt ausgerichtet waren bzw. sind. Das gefällt mir. Ich stelle sie mir vor, als würde ich fliegen, sie von oben anschauen und dabei ihre Ausrichtung sehen, so dass es eine verbindende Organisation gibt, eine bestimmte Ästhetik, so wie der Kosmos.
B. & H.: Erzähle uns etwas über die Ghorfa Nº 9, die du gerade in Frankreich realisierst.
Y.R.: Sie entsteht im Rahmen der Veranstaltung "La Forêt d’Art Contemporain" im Parc Naturel Régional des Landes de Gascogne, in der Nähe von Bordeaux [2]. Es ist eines von 7 Projekten, die ich vorgeschlagen habe und die ich bis zum Herbst 2014 in dem Dorf Vert ausführe.
Für die Ghorfa wählte ich einen Standort, der mal zu einem Waldstück gehörte, in dem ein starker Sturm in den Jahren 1999 und 2009 viele Bäume entwurzelt hat. Sie ist durch eine bestimmte Bauweise in jener Gegend inspiriert und hat die Form eines erhöhten Hühnerstalls mit einem Ziegeldach. Mit Hilfe eines einheimischen Handwerkers verwendete ich die am Ort üblichen Methoden der Holzverarbeitung.
Die Ghorfa an sich ist schon fertiggestellt, aber auf dem sie umgebenden Landstück werde ich Blumensamen aussähen, die im Frühling des kommenden Jahres aufgehen und wachsen sollen. Es gibt keinen Zugangsweg, die Leute müssen über das Gelände voller Blumen gehen, um zur Ghorfa zu gelangen. Statt des Waldes wird es ein Blumenfeld mit einem Häuschen darauf geben, so wie in unserer kindlichen Vorstellung; einen Ort, um uns wie in unserer Kindheit zurückzuziehen und zu verstecken.
Für eine weitere Arbeit, die ich dort auch schon realisiert habe, brachte ich 7 Steinchen aus dem Rif-Gebirge mit. Alle zusammen haben die Größe eines Herzens und passen in meine beiden Hände. Auf dem Friedhof von Vert ordnete ich sie auf dem Boden so an, dass sie die sieben Eckpunkte eines von der Seite gesehenen Schiffchens bilden. Mit sieben Steinen von diesem Ort kehrte ich nach Marokko zurück, wo ich sie auf einem Friedhof im Rif in der gleichen Weise in Form eines Schiffchens auslegte. Beide sind nach Mekka ausgerichtet.
Die 7 Orte, die ich in Vert für meine Projekte auswählte, haben für die Einwohner des Dorfes eine spezielle Bedeutung. Ausgehend von dem, was ich von den Leuten höre, bemühe ich mich darum, etwas zu machen, das mich interessiert und das zugleich auch den anderen etwas bedeutet. Und das trifft besonders in diesem Fall zu, in dem der Ort der künstlerischen Intervention "ihr" Dorf ist und nicht ein Kunstzentrum, zu dem Besucher von anderswo anreisen. Die gefühlsmäßige Bindung ist hier eine andere, denn es handelt sich um "ihr" Dorf, "ihre" Erde, "ihre" Erinnerung. Deshalb kann ich nicht in der sonst üblichen Weise durch mein Werk sprechen. Ich will mit meinen Arbeiten dort weder kritisieren noch Traurigkeit hervorrufen, sondern ganz im Gegenteil eine Atemspende oder eine gewisse Hoffnung geben.
Anmerkungen:
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.