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Über Interaktion mit dem Publikum, offene Archive, Distanz zum Kunstmarkt. Interview mit Vasif Kortun, Forschungs- und Programmdirektor, SALT Istanbul.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Jan 2013
Binder & Haupt: SALT hat in den letzten eineinhalb Jahren ein beachtliches Programm entwickelt. Hast du das Gefühl, dass ihr dem Ziel der Institution näher gekommen seid, "das Publikum zu Kritik und Meinungsäußerung zu ermuntern"?
Vasif Kortun: Es ist unser Auftrag, Debatten zu stimulieren und durch Kritik zu lernen, aber ich kann nicht sagen, dass wir dort schon angelangt sind. Wir haben keine neuen Mittel, die unser Publikum dazu befähigen würden; solche müssen erst noch erdacht werden. Doch langfristig gesehen besteht die Idee durchaus darin, die Institution mit ihren Nutzern und mit deren Unterstützung zu betreiben. Das kann man aber nicht über Nacht erreichen. Wir wandeln uns langsam von einer "Sende-Institution" zu etwas, das mit seinem Publikum Intelligenz entwickelt. Um das "Publikum" einzubetten und zu aktivieren, braucht man organische Schnittstellen, aufbauend auf vielen Faktoren wie Vertrauen und Unumgänglichkeit.
In den letzten eineinhalb Jahren haben wir begonnen, Ideen zu unterbreiten, was eine Institution heutzutage in Istanbul sein kann, wie sie eine neue Realität produzieren und mit involvierten Gruppen von Leuten ein kräftiges Rückgrat aufbauen kann. Wir sind weder orthodox noch arrogant; die Programme basieren weder auf Disziplinen, noch sind sie spektakulär. Es ist eine Angelegenheit für sich und als solche ziemlich schwierig voranzubringen.
Binder & Haupt: Euer Sitz in Beyoğlu ist so konzipiert, dass es einen direkten Zugang von der Straße her gibt. Das Gebäude befindet sich in der İstiklal Caddesi, einer überaus beliebten Fußgängerzone mit Millionen Passanten an den Wochenenden. Bedeutet dies, dass die Leute auf natürlichere Weise hereinkommen, um an Programmen von SALT teilzunehmen?
Vasif Kortun: Das ist ein demütigender Prozess gewesen. Wir haben den Eingangsbereich, das Forum, ohne jedwede institutionellen Barrieren gestaltet, um die Zugangsschwelle möglichst niedrig zu halten. Das Problem war aber, dass wir den Eingang mit wenig überzeugenden Gestaltungsprinzipien überdesigned hatten. Die Leute haben sich nicht zu Hause gefühlt. Diese Art von "demokratischem Luxus", die wir anboten, wurde gar nicht registriert. So haben wir begonnen, das Forum mit verschiedenen Ideen zu testen. Aber wir brauchten über ein Jahr, um herauszubekommen, was nicht möglich ist. Wir sind zwar die bei weitem am besten besuchte Institution in dieser Straße, aber ich bin überhaupt noch nicht zufrieden.
Binder & Haupt: Und wie ist das bei dem Gebäude in Galata?
Vasif Kortun: Galata ist anders, das war die imperiale Bank, introvertiert, mit Pracht ausgestattet, und es wäre sinnlos, sich darüber hinwegsetzen zu wollen. Wir können nur die Arbeitsweise verändern. Es ist hier ja nicht zu erwarten, dass irgend jemand nur mal so hereinkommt, es sei denn, die Besucher wissen, was darin passiert. Hier wird mit anderer Zeitlichkeit operiert, es findet Forschung statt, Workshops, und so unterscheidet sich dieser Sitz vom schnellen Rhythmus der Ausstellungen und Programme in Beyoğlu. Man begreift das Gebäude, die Institution, und bekommt mit, wie das Publikum damit umgeht und darauf reagiert, und so fängt man von vorn an.
Aber kommen wir noch einmal auf eure erste Frage zurück, wie das Publikum auf andere Weise mit einer Institution verbunden werden kann. Gut, also letztendlich sollte die Institution den Leuten gehören, die sie nutzen. Wir sind z.B. dabei, mit dem nächsten Konvolut an Programmen einiges zu ändern. Ganz bewusst haben wir die neue Ausstellung Scared of Murals (Angst vor Wandbildern) unvollständig gelassen, es wäre unaufrichtig gewesen, wenn wir sie abgeschlossen als etwas Endgültiges präsentiert hätten. Wir hoffen, die Ausstellung während ihrer Laufzeit zusammen mit den Leuten weiterzuentwickeln, die etwas darüber wissen.
Binder & Haupt: Wie würdest du die Position und Funktion von SALT in der Kunstszene der Stadt und der Türkei im Hinblick auf die sehr erhitzte und auf den Markt orientierte Entwicklung in Istanbul definieren?
Vasif Kortun: Ganz bewusst bewegen wir uns von der marktorientierten Welt weg, und diese Welt ist nicht allein auf die Kunst beschränkt, sondern dazu gehören auch Design und Architektur. SALT betrachtet die Dinge nicht als Produkte. Gleichzeitig bemühen wir uns aktiv darum, die Auswirkungen eines lautstarken Marktes abzumildern und eine Menge von dem zu ignorieren, was "in" zu sein scheint. Es ist wichtig zu wissen, dass der Markt weder Intelligenz hat, noch ein Gebieter über irgendetwas ist. Wir bauen aktiv Archive für die Forschung auf, konzentrieren uns dabei auf bestimmte Künstlerarchive der 1960er und frühen 1970er Jahre und unterstützen Forschungsprojekte, indem wir eine Art Refugium ohne Abgeschiedenheit anbieten.
Binder & Haupt: Es ist interessant festzustellen, dass während die Geschwindigkeit allgemein zunimmt und es überall in erster Linie um die Gegenwart und nahe Zukunft zu gehen scheint, ihr euch mehr um die Bewahrung kultureller Erinnerung bemüht.
Vasif Kortun: Das versuchen wir. Die Institutionen in der Türkei sind in den letzten Jahren etwas besser geworden. Sie werden von Fachleuten geführt. Wir kommen da ins Spiel, wo der komplexe Sinn für Geschichte fehlt, weil er unter den Teppich gekehrt wurde. Diese Last ist enorm, aber die Leute vertrauen uns, und es gibt so viel zu tun.
Binder & Haupt: Wie lange hattet ihr eigentlich schon die Ausstellung über das Atatürk Kulturzentrum geplant? Wie trägt die Ausstellung zur Diskussion über dessen Renovierung und die widerstreitenden Interessen hinsichtlich seines zukünftigen Programms bei?
Vasif Kortun: Vor etwa eineinhalb Jahren waren wir dabei, das Archiv von Hayati Tabanlıoğlu zu digitalisieren, dem Architekten des Gebäudes. Das Zentrum ist ein einzigartiger Bau, weil es ein ganzheitliches Projekt war, bei dem der Architekt den gesamten Prozess lenkte und sehr präzise mit Designern und Ingenieuren arbeitete und die Grenzen der damaligen Bautechnologien in der Türkei erweiterte. Wir dachten, es sei der richtige Momente, der Forschung eine visuelle Form zu geben und zur Debatte über das Thema des Zentrums und des Taksim Platzes, an dem es steht, beizutragen. Das Projekt fand im Rahmen der "Offenen Archive" in unserem Sitz in Galata statt, bei dem es um auf Archiven basierende Ausstellungen geht. Es trug zu dieser Geschichte aus einem Standpunkt bei, der in die Debatte einsteigt, vor allem hinsichtlich der Unumkehrbarkeit jenes Prozesses. Das ist meine Meinung dazu.
Binder & Haupt: Ist es das, was du mit dem Schutz von Archiven meinst: sie sichtbar und für die Forschung verfügbar zu machen?
Vasif Kortun: Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll: dem unzureichenden Zeugnis des öffentlichen Sektors, Argwohn gegenüber den Motiven des privaten Sektors, der Geschichte von Militärinterventionen und der Zerstörung von Archiven… Wir haben Anteil am Gedächtnisverlust. Jetzt schützen wir im klassischen Sinne des Bewahrens und rüsten auf heutige Technologien auf, um das verfügbar zu machen, was wir zu bieten haben. Es wird einen freien und offenen Zugang geben.
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.
Fotos - SALT Hauptquartiere ►