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Rezension der Biennale Junger Künstler aus Europa und dem Mittelmeerraum, 6. Juni - 7. Juli 2013, Mole Vanvitelliana, Ancona, Italien.
Von Giuliana Prucca | Jul 2013Blue-Eyed Alì
one of many sons of the sons,
will go down from Algiers,
on sailing and rowing boats.
Thousands of men
will be with him
with little bodies and eyes
of fathers' poor dogs
on boats launched in the Kingdoms of Hunger.
Von dieser "Profezia" von Pier Paolo Pasolini stammt der Titel der Installation von Gian Maria Tosatti (* 1980 Rom, Italien) Regni della Fame (Königreich des Hungers). Es ist eine von über 200 Arbeiten, die auf der Mediterranea 16 zu sehen sind, der Biennale Junger Künstler in der faszinierenden Mole Vanvitelliana in Ancona, während des 2400. Jahrestages der Gründung der Stadt.
Einige Zähne ragen aus dem Betonfußboden, den Tosatti wie ein Meer angelegt hat. Es sind die einzigen Überbleibsel von Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf der anderen Seite Tag für Tag ihre Länder verlassen. Mit dieser leeren Oberfläche korrespondiert Stimmen der Unsichtbaren von Charbel Samuel Aoun (* 1980 Beirut, Libanon), eine Installation aus verschiedenen Modellen alter Telefone. Aus jedem ertönen in verschiedenen Sprachen die Stimmen von Leuten, die der Künstler auf seinen Reisen am Mittelmeer in schmerzvollen Momenten ihres Lebens getroffen hat.
Indem sie das Sichtbare entfernen, machen beide Künstler paradoxerweise die Geschichten von Migranten sichtbar, die Worte von Ausgestoßenen, die Routen hungriger Menschen. In dieser Hinsicht geben sie ihrer eigenen künstlerischen Erfahrung Ausdruck, und zwar nicht als ein feststehendes Bild, sondern als ein reisender Raum, eine Skizze von Linien, die die Landkarten der klassischen visuellen Darstellung durchkreuzen und verwirren.
Dies ist das bewegte Bild des Mittelmeers und gleichzeitig der Mediterranea 16, deren Mission seit 1985 darin besteht, an wechselnden Orten das Zusammentreffen der Kulturen von den Ufern dieses Meeres, das verbindet, aber auch trennt, zu fördern.
Daran erinnert uns die Performance Auf Wasser laufen von Virginia Zanetti (* 1981 Fiesole, Italien): ein Gang auf dem Felsen "Il Trave" vor der Küste von Ancona, einer besonderen geologischen Formation, entstanden aus dem Zusammentreffen zweier Brüche, die etwa 1,5 km lang sind und teilweise aus dem Wasser herausragen. Der Legende zufolge soll sich "Il Trave" dereinst als ein Symbol der Brüderlichkeit bis zum anderen Ufer der Adria erstreckt haben, bis er dann durch den Zorn der Elemente zerstört wurde und das Erscheinungsbild einer zusammengebrochenen Brücke erhielt. Deswegen hat Zanetti die Konzepte des Wunders und der Utopie als unerreichbare und nicht zu verwirklichende Extreme untersucht, die außerhalb der Regeln allgemeiner Logik liegen. Aber sie erlaubt auch eine direkte Erfahrung des Mittelmeers als einer Verbindung und zugleich einer Barriere oder Grenze.
Wenn man auf der falschen Seite lebt und kein Visum erhält, kann das eine Behinderung der Bewegungsfreiheit und der künstlerischen Kooperation mit diesem Teil der Welt sein. Das passierte dem seit 2005 aktiven Ensemble für zeitgenössischen Tanz Sareyyet Ramallah: es konnte während der Eröffnungstage nicht auftreten, weil einem der Tänzer das Verlassen seines Landes nicht genehmigt wurde. Auch in diesem Falle vermittelt sich die Unsichtbarkeit der Darbietung dem Publikum seltsamerweise als eine weitere Anprangerung der Auswirkungen von Industrialisierung und Kolonialismus auf die Menschen und deren Umfeld. Durch Selbstorganisierung und Selbsterkenntnis versuchen die Tänzer, eine Strategie zu finden, um aus diesem "ganz normalen Wahnsinn" der heutigen Zeit herauszukommen, indem sie eine freie performative Situation in Palästina aufbauen. Ein Königreich der Kunst außerhalb der Strukturen der Gesellschaft.
They who never wanted to know, they who had eyes only to beg,
they who lived like murderers underground, they who lived like bandits
under the sea, they who lived like crazy in the sky,
they who built
laws outside the law,
they who adapted themselves
to a world under the world. [2]
Auch das schrieb Pasolini 1965 über Migranten, und es könnte heute ein Ausgangspunkt für die Künstler und Kuratoren von Mediterranea 16 sein. Indem sie ein Königreich auf den Ruinen errichten, stellen sie die alte Bedeutung des Mittelmeers wieder her: ein Becken zu sein, das verbindet, ein Treffpunkt, ein Meer, dessen Gewässer tatsächlich grenzüberschreitend sind und nicht der Gerichtsbarkeit von Staaten unterstehen. Ihre Arbeit könnte in der Geste von Randa Maddah (* 1983 Majdal Shams, Syrien) zusammengefasst sein. In ihrem Video Lichthorizont ordnet eine Schauspielerin den Raum eines zerstörten Hause im Dorf Ain Fit auf den syrischen Golanhöhen überaus sorgfältig, um inmitten von Tragödie und Zerstörung eine Vertrautheit zu schaffen.
In dieser Art erscheint einem auch die Mole Vanvitelliana: genau wie ein Königreich der Kunst, eine freie Zone, in der alles erlaubt ist, selbst Irrtümer, eine "Tiers-Paysage", wie der Titel einer der elf Sektionen lautet, inspiriert durch Gilles Clément und dessen Konzept, dass verlassenes und nicht beackertes Land, das frei von Ausbeutung durch den Menschen und außerhalb eines Machtbereichs ist, die produktivste Fülle und biologische Vielfalt garantiert.
Ursprünglich war die "Mole" ein Lazarett, entworfen vom italienischen Architekten Luigi Vanvitelli im 18. Jahrhundert und errichtet auf einer künstlichen Insel im Hafen von Ancona. Die heutzutage für temporäre Ausstellung genutzte Festungsanlage hatte in der Vergangenheit verschiedene Funktionen. Sie diente als Quarantänestation, als Lagerhaus, als Schutz gegen Wellen und während der Weltkriege als militärischer Stützpunkt. Jetzt ist sie geradezu ein Symbol der Biennale. Sie befindet sich abseits des Stadtzentrums, vom Festland zwar isoliert, zugleich aber mit diesem durch drei Brücken verbunden, was ein Ausdruck der Prinzipien zu sein scheint, durch die sich die acht Kuratoren bei der Auswahl der gezeigten Werke leiten ließen. In einer Position am Rand von Institutionen versuchen solche Werke nicht nur eine ästhetische Erfahrung zu vermitteln, sondern auch eine kritische Vision, eine Kunst, die nicht selbstreferenziell ist, sondern eng mit den gegenwärtigen politischen, kulturellen und sozialen Fragen verknüpft, und die im Irrtum einen neuen Weg der Vermittlung findet.
Deshalb erscheint es einerseits als ein seltsamer Zufall, dass diese Biennale in Ancona gerade während des Rücktritts der lokalen Regierung veranstaltet wird, in einem Klima der Aufhebung von Gesetzen, und dass sie andererseits in einem ehemaligen Lazarett stattfindet, was uns auch daran erinnert, wie sehr Krankheit der von der Gesellschaft vorgegebenen Norm eines perfekten und gesunden Körpers konträr entgegensteht. Antonin Artaud schrieb, die Pest sei Modell einer Kunst, deren Kommunikation durch horizontale und transversale Infektion verlaufen müsse und nicht durch Zwang von oben herab. [3]
Das dokumentarische Werk Arabische Wände der autodidaktischen Künstlerin Rana Jarbou (* 1982, Saudi-Arabien), die islamisch geprägte Länder bereiste, um Graffiti zu fotografieren, weist uns auf eine wichtige Dimension der Biennale hin: die Recherche, den Erwerb von Wissen über sich selbst außerhalb traditioneller Systeme und durch direkteren und dynamischeren Zugang zu Informationen, und schließlich die Kommunikation solchen Wissens durch informelle partizipatorische Mittel wie Plattformen für Austausch und Diskussion. Ein Beispiel dafür ist das Measuring permanent research program on inobjectivity, eine Studie über die Beziehung zwischen Mensch und Raum, geleitet von Simone Frangi, Alessandro di Pietro und Pietro Spoto und aufbauend auf regelmäßigen Rundtischgesprächen, bei denen alle frei diskutieren und über ihre künstlerische Arbeit informieren und diese somit durch neue kollektive Beiträge bereichern konnten.
All das offenbart eine scharfe Kritik an klassischen Formen des Lernens, an vorgefertigten Wissenssystemen. Aus diesem Grund könnte Selbstausbildung eine machtvolle Form des Widerstands sein. Tatsächlich scheint aus allen auf der Biennale gezeigten Werken ein Protestschrei zu kommen, und dieser ist sehr stark spürbar in dokumentarischen Videos von Künstlern vom Balkan. So z.B. in Die Blockade von Igor Bezinovic (* 1983 Rijeka, Slowenien), einem Film über die Blockade der Universität Zagreb 2009 aus Protest gegen die Kommerzialisierung der Bildung. Mit seinen Ausstellungen, Aktionen im öffentlichen Raum und Debatten bemüht sich das Kollektiv Mreža Solidarnosti, das seit 2012 in Split (Kroatien) aktiv ist, ein größeres Publikum unter den machtlosen Arbeitern in notleidenden kroatischen Fabriken zu finden und dafür die Zensur der Medien zu durchbrechen.
Das Interesse hat sich jetzt hin zum Prozess von Kunst, zur Aktion, zu zeitlichen Abläufen verlagert, weg vom fertigen Werk, das zu verblassen scheint. Über eine Skulptur, eine Installation von Dustin Cauchi (* 1981, Malta) und Paolo Tognozzi (* 1990 Ponte dell'Olio, Italien) aus einem Video und gedruckten Medien, ist ein Versuch, ihren Dialog über die Schaffung eines nicht festgelegtes Kunstwerks, das womöglich nie fertiggestellt wird, zu visualisieren. Hier ist sichtbar, was stattdessen im endgültigen Kunstwerk aufgelöst gewesen wäre: Prozess, Experimente, Ausschuss, Irrtümer.
Das Unsichtbare zu zeigen, ist auch ein Akt des Protests. In seinem Video Ständige Ausstellung präsentiert Fabian Bechtle (* 1980 Berlin) eine Führung durch das verlassene und leere Museum Zeitgenössischer Kunst in Belgrad. Durch Worte macht der Kurator das sichtbar, was auf den Bildern nicht vorhanden ist, und Bechtle produziert, ebenfalls durch Entfernen, eine Verurteilung der Kulturpolitik in Serbien und einen Widerstand dagegen, dass dergleichen im Verschwinden begriffen ist.
Wenn man durch die Mediterranea 16 geht, hat man den Eindruck, dass es in deren Vision ständig zu einem Kurzschluss, zu einer Verschiebung ihrer Sichtweise kommt. Kaskada TV ist der Titel eines Videos von Bujar Sylejmani (* 1981 Pristina, Kosovo), was in Serbokroatisch die Störungen im Fernsehen meint, die zu verkrümmten und abgeschnittenen Bildern führen. Der Künstler realisiert seinen Experimentalfilm Dank solcher Fehler und schafft so eine dokumentarische Erzählweise, die auch sehr persönlich und irrational ist. Hertaforming von Ana Vuzdaric (* 1983 Zagreb, Kroatien) versucht, das Leben unbekannter Frauen zu rekonstruieren. Es ist eine sehr poetische und gespenstische Installation, bestehend aus Röntgenbildern, bei denen das Publikum eine weitere Anstrengung unternehmen muss und sich ausgehend vom Negativ darüber klar werden soll, was nebeneinander gehört oder was abwesend ist.
Die Fotoserie von Ahmed Kamel (* 1987 Kairo, Ägypten), emblematisch Sight genannt, zeigt Leute, die während des Aufstands in Ägypten verletzt worden sind und ihr Augenlicht teilweise oder ganz verloren haben. Dieses Mal ist der Blick blind und geradeaus auf uns, das Publikum, gerichtet, und wir werden somit unsichtbar. So entziehen sich nicht nur die Werke dieser jungen Künstler der Standardisierung des Bildes, sondern letztendlich auch das Publikum der Mediterranea 16.
Anmerkungen:
Giuliana Prucca
Forscht über zeitgenössische Literatur und Kunst. Herausgeberin und Übersetzerin, gründete AVARIE (Artbooks Vuoti A Rendere International Edition), Paris.
In Zusammenarbeit mit
Regione Marche
Comune di Ancona
Fondo Mole Vanvitelliana
Mediterranea 16
Biennale Junger Künstler
6. Juni - 7. Juli 2013
Mole Vanvitelliana
Banchina Giovanni da Chio, 28
60121 Ancona
Italien
Thema: Errors Allowed
Kurator/innen: Charlotte Bank, Alessandro Castiglioni, Nadira Laggoune, Delphine Leccas, Slobdone Veze / Loose Association (Nastas Bodrozic, Ivana Mestrov), Marco Trulli und Claudio Zecchi
Mehr als 200 Teilnehmer/innen, ausgewählt aus den Bewerbungen einer internationalen Ausschreibung von der BJCEM und Partnern in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika.
Veranstalter: