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2014, Marokko. Leitung: Alya Sebti; Kunst & sound art: Hicham Khalidi. Kuratoren für darstellende Künste, Film & Video, Literatur.
Von Lucrezia Cippitelli | Mär 2014 Fototour durch die Ausstellungen
Die Nafas Tour führt durch alle Orte der Sektion Visuelle Künste und zeigt Werke fast aller Teilnehmer.
Die fünfte Edition der Marrakesch Biennale wandte sich an die beteiligten Künstler und das Publikum mit der Frage "Where are we now?" [Wo sind wir jetzt?]. Obwohl die Biennale auch Film, Literatur und darstellende Künste einbezieht, werde ich mich auf die Sektion Visuelle Künste und Sound Art beschränken, kuratiert von Hicham Khalidi, einem in Brüssel lebenden, in Marokko geborenen und in den Niederlanden aufgewachsenen Kurator. Im Allgemeinen vermeide ich möglichst eine Hervorhebung der geographischen Herkunft als einer Zuordnung, durch die ultimative Wahrheiten über Individuen zu vermitteln wären. Aber in diesem Falle mache ich eine Ausnahme, denn der geographische Pfad steht in enger Beziehung zum Konzept dieser Edition der Biennale. "Wo sind wir jetzt" lautet die Frage, die von der künstlerischen Leiterin Alya Sebti, in Marokko geboren, in Frankreich ausgebildet und in Berlin lebend, zusammen mit Hicham Khalidi gestellt wurde. "Zwei Migranten, die in Marokko arbeiten möchten", betont Khalidi. "Das ist kein Prozess der Migration mehr, sondern ein Prozess der Re-Migration. Eine Verlagerung von Nord nach Süd, von Westen nach Osten." Marrakesch und Marokko dienen den beiden Re-Migranten als ein Ausgangspunkt, um Fragen der Identität und des Postkolonialen in einem weiteren Sinne zu untersuchen.
Dem in Marrakesch beheimateten Magazin Dyptik zufolge, das den größten Teil der Nummer 22 vom Februar/März der Veranstaltung widmete (und während der Eröffnungstage bestens sichtbar an allen Kiosken auslag), ist die Biennale des Jahres 2012 ein Spiel für bärtige Hipster in Bermudas gewesen, mit roten Teppichen und schicken Events für eine begrenzte Elite von Expats. Die diesjährige Edition war hingegen von einer ganz anderen Atmosphäre geprägt, beginnend mit den Orten. Das offizielle Programm konzentrierte sich nicht mehr allein auf das Königliche Theater, sondern als Rahmen für die Hauptausstellung wurden drei Orte im alten Teil der "Roten Stadt" ausgewählt: der El Badiâ Palast aus dem 16. Jahrhundert (vor allem ortsspezifischen skulpturalen Projekten gewidmet), der Dar Si Said Palast (mit Interventionen in der ständigen Sammlung des Museums) und die ehemalige Bank Al Maghrib von Marrakesch. Auf letzterer prangt weithin sichtbar der von Hicham Benhoud verfremdete Schriftzug BIENVENUE a Marrakech (2014), mit dem er das von König Mohammed VI für 2020 aufgestellte Ziel persifliert, allein in jenem Jahr 20 Millionen Besucher in der Stadt zu empfangen. Im Gebäude werden vornehmlich bereits existierende Arbeiten zu solchen Themen wie Ökonomie, Migration, Globalisierung, Identität gezeigt. Neben einer Performance-Sektion im Königlichen Theater, einem Videobereich in L'Blassa und einer Reihe von Darbietungen an diversen Orten der Stadt waren an den drei Hauptorten mehr als vierzig Teilnehmer vertreten, zwanzig davon mit speziell in Auftrag gegebenen Werken und Projekten.
"Man muss in einem Kontext arbeiten, man kann nicht außerhalb davon tätig sein", sagte Khalidi. Er entwickelte die Ausstellung im Zuge einer langen Feldforschung, die ihn dazu brachte, den den ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontext eines Landes zu analysieren, in dem 40% der Einwohner unter 25 Jahre alt sind, mit einer jährlichen Wachstumsrate von 5%, dessen Bruttosozialprodukt noch sehr gering ist und dessen Ökonomie auf Tourismus und Landwirtschaft basiert. Diese Recherche ist die Grundlage eines Readers über die Stadt für die Künstler und das mit der Entwicklung, Produktion und Kommunikation der Veranstaltung betraute Team. Anfangs hatte Khalidi das Programm der Biennale sogar als ein komplexes Netzwerk von über das Land verteilten Orten konfiguriert, um die ganze Geschichte Marokkos zu umspannen: von den Jebel Saghro Bergen mit ihren uralten Petroglyphen bis zu den Industriegebieten von Marrakesch. Doch Budgetkürzungen zwangen ihn, sich auf die Hauptorte in der Medina zu beschränken.
Mit dem Untertitel Identität als Potenzial. Identität als Fiktion hinterfragt das kuratoriale Projekt den Wert des Konzepts des Zeitgenössischen im Allgemeinen und benutzt dabei Kunststrategien als einen Weg, nationale Identität zu verstehen. Indem er den auf Recherche basierenden Ansatz weiterführt, den er 2014 mit der Schau On geometry speculation (Parallelen zwischen der islamischen visuellen Kultur des goldenen Zeitalters und zeitgenössischer westlicher Kunst) begonnen hat, drängt Khalidi die Betrachter dazu, über die Beziehungen zwischen lokal und global nachzudenken, wobei er von Marokko als Fallbeispiel eines globalen Zusammenpralls ausgeht. Der theoretische Ansatz besteht nicht im abstrakten Überstülpen kritischer Theorien zur Gegenwart (vom postkolonialen bis zum postmodernen kritischen Diskurs), sondern vielmehr in dem Ergebnis der Gegenüberstellung von Kunstwerken, in denen es um unterschiedliche Themen geht: Ökonomie, Tourismus, Identität, Migration. Mit der Einrichtung seines Ateliers in Marrakesch, in dem er auch einen Großteil seiner Kunstwerke für die Biennale produzierte, erforschte Eric Van Hove diese Beziehung, indem er einen Mercedes Benz Motor in ein zu 100% marokkanisches Produkt umwandelte. Der von lokalen Handwerkern in einem kollektiven Prozess gefertigte V12 Laraki ist ein Hybrid zwischen einem Motor und 500 Jahren lokalen kunsthandwerklichen Könnens.
Um sein I will not stroll with Thamy el Glaoui [Ich werde nicht mit Thamy el Glaoui umherziehen] zu konzipieren, kooperierte Jelili Atiku mit den Amazigh, von denen der Name der Stadt Marrakesch stammt: mur-(n)-akush, "Land Gottes". In seiner Performance setzt sich Atiku mit der Identität Marokkos auseinander: ausgestattet mit Stoffen und Aufmachungen der Amazigh organisierte er eine Prozession zum Platz Djemaa el-Fna. Er selbst saß in einer Pferdekutsche, gefolgt von 50 dekorierten Schafen. Younès Rahmoun übersetzt in seiner Installation mit dem Titel 77 transzendentale Erfahrung in einen physischen Raum, beleuchtet von Kupferlampen, die er von einem lokalen Kunsthandwerker anfertigen ließ. 77 ist die Anzahl der Wege, den Islam auszuüben, und die Zahl der in einem Kellerraum der Bank Al Maghrib installierten Lampen.
Ein wichtiger Aspekt des Produktionsprozesses eines erheblichen Teils der Werke auf der Biennale sind die Beziehungen, die von den Künstlern zur Stadt hergestellt wurden: jedes neu produzierte Werk war das Ergebnis eines mindestens einmonatigen Aufenthalts der Künstler in Marrakesch. Diese Beziehung brachte die einzelnen Künstlerinnen und Künstler dazu, ihren Diskurs durch eine konstante Balance zwischen westlicher Kunstsprache und der Kultur und dem Wissen des Ortes selbst zu entwickeln. Wie Khalidi erläuterte, ist diese Spannung am deutlichsten erkennbar, wenn die Bewohner der Stadt beginnen, die Biennale zu besuchen, und ihre eigenen Sichtweisen der Kunstwerke einbringen.
"Ästhetik und Politik" ist ein Ausdruck, der das Konzept der Schau auf eine Weise prägen könnte, bei der die Betrachter das reale Zentrum bilden. Dieser Fokus auf Zugänglichkeit ist ein Vermächtnis früherer Projekte von Khalidi in Europa. Als künstlerischer Leiter von TAG in Den Haag konzentrierte er sich auf die Schnittstelle zwischen Technologie und Gesellschaft, indem er vor allem mit der Kommune eines Wohngebiets zwischen dem Zentrum und den bourgeoisen Randbezirken der Stadt arbeitete.
Eine starke Qualität der kuratorialen Auswahl ist die Orientierung auf Sound. Diese Wahl bringt die Betrachter dazu, sich von potenziellen Fragen hinsichtlich der systemischen Bedeutung der Kunstwerke zu lösen und eine Beziehung zu deren Orten aufzubauen und mit ihnen physisch zu interagieren. Sound bezieht Raum und Dauer ein und zwingt selbst Besucher ohne Kunstkenntnisse dazu, einen Kontext zu erfahren, zu beobachten, zu fühlen, Zeit darin zu verbringen. Es ist eine Frage der Präsenz.
Das ist, um ein deutliches Beispiel zu nennen, die eindeutige Intention der von Clara Meister kuratierten Singing maps and underlying melodies, einer Reihe von Konzerten lokaler Musiker an verschiedenen Orten der Medina, konzipiert als ein psycho-geografisches Erleben der Stadt durch die Biennale-Besucher und die Menschen auf der Straße. Ici Maintenant Ou von Saout Radio (Younes Baba-Ali, Anna Raimondo) schlägt einen ähnlichen Prozess der Herstellung von Beziehungen zum urbanen Raum durch ein Derivat von Tönen in einer Reihe von Taxis in Marrakesch vor, in denen man als Fahrgast ein Sound- und Musikprogramm präsentiert bekommt. Courtyard Ornamentation with Sounding Dots and a Prison [Hof-Ornamentik mit klingenden Punkten und einem Gefängnis] von Cevdet Erek ist eine einfache und doch minutiös konzipierte ortsspezifische Soundinstallation im El Badiâ Palast und wegen ihrer das Gefühl ansprechenden Kraft eine der stärksten Arbeiten der Biennale.
Lucrezia Cippitelli
Kunstkritikerin und Kuratorin. Arbeitet vor allem mit Medien- und Konzeptkünstlern und mit prozessorientierter Kunst im öffentlichen Raum.
Fototour
Marrakesch Biennale 5
Where are we now?
26. Februar - 31. März 2014
Künstlerische Leitung: Alya Sebti
Kuratorenteam:
Hicham Khalidi (visuelle Künste)
Khalid Tamer (darstellende Künste)
Jamal Abdenassar (Film und Video)
Driss Ksikes (Literatur)