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Seine erste institutionelle Ausstellung in Deutschland. KW Berlin, 26. Mai - 25. Aug. 2013. Interview der Kuratorin mit dem Künstler; Fototour.
Von Ellen Blumenstein | Jul 2013Ellen Blumenstein: REPARATUR. 5 AKTE basiert auf deinem Konzept von "Reparatur". Kannst du erläutern, wie du den Begriff verstehst und wie er sich auf deine langfristige Untersuchung von "Wiederaneignungen" bezieht?
Kader Attia: Ich arbeite schon viele Jahre zu der Idee von "Wiederaneignung". Im Verlauf meiner Forschungen – im Rahmen von Lektüren über die Beobachtung der heutigen öffentlichen Sphäre – wurde mir etwas Grundlegendes bewusst, nämlich dass "Wiederaneignung" ein Prozess der "Reparatur" ist. "Reparatur" verstehe ich als Wiederherstellung im weiteren Sinn und somit als ein Werkzeug, das auf politische, kulturelle und wissenschaftliche Themenfelder angewandt werden kann, um deren vielfältige Wechselwirkungen zu untersuchen.
Das Konzept hat sich in meinem Denken langsam und schrittweise durch Texte geformt, wie die von Pierre Joseph Proudhon, dem französischen Anarchisten und Vater der Theorie Eigentum ist Diebstahl! aus dem Werk Qu’est ce que la propriété? (Was heißt Eigentum?, erschienen 1840), der als erster den Terminus "Wiederaneignung" verwendete. Ein weiterer wichtiger Text ist das 1928 verfasste Manifesto Antropófago (Anthropophagisches Manifest) des brasilianischen Dichters Oswaldo de Andrade und die aktuelleren Schriften von Frantz Fanon, der in seiner Theorie das Konzept von "Wiederaneignung" in Beziehung zum Antikolonialismus setzt (Die Verdammten dieser Erde, 1961). Auf der dOCUMENTA (13) präsentierte ich meine erste Untersuchung zu den Verbindungen zwischen "Reparatur" und "Wiederaneignung". REPARATUR. 5 AKTE stellt eine großartige Gelegenheit dar, meine laufenden Recherchen voranzutreiben und zu zeigen, wie ich sie seitdem weiterentwickelt habe.
EB: Die Ausstellung setzt sich aus fünf Akten zusammen. Was verstehst du unter Akten? Liegt hier eine Dramaturgie zugrunde?
KA: Die Dramaturgie meines Projekts zielt darauf ab, den BetrachterInnen klar und visuell darzulegen, wie sowohl in der Natur als auch in der Kultur jedes Lebenssystem auf unzähligen Reparaturen beruht. Dieser kontinuierliche Wandlungsprozess entspringt dem unentwegten Fluss von Zeit und Raum, nähert sich aber etwas Spezifischem an.
Jeder Akt richtet seinen Fokus auf einen unterschiedlichen Aspekt von "Reparatur". Einer von ihnen beispielsweise betrachtet sie aus dem Blickwinkel der Naturgeschichte: Nach vielen Jahren des Nachdenkens über das Subjekt und der wiederholten Lektüre naturalistischer Denker wie Charles Darwin und Alfred Russel Wallace interessiert es mich sehr, festzustellen, ob das, was sie über die Entstehung der Arten und die "natürliche Selektion" herausgefunden haben, grundsätzlich ebenfalls ein Prozess von "Reparatur" ist. Diese Reparatur führt idealerweise zum Überleben aller Arten und, im Falle des Menschen, zur Überlegenheit über alle anderen Spezies auf der Erde. Die Frage ist, ob diese mächtige Vorrangstellung über die anderen Arten rechtfertigt, dass der Mensch die Welt regiert, oder ob sie tatsächlich das Ende der Welt herbeiführt.
Ich stellte mir das Universum immer als unendliches Musikstück und seine Sätze als eine ebenso grenzenlose Folge von Reparaturen vor. Jede dieser Reparaturen setzt sich wiederum aus zahllosen anderen Reparaturen zusammen, und setzt sich endlos so fort. Wie im fraktalen Bildprozess, mit dem Unterschied, dass sich die Reparaturen nicht proportional dem Goldenen Schnitt folgend verkleinern, sondern symmetrisch zueinander. Nach meinem Verständnis basiert konzeptuell alles auf Reparaturen: von der Kultur hin zur Natur, vom Politischen zum Metaphysischen.
EB: Welche Rolle spielt historisches und Archivmaterial in deiner künstlerischen Praxis?
KA: Es dient in meinem Denken als ein "Kontinuum": Es stützt den unaufhörlichen Dialog mit der Menschheit, den ich entwickeln und aufrechterhalten möchte. Wie Pfeiler der Geschichte sind diese Dokumente nicht nur als Objekte (denn als solche wären sie permanent durch ihre "Präsenz" beherrscht), sondern als Stufen zu weiterführenden Ebenen bedeutend.
Die Porträtplastiken, die ich aus italienischem Carraramarmor und Teakholz aus Senegal oder Kongo herstelle, fungieren als lebendige Fortschreibung dieses sozusagen "toten" Archivs. Sie orientieren sich unmittelbar an Bildarchiven des Ersten Weltkrieges sowie an ethnographischen Studien des späten 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus besitzt die einfache und tiefe Wirkung von Originaldokumenten aus der Vergangenheit – wie etwa von Zeitungen und anderen Objekten – die Kraft, jeden zu erreichen, denn sie ist unverfälscht, auch wenn die vermittelte Botschaft es nicht ist. Es handelt sich nicht um ein Video oder eine Fotografie des Materials, sondern um das Material selbst als physischen Teil der Installation. Ich möchte diese Zeitdokumente so, wie sie sind, visuell zugänglich machen. Wegen ihres Seltenheitswertes werden sie gewöhnlich hinter Vitrinen und in historischen Museen aus der Distanz ausgestellt, wodurch sie zu Lehrstücken und Fetischobjekten entrückt werden. Mir ist sehr wichtig, dass Kunst die Erfahrung mit etwas sein kann, das man schon zu kennen meint, in dem Moment aber, in dem man es vor sich hat, herausfindet, dass man das nicht tut. Die Mehrzahl der Dokumente und Objekte, die ich gesammelt habe und mit den Besucherinnen und Besuchern teilen möchte, überschreiten unsere Vorstellung der Vergangenheit.
EB: Wie treten Inhalt und Form in deinen Installationen zusammen? In welcher Beziehung siehst du Geist und sinnliche Erfahrung zueinander?
KA: Die Beziehung zwischen Körper und Geist hat mich immer fasziniert. Als ich jung war, etwa 17 Jahre alt, las ich einen Aufsatz von Immanuel Kant über Körper und Seele, der meine Auffassung dieser Thematik auf Jahre wandelte. Als Teenager durchlebt man unterschiedliche Phasen, die viele Fragen über den eigenen Körper aufwerfen. In diesem Zeitraum verändert sich der Körper so schnell und manchmal fühlt man sich in ihm wie ein Fremder. Kants Denken, wie auch das von Nicolas Malebranche oder René Descartes zum "Leib-Seele-Problem" fassen beides als unzertrennlich auf und sehen den Menschen mit Körper, aber ohne Verstand als ebenso undenkbar an wie andersherum.
Vor einigen Jahren las ich die Mitschrift eines interessanten Vortrags von Michel Foucault mit dem Titel Der utopische Körper, der mit Marcel Prousts Gedanken über den Schlaf einleitet. Ich fand eine wichtige These darin, dass der Geist frei ist, solange die Augen geschlossen sind, und dass er, wenn wir aufwachen, an den Ort zurückkehren muss, an dem sich der Körper befindet.
Meiner Ansicht nach ist die Art, auf die der Geist den Körper bewohnt, vergleichbar damit, wie sich der Körper in der Architektur verortet – was eine Distanz zwischen Körper und Geist impliziert. Viele ArchitektInnen haben das genau verstanden, zum Beispiel Le Corbusier mit seinem "Modulor"-System.
In den Kunstkontext involviert zu sein bedeutet im Allgemeinen (sowohl aus Perspektive des Körpers als auch aus der des Geistes) diese Parallelität erneut zu befragen. Physikalisch unterliegt die Beziehung, in die wir zu einem Kunstwerk treten, einem bestimmten Verhältnis von Raum und Zeit, ist jedoch niemals stabil. Sie kann sich jederzeit verändern – abhängig von unerwarteten Parametern, die dieses Rätsel zwischen Körper und Geist umfassen, und die tatsächlich die Psychoanalyse mit dem Animismus verbinden. Wenn wir uns auf Kunst einlassen, sind unvorhersehbare Situationen immer um und in uns.
Ellen Blumenstein
Seit 2013 Chef-Kuratorin am KW Institute for Contemporary Art, Berlin.
Kuratorin: Ellen Blumenstein
Im Rahmen des Projekts RELAUNCH
Kader Attia: REPARATUR. 5 AKTE
26. Mai - 25. August 2013