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Reflexionen über die 13. Biennale Istanbul, Kunst und Öffentlichkeit, das Modell der Biennale und andere Fragen in diesem Kontext.
Von Özge Ersoy | Okt 2013"Die Straßen waren noch nie so bereit für zeitgenössische Kunst wie jetzt", sagte mir ein Kollege im Juli in einem Gespräch. Das geschah zu der Zeit, als das Team der 13. Istanbul Biennale darüber diskutierte, ob man weiterhin Projekte im urbanen Raum anstreben sollte oder nicht. Immerhin waren die Gezi-Proteste, die einen öffentlichen Park in Istanbul zurückforderten, gerade gewaltsamen niedergeschlagen worden. Fulya Erdemci, die Kuratorin dieser Biennale, hatte von Anfang an gefragt, wie es möglich sein könnte, ein vielschichtiges Publikum zu erreichen und zum gemeinsamen Handeln zu bewegen, und beim konzeptuellen Rahmen grübelte man über die Idee von "Öffentlichkeit" nach.
Letztendlich zog sich die Biennale von den Straßen zurück und ging nach drinnen, in fünf Orte, zu denen Antrepo gehört, das Lagerhaus am Ufer des Bosporus, das schon bei mehreren Editionen als Hauptausstellungsort der Biennale diente; die ehemalige griechische Grundschule Galata; die nicht-kommerziellen Kunstzentren ARTER und SALT Beyoglu sowie 5533, ein von Künstlern betriebener Raum in der Stadt. Erdemci erklärte, sie wolle die Autoritäten, die für die Polizeigewalt gegen die Proteste verantwortlich sind, nicht legitimieren. In Interviews für die Presse bestand sie darauf, dass auf der Straße die Stimme der Leute selbst gehört werden müsse. Aber dieses Argument ist, gelinde gesagt, für viele nicht überzeugend gewesen.
Viel Kritik an der Biennale richtete sich darauf, dass sie sich in zwei in Privatbesitz befindlichen Ausstellungszentren ausbreitete, SALT und ARTER, weil diese mit den stärksten Unternehmensgruppen des Landes verbunden sind. Aber vor allem war es die Entscheidung, nach drinnen zu gehen, über die erbittert polemisiert wurde, weil sie dadurch angeblich die Verbindung mit "Draußen" verlieren würde. Aber dieser Ansatz legt nahe, dass die Auffassung von "Öffentlichkeit" auf einem formalistischen Niveau verharrt.
Wer ist noch davon überzeugt, Kunst und Öffentlichkeit könne einzig in einem urbanen, architektonischen Raum zusammenkommen? Ist diese Kombination nur möglich, wenn Passanten auf der Straße auf Kunstwerke treffen, oder könnte man die Betrachter nicht vielleicht auch anderweitig dazu verleiten, darüber nachzudenken, was "öffentlich" eigentlich bedeutet, unabhängig vom Ort? Ich habe ein eher naives Verständnis davon, was öffentlich ist, nämlich alles, was mit sich engagieren, zu eigen machen und "besitzend" zu tun hat. Und ich frage weiter, ob das Kritisieren und Protestieren in Bezug auf ein Kunstwerk oder eine Institution nicht impliziert, diese zu "besitzen". Darum ist es von Bedeutung, darüber nachzudenken, worin sich die Proteste gegen die Biennale in diesem Jahr von denen gegen frühere Editionen unterscheiden.
Es war im Jahr 2007, als die Kritik an der Biennale in der Presse auftauchte. Die Dekanin der Fakultät für schöne Künste einer öffentlichen Universität, wandte sich gegen den Text des Kurators Hou Hanru, in dem dieser die Meinung vertrat, das kemalistische Projekt begünstigte in der Türkei ein Modernisierungsmodell von oben nach unten. In ihrer Entgegnung verurteilte sie Hou dafür, eine "vorsätzliche Erklärung, die über Ignoranz hinausgeht" abgegeben zu haben. [1] Die öffentlichen Proteste gegen die nächsten Editionen kamen aus verschiedenen ideologischen Lagern, und sie waren sicher viel schärfer.
Als das Kuratorinnenkollektiv WHW ein regelrechtes politisches Statement über ihre Kunstauffassung artikulierte - bezugnehmend auf den von ihnen so verehrten Bertolt Brecht - schlug ihnen eine starke Protestwelle entgegen, die sich auf den Beginn des zehnjährigen Sponsorings der Biennale durch die Koç Holding bezog, eine der größten Industrie- und Finanzgruppen des Landes. Trotz der verschiedenen Ebenen des Ärgers hatten die Protestierenden eine Gemeinsamkeit: Sie fanden die politisch aufgeladenen Ansätze von WHW widersprüchlich und unehrlich und folgten dem Argument, dass die finanziellen Strukturen der Biennalen möglicherweise deren Ästhetik und Politik bestimmen.
Die Reaktionen gegen die Sachverhalte des Sponsorings halten an. Aber in diesem Jahr gab es eine andere Art des Protests gegen das Team der Biennale. Am 10. Mai richteten die Public Programs die Veranstaltung "Public Capital" in der Business Suite eines vornehmen Hotels aus - anschließend erfuhr ich, dass die Künstler, die an jenem Tag den Performance-Vortrag darboten, diesen speziellen Ort dafür haben wollten. [2] Eine Gruppe von Aktivisten führte einen "stillen" Protest durch, bei dem behauptet wurde - ich wage es zu überspitzen -, dass die Biennale wegen des besonderen Sponsorings ein Teil des Problems der Gentrifizierung in der Stadt ist.
Die Protestierenden wurden nach draußen befördert - nicht gerade sanft, und die Kuratorin ging zur Polizei und verklagte einen Künstler wegen persönlicher Belästigung. Den dagegen gerichteten Protestbrief, der Anfang Juni veröffentlicht wurde, haben viele Leute unterzeichnet, darunter etwa 180 Künstler, Kuratoren, Schriftsteller und Kunstspezialisten unterschiedlicher Herkunft und Ideologien. [3] Sie verurteilten die "autoritäre, voreingenommene und unkommunikative Haltung" der Biennale gegenüber "anderen Stimmen". Das hätte ein Weckruf sein müssen, denn dieses Mal erhob ein Großteil der Kunstszene die Stimme gegen die Standpunkte und die strukturellen Aspekte innerhalb der Istanbul Biennale als Institution. [4]
In einem Gespräch Ende September äußerte sich Andrea Phillips, die Ko-Kuratorin für das öffentliche Programm, explizit zu diesem Protest. [5] Sie betonte die dringende Notwendigkeit, über die Konzeptualisierung des Publikums durch prominente, alle zwei Jahre ausgerichtete Kunstveranstaltungen nachzudenken. Sie fragte, wie eine Zementierung der grundlegenden Trennung zwischen den Machern und den Rezipienten der intellektuellen Produktion zu vermeiden sei. Wie kann eine Kunstinstitution - ohne Berücksichtigung ihres Stifters oder Sponsors - Strukturen schaffen, durch die eine solche Teilung zu überwinden wäre? Und kann das Format der Gruppenausstellung überhaupt effektiv genug sein, um mit diesem Problem umzugehen?
Den ganzen Sommer über gab es eine wachsende Erwartung, dass Erdemci eine radikale kuratoriale Geste tätigen würde, um auf die gegenwärtigen Bedingungen in der Türkei zu reagieren. Die Erwartungen richteten sich nicht so sehr auf die Auswahl von Kunstwerken, sondern vielmehr auf mögliche strukturelle Entscheidungen, die unvorhergesehene Modelle erfordern würden. Es ist wohl unfair, eine solche große kuratoriale Geste zu verlangen, die in nur zwei Monaten umgesetzt werden müsste. Und es sind gewiss großartige Werke ausgestellt, die zwar nicht sogleich auf die Gezi-Proteste reagierten, aber mit ihnen und um sie herum gedacht sind. [6] Doch bleibt die Frage: Wie könnte das Format der Gruppenausstellung dem entsprechen, was wir in Istanbul heutzutage fühlen und erleben?
Es scheint so, als wenn der Rhythmus und das Modell einer Biennale nicht in der Lage sein werden, mit der Gegenwart Schritt zu halten, es sei denn, es gäbe ein anderes Maß des Engagements für das Publikum. Ein von unten nach oben konzipiertes Programm, das über die alle zwei Jahre stattfindenden Events hinaus fortgesetzt wird, ist nur eine der möglichen Optionen. [7] Es wird zunehmend schwierig, die Istanbul Biennale anzunehmen, wenn man uns nur losgelöste Gruppenausstellungen vorsetzt, womöglich mit Protesten gepaart, die während der Veranstaltungen aufflammen und anschließend wieder erlöschen. Die Konsequenzen des Festhaltens an den erlernten Formaten und Positionen könnten diese Struktur ernsthaft beschädigen. Die Istanbul Biennale hat die Kunstszene der Stadt seit 1987 stark verändert. Ich wünsche nur, sie möge relevant bleiben.
Anmerkungen:
Özge Ersoy
Kuratorin und Autorin, derzeit Projekt-Managerin von Collectorspace in Istanbul.
13. Biennale Istanbul
14. September - 20. Oktober 2013
Titel: Mom, am I barbarian?
Kuratorin: Fulya Erdemci
Teilnehmer: 88 Künstler und Kollektive
Public Alchemy
Öffentliches Programm, ko-kuratiert von
Fulya Erdemci und Andrea Phillips
Veranstalter: