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Rezension und Fotos des multidisziplinären Forums für Kulturelle Praktiken in Beirut, das in diesem Jahr eine erheblich größere Reichweite erlangte.
Von Kaelen Wilson-Goldie | Jun 2013Fotos: Ausstellung und Events ►
Über ein Jahrzehnt lang ist das Home Works Forum für Kulturelle Praktiken der Rolle einer internationalen Biennale zeitgenössischer Kunst in Beirut näher als jede andere Langzeitveranstaltung dieser Art gekommen. Doch auf mancherlei ausgeprägte und absichtliche Weise unterscheidet es sich von solch einem Format. Das Home Works, organisiert von der Libanesischen Assoziation für Bildende Künste, Ashkal Alwan, besteht aus Ausstellungen, Tanz- und Theateraufführungen, Film- und Videoscreenings, Buchvorstellungen, Konzerten, speziellen Projekten, Gesprächen, Diskussionen, Debatten und mehr. Es folgte nie einem strikten oder regelmäßigen Ablaufplan. Man kann eigentlich nur sagen, dass es alle paar Jahre stattfindet oder wann immer es die politische Situation in der Stadt, im Land oder in der Region erlaubt. Es gibt das starke Empfinden, Home Works geschieht dann, wenn es möglich ist und gebraucht wird. Verschiebungen und Unterbrechungen gehören seit Langem zum Mythos der Veranstaltung. Aufgeschoben werden musste sie wegen des Beginns der zweiten palästinensischen Intifada 2000, der Invasion in den Irak 2003, der Ermordung des früheren libanesischen Premierministers Rafik Hariri 2005, dem Krieg mit Israel 2006 und dem Ausbruch gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und ihren politischen Rivalen in den Straßen von Beirut 2008.
Außer bei der ersten Edition - die auf Kunst und Künstler aus Ägypten, Iran, Irak, Libanon, Palästina und Syrien fokussiert war - definierte sich Home Works nie durch Zeit (die Betonung des Derzeitigen oder Neuen), Raum (verbunden mit einem bestimmten Platz, Ort oder Viertel), Geographie (sich auf das beziehend, was als die Kunst des Nahen Ostens oder der arabischen Welt erachtet wird) oder ein Medium. Es ist durch und durch multidisziplinär. Es entspricht den Bedürfnissen der Stadt. Es erfasst und erzeugt einen unglaublichen Sinn für Dringlichkeit. In der lokalen Kunstszene identifiziert es kritische Themen, und es war immer offen für Beiträge aus anderen Disziplinen und sogar davon abhängig. Unter den Teilnehmern der ersten fünf Editionen sind zum Beispiel Jacques Rancière, die Otolith Group, Critical Art Ensemble, der Anwalt für Menschenrechte Nizar Saghieh und Ali Fayyad, Stratege der Hisbollah und Abgeordneter des libanesischen Parlaments.
Die sechste Edition von Home Works, die im Mai 2013 fünfzehn Tage lang stattfand, unterschied sich von den letzten beiden Veranstaltungen dahingehend, dass sie zumindest auf dem Papier kein Thema oder Themen vorgab. Im Vorfeld gab es nur einen evokativen Text, verfasst von Christine Tohme, der dynamischen Leiterin und Mitbegründerin von Ashkal Alwan. Und so wie ein Code, der jeden Tag und mit jeder Arbeit zu entziffern ist, hatte dieser Text doch alles in sich, einschließlich eines akribischen Arrangements sorgfältig geplanter und dargelegter Ideen in Bezug auf Probe, Wiederaufführung und vorläufige Gerechtigkeit. Zu den anderen Themen, die sich im Laufe des zweiwöchigen Programms abzeichneten, gehören Körper, Autorität, Bescheidenheit, Probleme zwischen den Geschlechtern, häusliche Gewalt, das Sprechen und das Schweigen und die niederschmetternde Irrelevanz intellektueller und ideologischer Eliten.
Der Autor und Akademiker Tarek El-Ariss hielt einen Vortrag mit dem Titel "Majnun Strikes Back" (Majnun schlägt zurück), in dem er untersuchte, wie Majnun Layla, eine archetypische Liebesgeschichte aus dem 7. Jahrhundert, in zeitgenössischen Werken der Kunst, des Theaters und der Literatur nachgezeichnet ist, vom Sub-Genre der Bürgerkriegsromane (The Stone of Laughter von Hoda Barakat, The Story of Zahra von Hanan al-Shaykh) bis zu den populären türkischen Seifenopern. Der Protagonist der ursprünglichen Geschichte, ein Dichter, der vor Sehnsucht vergeht und durch die Trennung von seinem Geliebten den Verstand verliert, wurde als ein unkonventioneller schwuler Mann in einem Milieu rekonfiguriert, in dem Homosexualität als eine eruptive Form der Rebellion funktionierte und Krieg als eine Erfahrung brutaler Gewalt und zugleich sexuellen Rausches. In die Ausführungen von Ariss war eine subtile Neubewertung von kultureller Produktion und Geschlechterpolitik in Beirut in den 1980er Jahren eingewoben.
Barakat ihrerseits hielt eine flotten und prägnanten Vortrag über die biblische Gestalt des Hiob, dessen Leiden dem vieler ihrer fiktionalen Charaktere ähnelt. Doch treffender bei ihrer Teilnahme war die anschließende Diskussion über ihren Beitrag, in der sie auf die Literatur der 1990er Jahre zurückblickte und die dazu beitrug, die Kluft zwischen einer älteren Generation von Romanciers und einer jüngeren Künstlergeneration zu überbrücken. "Seit einem Jahrzehnt habe ich von dieser Generation gehört", sagte Barakat, "aber ich hatte keine Ahnung, dass ihr so viele und so kreativ seid. Ich bin aus diesem Land abgehauen. Ich war von diesem Land verletzt. Ich dachte nicht, dass ich wie diese Land sein würde. Aber ich hoffe, ich bin wie ihr. Ich hoffe, meine Kinder sind wie ihr. Und ich danke euch, ich danke euch millionenfach, dass ihr mich zu meinem Land zurückgebracht habt." Heikler war die Wiederbelebung alter Debatten bei den Touren von Ghalya Saadawi durch die Innenstadt in der Nacht und am frühen Morgen, die aufzeigten, in welchem Ausmaß Solidere, das für die Rekonstruktion des Stadtzentrums zuständige private Immobilienunternehmen, ganze urbane Viertel von den Bewohnern und Besuchern abgeblockt hat.
Erstmals beauftragte Ashkal Alwan einen Kurator von außerhalb mit dem Ausstellungsprogramm von Home Works, und so organisierte Tarek Abou El Fetouh eine hervorragende Schau ohne Titel, die in drei Sektionen mit jeweils etwa einem halben Dutzend Künstlern unterteilt war. Konzipiert als eine Serie von Neuinszenierungen sollte sie die Atmosphäre von drei historischen Ausstellungen erfassen: der ersten Biennale Arabischer Kunst in Bagdad 1974; der ersten Edition der Alexandria Biennale 1955; und "China/Avant-Garde", einer Schau in der Nationalgalerie von Beijing, die von den Autoritäten 1989 am Tag ihrer Eröffnung gleich wieder geschlossen wurde.
Der Haken bestand darin, dass sie dies ohne irgendwelche Bezüge zu den originalen Ausstellungen tat und ohne die Werke oder Künstler, die in diesen vertreten gewesen sind. Nur digitale Kopien der drei Kataloge waren einbezogen. Stattdessen kam Arbeiten von solchen Künstlern wie Ali Cherri, Cao Fei, Iman Issa, Basim Magdy, Wang Ningde, Walid Raad, Khalil Rabah, Wael Shawky, Mounira al-Solh, Walid Sadek und Song Ta die Aufgabe zu, in einer Art selbst gestalteten Echokammern nachzuhallen, mit Themen aus der Vergangenheit, die in der zeitgenössischen Kunst der Gegenwart laut ertönen. Fetouhs Interesse an abrupten Sprüngen zwischen Zeit und Raum, von einer Ära oder Geographie zur anderen, charakterisierte auch eine Performance der Künstler und Kuratoren Yazan Khalili und Lara Khaldi, die zeitgenössische Liebesbriefe auf die unglückselige politische Union des arabischen Nationalismus in den 1960er Jahre aufpfropften, wobei sie auf Videoarbeiten von Jumana Emil Abboud und Basma Alsharif zurückgriffen.
Fetouh legte großen Wert darauf, keinerlei Werke über den Bürgerkrieg oder basierend auf Archiven einzubeziehen, sondern er zog es vor, eine separate Bibliothek in einem allgemeinen Raum zwischen den drei Sektionen seiner Ausstellung zu zeigen. Das soll nicht bedeuten, dass Archive ganz und gar abwesend waren. Präsentationen von Catarina Simão und Subversive Films arbeiteten Archivmaterial aus Mosambik und Palästina auf. In dem Film Broken Record hatte es Parine Jaddo mit einem Archiv verlorener Lieder im Irak zu tun. Flip Book von Boris Charmatz befasste sich mit einem Archiv von Bewegungen, verkörpert und inszeniert von seinen Tänzern als Hommage an die Choreographie von Merce Cunningham. In ihrer Vortragsperformance benutzte Marwa Arsanios die Geschichte eines Magazins (Al-Hilal aus Kairo) als Ausgangspunkt für eine Hinterfragung von Schauspielerinnen, Stellvertreterinnen und Doubeln, um die Rolle des Feminismus in progressiven politischen Bewegungen, die zu bewaffneten Aufständen führten, zu untersuchen. Und eine neue, fesselnde Performance von Rabih Mroué mit dem Titel Riding on a Cloud vertiefte sich in eine herzzerbrechende Geschichte über Verletzung, Behinderung und Zerstörung einer Kultur durch die gezielte Ermordung linker Intellektueller im Libanon während der 1980er Jahre.
Wie es scheint, ging es bei alledem nicht darum, die Vergangenheit ans Licht zu holen, sondern vielmehr Geschichte anders zu sehen und Material, Gedanken, Dinge, Gerüchte und Wünsche wiederherzustellen, die zuvor vermisst, verloren, verschüttet oder vergessen gewesen sind. Was während Home Works 6 meist aufkam, war weitaus emotionaler als es irgendetwas sonst in der zeitgenössischen Kunstszene der Stadt, die als absolut kopflastig gilt, bislang zugelassen hatte. Nirgendwo wurde dies deutlicher, als in der Beiruter Version von Matthias Lilienthals X-Apartments Projekt. Als Theatermacher und Dramaturg, der gegenwärtig den zweiten Jahrgang von Ashkal Alwans experimenteller Kunstschule, das Home Workspace Programm, leitet, beauftragte Lilienthal seine vierzehn Studenten, neue Werke zu schaffen, die in einer Reihe privater Wohnungen der Viertel Bourj Hammoud und Khandaq al-Ghamiq zur Aufführung gelangten. Sie konnten vom Publikum immer nur zu zweit im Rahmen von zwei dicht geplanten Rundgängen gesehen werden. Die so entstandenen Arbeiten erschlossen sich Themen im Zusammenhang mit Arbeit, Beziehungen innerhalb von Migrantengemeinden, Gewalt gegen Frauen (von Vergewaltigung durch Ehemänner bis zu Missbrauch von Dienstmädchen), Homophobie, Rassismus, Hassverbrechen - eine Welt von vordem nicht angesprochenen Problemen. Und dennoch offenbarten jene Werke eine faszinierende Rollenbesetzung, einfallsreiche Formen von Kunstausübung im kleinen Maßstab, eine große Liebe zur Sprache, schöne, wenn auch zerbröckelnde Architektur, altmodische Manieren und Millionen vergrabener Geschichten, die darauf warten, erzählt zu werden. Von daher hat Home Works 6 seine Reichweite erheblich ausgedehnt und produktiv bestätigt, dass es sich auf kein Modell festlegen lässt, wie eine solche Veranstaltung zu sein hätte.
Siehe auch die Fototouren:
>> Ausstellung
Fotorundgang durch die von Tarek Abou El Fetouh kuratierte Schau mit Arbeiten aller 18 Teilnehmer.
>> Veranstaltungen
Fotos einiger Orte, Veranstaltungen und Protagonisten.
Kaelen Wilson-Goldie
Autorin, lebt in Beirut. Redaktionelle Mitarbeiterin von Bidoun; schreibt u.a. für The Daily Star, Artforum, Frieze.
Direktorin & Produzentin: Christine Tohme
Kurator der Ausstellung: Tarek Abou El Fetouh
X-Apartments Projekt: Produziert von Matthias Lilienthal, mit Teilnehmern des Home Workspace Program 2012-13
Partner und Teilnehmer weiterer spezieller Projekte sind im Programm aufgelistet
Home Works Forum 6
14. - 26. Mai 2013
Beirut, Libanon
Veranstalter: