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Politische und kulturelle Veränderungen in Jordanien. Interview mit Toleen Touq, Teilnehmerin des 4. Jungkuratoren-Workshops der Berlin Biennale.
Von Paz Guevara | Sep 2012Der Jungkuratorenworkshop Curating in Times of Need im Rahmen der 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst lud in diesem Jahr 14 junge Kuratorinnen und Kuratoren zur Teilnahme an einem neuntägigen Workshop nach Berlin ein. Ein Treffpunkt, um dringende Fragen zu stellen, die sich aus den politischen und kulturellen Umbrüchen ergeben – von der Arabischen Revolution, über die Occupy-Bewegung bis hin zu den studentischen Protesten in Chile –, aber auch, um über die Notwendigkeit zu diskutieren, Kraft der Kunst alternative Gesellschaften zu imaginieren.
Toleen Touq, Kuratorin aus Jordanien, wurde als Teilnehmerin für den Workshop ausgewählt. Im Interview spricht sie über die politischen und kulturellen Veränderungen in ihrer Heimatstadt Amman und gibt Auskunft darüber, in welchem Sinne ihre Projekte den Menschen eine Stimme verleihen oder wie sie neue Erzählungen und Debatten in der gegenwärtigen kritischen Kultur in Jordanien ermöglichen.
Paz Guevara: Wie nimmst du die Reaktionen der kulturellen Institutionen in Amman auf die Revolutionen in der arabischen Region wahr und wie artikuliert sich die gegenwärtige kulturelle Debatte in Jordanien?
Toleen Touq: Erstens ist es wichtig zu bemerken, dass die Revolutionen in der arabischen Welt die Menschen in Jordanien auf der Straße erreichten, wo sie ihren Protest mit dem Ruf nach Reformen des Regimes und nicht des Umsturzes begannen. Die ArbeiterInnen protestierten und streikten für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und zugleich eskalierte die Debatte in der öffentlichen und privaten Sphäre. Diese Stimmung sickerte natürlich zu den KünstlerInnen und Institutionen durch, genau wie zu jeder anderen Gruppe auch. Aber alles in allem wurden die Machtstrukturen in Jordanien keineswegs reformiert, und das, was in den zurückliegenden 18 Monaten geschehen ist, kann man als vertuschende und kurzfristige Lösung auf systematische und strukturelle Probleme sehen, die das Land in dem aktuellen Zustand der Instabilität belassen.
Zuerst einmal würde ich sagen, dass die meisten kulturellen Institutionen ihr Programm nicht substanziell mit den Aufständen in der arabischen Welt veränderten; die Veränderungen passierten woanders. Öffentliche Räume wurden zu Orten der kulturellen Manifestationen und zu neuen Instanzen für kulturelle und politische Debatten. Zugleich entwickelten sich unabhängige KünstlerInnen und Initiativen zu jener Kraft, die die kulturelle und politische Agenda der Stadt verändern.
Was zurzeit häufiger passiert, ist, dass unabhängige KünstlerInnen (wie RapperInnen und MusikerInnen) und Initiativen (beispielsweise lose Kollektive, die an politisch motivierten kulturellen Veranstaltungen arbeiten oder BürgerjournalistInnen) ihre eigenen Veranstaltungen, Programme und Ideen initiieren, die die Institutionen oder Orte dann hosten, anstatt darauf zu warten, dass sie in ein Programm aufgenommen werden. In diesem Sinne kann man sagen, dass sie die kulturellen Räume der Stadt besetzen.
Institutionen, die vornehmlich gemeinnützig oder privat betrieben werden wie beispielsweise der Makan Art Space, das Al-Balad Theater und Darat Al-Funun waren in ihrem Programm auch vorher schon kritisch und couragiert und setzen seit den Aufständen ihre Arbeit mit den jeweiligen Programmen fort (Ausstellungen, Debatten über die aktuelle politische und soziale Situation in Jordanien, aktivistische Filmvorführungen, politische Konzerte, provokante Stücke zu Genderfragen usw.).Wir sollten auch anerkennen und uns daran erinnern, dass dieser Widerstand bereits vor 2011 existierte und dass die Beteiligten jetzt darin fortfahren, kritische Bewegungen zu unterstützen.
Auf der anderen Seite aber verharren Institutionen, die weniger sozial und politisch engagiert waren (wie beispielsweise staatliche und kommunal betriebene Theater), in ihrer Arbeit. Die radikalsten AkteurInnen waren natürlich die BürgerInnen selbst, sowohl individuell als auch kollektiv. Mit Taktiken der Basisbewegung aktivierten sie den öffentlichen Raum, artikulierten neue Stimmen, Agenden, Ausdrucksweisen und Debatten. Sie sind diejenigen, die letztlich eine neue Kultur in Jordanien entwickeln. 2011 sind zahlreiche kreative Manifeste mit politischen Forderungen erschienen (Online-Videos und Animationen, Graffiti, Hip-Hop, Flash Mobs usw.). Der politische und künstlerische Gebrauch von Online-Netzwerken, wo Filme, Videos und Musik mit politischer und sozialer Motivation hochgeladen werden, war entscheidend, um die neuen Forderungen und Bilder einer größeren Gemeinschaft gegenüber zu kommunizieren. Zugleich bieten diese Medien eine Alternative und sind ein gutes Instrument des politischen Drucks wie beispielsweise 7iber, Ammannet und die üblichen Facebook und Twitter-Ableger). Die Hip-Hop-Szene wurde zu einem der bedeutendsten Felder politischer Debatten, und zwar in sehr kreativer und gut produzierter Weise. Letztendlich diente sie der Ermächtigung unabhängige AkteurInnen, aber im Lichte konservativer Politik und Denkweisen bleibt es eine Herausforderung.
Paz Guevara: Du hast kürzlich als Residency-Bloggerin des Manifesta Journals einen Blog über die aktuelle Situation in Amman geschrieben, in dem du die Veränderungen und die Wiederaneignung des öffentlichen Raums beschrieben hast. Deine Blogeinträge hast du als „Monumente der Verzweiflung“ betitelt, und der Hauptsitz des Protests in Amman war Startpunkt für deine Analyse. Kannst du uns die neue Bedeutung, den Gebrauch und den erinnernden Wert dieser öffentlichen Plätze kurz beschreiben?
Toleen Touq: Der erwähnte Platz ist Duwwar Al-Dakhiliyeh, übersetzt „Innerer Kreis“, ein zentraler Ort des öffentlichen Verkehrs in Amman. Am 24. und 25. März 2011 fand dort die größte Demonstration statt, die den Versuch unternahm, dort solange einen Sit-in oder ein Zeltlager für DemonstrantInnen zu etablieren, bis auf die Forderungen nach einer systematischen Reform eingegangen wird – zu der Zeit gab es sieben klare Ziele für ökonomische, politische und soziale Gleichberechtigung als auch für die Beendigung von Korruption und Betrug. Am zweiten Tag wurde das Sit-in gewaltsam durch die Gendarmerie beendet. Dieses Ereignis bestätigte sich als Wendepunkt für den Diskurs über die Reformbewegung, aber auch die Bewegung selbst und der Ort entwickelte sich gleichzeitig zur Referenz für den politischen Willen wie auch der Unterdrückung. Einige Monate später wurde der Platz neu gestaltet. Man stellte eine Reihe von eingezäunten Pflanzenkübeln auf und eine riesige steinerne und schwarze Plakatwand wurde errichtet, bar jeder Beschriftung. Durch diese Veränderungen ist es keiner großen Gruppe mehr möglich, sich dort zu versammeln. Es ist durchaus interessant, an dieser Stelle über die urbane Planung im Dienste der Politik (durch die Autoritäten) nachzudenken, aber ich versuchte – auch mithilfe des Blogs – mir anlässlich der Neugestaltung subversive bürgerliche Handlungen vorzustellen, wie der maskierte Angreifer, der einen Text des Gedenkens für den Mann anbrachte, der während der Demonstrationen starb. [1]
Paz Guevara: Nach einer fast ein ganzes Jahrhundert währenden Monarchie spricht der jordanische König, unter dem Druck der großen Aufstände, über demokratische Reformen. Was sind in dem Kontext der sozialen Reformen in Amman die Bedürfnisse und wie verlaufen die Debatten der Kulturtätigen?
Toleen Touq: Eine gegenwärtige Forderung im Kulturbereich ist der Bedarf an unabhängiger lokaler und regionaler Unterstützung für künstlerische und kreative Programme, die nach Unabhängigkeit von auswärtigen Förderungen aus Europa und den kulturellen und sozialen Einrichtungen der USA verlangt. Es ist eher ein klares Votum für regionale Kollaborationen als für den kulturellen Dialog, der gewöhnlicher Weise eine Voraussetzung für die kulturelle Förderungen durch diese Organisationen ist; ein Umstand, der dazu beigetragen hat, dass zahlreiche europäische KünstlerInnen anlässlich von Tanz-, Theater- oder Filmfestivals Jordanien besucht haben, was allerdings nur wenige jordanische KünstlerInnen dazu verhalf, ins Ausland zu reisen. Kulturschaffende realisieren jetzt, dass sie Geschlossenheit zeigen müssen, wenn sie diese Einflüsse bekämpfen wollen. Ebenso, um die Regierungshegemonie über eine Staatskultur zu bekämpfen als auch den vollständigen Mangel an Unterstützung für unabhängige KünstlerInnen und Orte – ganz zu Schweigen von der fehlenden Programmgestaltung regierungseigener Orte. Ich denke, dass sich KünstlerInnen und VermittlerInnen zunehmend darauf konzentrieren werden, ihre eigenen lokalen und kritischen Referenzen herauszuarbeiten.
Obwohl die Monarchie ihren Ruf nach Reformen angekündigt hat, ist die Situation eher vielschichtig als hoffnungsvoll. Die Autoritäten haben eine geschickte Balance gefunden, Demonstrationen zuzulassen, ohne aber Veränderungen substanziell zu implementieren. Da sich die Dinge nicht verändern, während die Menschen aber weiterhin hinaus auf die Straße gehen, breitet sich in der Öffentlichkeit ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit aus. Und genau das hält, zusätzlich zur zunehmend schwierigen ökonomischen Situation, die Straßenbewegung zahlenmäßig begrenzt. Ich denke, wir sind jetzt in einem Zustand der Desillusionierung angelangt, der sich auch auf die Künste und den kulturellen Sektor überträgt. Es ist ein langsamer Prozess.
Paz Guevara: Du bist seit 2010 Direktorin und Ko-Kuratorin des Hayaka Festivals, ein Programm, das sich dem Storytelling, der Performance und der mündlich überlieferten Geschichte widmet. Welches Potenzial haben individuelle Erzählungen, um eine neue kollektive Erzählung und auch einen kollektiven Widerstand gegenüber der hegemonialen Erzählung eines Landes zu schaffen?
Toleen Touq: Da ein Großteil der kulturellen Identität der Region durch mündlich überlieferte Geschichte vermittelt ist, versucht das Festival hierfür einen Raum zu schaffen, um mithilfe von Performances, Storytelling, Filmen und Forschungsarbeiten einen Weg zurück in die Öffentlichkeit zu finden. Die kollektive Erzählung, die sie erschafft, ist regional. Mit der programmatischen Setzung von KünstlerInnen, Gruppen, HistorikerInnen und Kulturtätigen aus dem Mittelmeerraum bedienen wir eine Vielzahl von Geschichten (wie John Berger sagte: „Nie wieder soll eine einzige Geschichte so erzählt werden, als sei sie die einzige.“). Geschichten – ob fiktiv oder real – sind in der Unmittelbarkeit der Performance wirkungsvolle Mittel gegen die staatliche Erzählung und erinnern uns unter anderem an den mythischen Charakter der Grenzen.
Paz Guevara: Ist dein Projekt Der Klagechor von Amman eine Möglichkeit, diese Gegen-Erzählung zu artikulieren?
Toleen Touq: Ja, ich denke schon. Der Klagechor ist ein kollektives Anliegen; durch einen öffentlichen Aufruf kann jeder den Workshop, der die Performance vorbereitet, besuchen. Durch das Workshop-Format werden gemeinschaftlich Liedtexte geschrieben und Musik komponiert, und das Resultat ist das Ärgernis für alle Zensurstellen: Menschen, die gemeinsam darüber sprechen und singen, zynisch, was unfair in unseren Gesellschaften ist und was sich ändern soll. Das musikalische Element fügt hier vieles hinzu: Es findet bei sehr unterschiedlichem Publikum große Beachtung und erzeugt eine ironische Wendung der präsentierten Themen. Wir haben den Chor bisher dreimal in Amman produziert; den ersten für den Music Freedom Day 2011 und den zweiten und dritten auf dem Alternative Music Festival und einem öffentlichen Platz auf der Rainbow Street in der Gegend Jabal Amman.
Paz Guevara: Siehst du das Potenzial der Kunst darin, Vorstellungen für eine zukünftige demokratische Gesellschaft zu entwickeln? Tragen die politischen und engagierten kulturellen Praktiken zu einer wesentlichen Veränderung in Jordaniens Gesellschaft bei?
Toleen Touq: Natürlich sehe ich das Potenzial der Kunst als imaginatives Instrument, viele Dinge zu verrichten, und nicht an Definitionen oder Beschränkungen gebunden zu sein, allerdings sind die Auswirkungen auf die Gesellschaft nur schwer messbar. Wie lässt sich erkennen, ob ein politisch engagiertes Projekt zu einer wesentlichen Veränderung beiträgt? Es gibt einige Projekte und KünstlerInnen, die in den letzten Jahren kritischen Themen gegenüber anbrachten, dass sie Aufmerksamkeit und eine graduelle Veränderung erzeugen könnten, allerdings bräuchte es Jahre, diese zu spüren. Projekte, die sich konkreter Aktionen bedienen, lassen sich leichter mundtot machen, aber beispielsweise ist es in Jordanien so, dass die Symbole der Macht nicht explizit mit Kultur- und Kunstmanifesten interagieren, so dass für uns nicht erkennbar ist, inwiefern sie das System beeinflussen. In diesem Fall kann Kunst als Erinnerung dienen, als ein Instrument des Engagements.
Sicherlich erzeugen einige Projekte Aufmerksamkeit und Diskussionen. Das Karama Human Rights Film Festival, das 2010 gegründet wurde, hat Jahr für Jahr eine enorme Anzahl an ZuschauerInnen für sich gewinnen können und präsentiert sowohl lokale, regionale als auch internationale Filme. Es findet in einem staatlichen Theaterhaus statt und überbrückt auf diese Weise zahlreiche Unterschiede hinsichtlich des Zuschauerhintergrunds und erzeugt gleichzeitig Diskussionen über sensible Themen zwischen ZuschauerInnen und FilmemacherInnen.
Andere Projekte wie beispielsweise La Valise Rouge, ein Stück, dargestellt und geleitet von Lana Naser, hinterfragt Geschlechterrollen und religiöse Zugehörigkeit, ganz besonders auf dem im letzten Jahr stattgefundenem !Aat!-Frauenfestival. Im selben Jahr präsentierte Makan im Eigenvertrieb ein panarabisches politisches Comic-Projekt, initiert vom Grafikkünstler Ganzeer aus Ägypten und Nidal El-Khairy. Und El-Far3i’s Hip-Hop-Aufführung präsentierte einige der mutigsten Liedtexte der zeitgenössischen Musik und Kultur in Jordanien. Diese Arbeiten waren bedeutend, denn in der jordanischen Gesellschaft ist jetzt die Zeit der Selbstprüfung. Und ein Weg hiervon – wenn auch nicht immer der unmittelbarste – ist die Kunst.
Anmerkung:
Paz Guevara
Autorin und Kuratorin aus Chile. Lebt in Berlin, Deutschland, und in Lateinamerika.
Curating In Times Of Need
4. Jungkuratorenworkshop
29. Mai - 6. Juni 2012
Organisiert von der 7. Berlin Biennale in Zusammenarbeit mit der Allianz Kulturstiftung, Berlin, BMW, München, und dem Goethe-Institut e.V., München.
Konzept und Koordination:
Paz Guevara
Anke Schleper