Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.
Ästhetik. Einführung in die von 8 Künstlern organisierte Ausstellung "Politik" im Centre National d'Art Vivant de Tunis.
Von ismaël | Mai 2012Dem Politischen und dem Künstlerischen ist gemein, dass beide Bereiche das Leben in der Stadt durchziehen. Doch im Gegensatz zur Politik, die das städtische Leben regelt, befreit die Kunst es. In einer politisch turbulenten Zeit (dem "Zusammenprall von Zivilisationen", "arabischen Revolutionen" und aufkommenden "globalen Konflikten"…) erlangen die Künste eine zunehmend wachsende Bedeutung, weil sie die Antithese der Ideologien präsentieren. Sie werden den Lauf der Geschichte nicht ändern, aber ihre schiere Existenz verleiht dem Kampf einen raison d’être.
Genauso wie wir Ideen teilen, teilen wir Kunstauffassungen, wenn auch auf eine eher implizierte, subtilere Weise. Wenn wir dafür aufnahmebereit sind, kann uns die Ästhetik irgendwie vermitteln, dass es im Grunde nicht um die Hoffnung geht, im Kampf zu siegen, sondern darum, Freiheiten aus dem städtischen Leben zu gewinnen. Die Temporalität des Kunstwerks (ist Kunst prophetisch, begleitet sie Ereignisse oder blickt sie vielmehr zurück?) ist ein falsches Problem. Das Kunstwerk reagiert nicht auf die Zeitlichkeit des Politischen oder Historischen.
Die Erkundung und die formalen Besonderheiten der in der Schau "Politik" ausgestellten Kunstwerke an sich reichen über das "Hier und Jetzt" (das nichtsdestotrotz der Ausgangspunkt der Werke ist) hinaus, hin zu ästhetischen Angeboten, die Politik im tunesischen Schaffen sowie das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft neu definieren.
Nidhal Chamekh und Ymène Chetouane gehen von realen und zumindest in der kollektiven Imagination klar identifizierten Figuren aus: den Märtyrern der tunesischen Revolution und den Niqab tragenden jungen Frauen. Doch am Ende des Schaffensprozesses sind diese Figuren in den Zeichnungen und den Keramiken kaum noch wiedererkennbar. Das gestalterische Werk besteht darin, das reale Bild zu pervertieren, es schließlich zu einer hybridisierten Figur durchzukneten. Durch nicht identifizierbare Kreationen verschleiern beide Künstler diese Identifikation in der kollektiven Vorstellungswelt.
Auf ähnliche Weise nehmen Atef Maatallah und Ibrahim Màtouss reale Figuren zu ihrem Ausgangspunkt, das sind jedoch anonyme Leute, die sie auf der Straße treffen. Doch in ihrem Falle bleiben ihre Werke bis zu einem gewissen Grad einer "realistischen" Darstellung verbunden. In Ibrahims Gemälden ähnelt die bildnerische Arbeit der Bearbeitung des Bodens: Schichten von Material, Reliefs der Oberfläche, Dichte der Formen. Das Bild, das wie eine Landschaft wirkt, erscheint erst nach einem langen Prozess der Aufdeckung durch die Elemente, die das Universum des Künstlers ausmachen: Feuer, Papier, Leim, Farbe… Die Linie gräbt ihr Bild als Furche in ein Feld oder einen von Felsen gesäumten Fluss. In der Darstellung geht es demzufolge vornehmlich um das Organische. Das Bild ist Tochter des Baums.
Atef dreht die Leinwand um. Von Anfang an entterritorialisiert er seinen bildnerischen Raum, um seine Konstellation marginaler Charaktere in einem Land ohne Bild zu verankern. Die Gemälde treten aus genauer Zeichnung und einem Kontrapunkt von Details und Zeichen hervor. Die Gesichter sind sensibel wiedergegeben durch eine Nuance von Farbe, Schatten oder die Textur einer Behaarung, die nur in dem ureigenen Territorium der Leinwand widerhallt. Jedes der Gemälde ist von einem Zeichen durchzogen, das die porträtierten Charaktere tänzelnd umgibt - in den ausgestellten Werken sind es leuchtende Schneeflocken und Kopfhörer mit gewundenen Kabeln.
Fakhri El Ghezal, Maher Gnaoui und Malek Gnaoui hinterfragen das Bild selbst und dessen heutige Bedeutung im Leben der Stadt. Jeder tut dies aus einem spezifischen Blickwinkel: Fakhri durch dessen politische Instrumentalisierung, Maher durch die Appropriation alltäglicher Objekte, die zu Kunstwerken werden, und Malek durch die Subversion sozialer und ästhetischer Dogmen.
Fakhri macht Fotos von Rahmen, aus denen nach der Revolution die Porträts Ben Alis entfernt worden sind - das Bild eines Bildes, das es nicht mehr gibt. Er weicht dabei nicht von seiner üblichen formalen Vorgehensweise ab: 200 oder 400 ASA Filme, Schwarzweiß, vertikale Rahmung - eine Beharrlichkeit und Ausdauer an Haltung aufweisend, die eine tatsächliche Identität fotografischer Praxis und weit davon entfernt ist, nur eine Pose zu sein. Doch die hier gezeigte Serie bricht mit den vorhergehenden. Hier ist kein Porträt, kein menschliches Wesen. Die Fotografien sind ebenso menschenleer wie die von Fakhri fotografierten Rahmen der Bilder entledigt sind, die sie zuvor enthielten. Als wenn der Fotograf das Bild aus dem Bild entfernt hat. Indem er so vorgeht, verweist er auf die Nutzung von Bildern zu Propagandazwecken. Die Fotografie ist dazu angetan, sich selbst und ihre eigene Abwesenheit herauszufordern.
Maher fand seine Praxis der Street Art auf Wänden, aber auch in Alltagsgegenständen. Jahrelang (manchmal mit einigen Freunden) hat er auf die Türen eines von seiner Großmutter geerbten, hölzernen Schranks gezeichnet, gemalt, gekritzelt, markiert, bis ein Bild zum Vorschein kam. Maher schafft Street Art auf Wänden, jedoch auch so etwas wie "Home-Art" auf Alltagsobjekten. Wie ein Brunnenbohrer, der im Erdreich nach Wasser sucht, schneidet er Bilder und Worte aus solchen Objekten. Das verändert die Eigenart des Gegenstands nicht, nur sein Erscheinungsbild, tätowiert seine Oberfläche. Street Art bringt Kunst auf die Straße; Maher bringt Street Art in das Haus.
In meinen eigenen "TV" Videos geht es um den Mediendiskurs, insbesondere den auf das Fernsehen bezogenen. Mediendiskurse im Allgemeinen und der Fernsehdiskurs im Besonderen sind zwiespältig: sie sind prononciert und auch offensichtlich. Es gibt niemals eine Lücke zwischen diesen beiden wesentlichen Komponenten; alles ist die ganze Zeit organisiert, so dass beide den Eindruck vermitteln, harmonisch signifikant zu sein. "tv01" und das work in progress "tv02" versuchen, diesen Mediendiskurs durch den Prozess der Verzögerung von Bild und Ton zu verrücken.
Entstanden als eine Initiative der Künstler selbst, stellt die Ausstellung "Politik" Werke vor, mit denen die etablierte ästhetische Ordnung herausgefordert wird, um die etablierte politische, moralische und soziale Ordnung besser herausfordern zu können. Das "Engagement" wird nicht durch das Statement eines politisierten Diskurses oder die Bildung eines Mythos des Dissidenz ausgedrückt, sondern durch multiple Dekonstruktionen von Diskursen und Konstruktionen von Formen neu definiert.
ismaël
Video- und Experimentalfilmkünstler. Autor, Cyberaktivist und Blogger. Lebt in Tunis, Tunesien.
Künstler: Nidhal Chamekh, Ymene Chetouane, Fakhri El Ghazel, Maher Gnaoui, Malek Gnaoui, ismaël, Atef Maatallah, Ibrahim Màtouss
Die Ausstellung hat keinen Kurator. Sie ist von den Künstlern selbst mit Unterstützung der Direktorin des Zentrums, Sana Tamzini, organisiert worden.
Politiques/Politics
Gruppenausstellung
5. Mai - 10. Juni 2012