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Interview mit dem Kurator Okwui Enwezor über den Fokus des Events in Zeiten des Wandels.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Jan 2012Meeting Points ist eine multidisziplinäre Veranstaltungsreihe, initiiert 2004 von Tarek Abou El Fetouh, dem Direktor des Young Arab Theatre Fund. Seitdem wird sie von der in Brüssel ansässigen Organisation koordiniert. Die verschiedenen Editionen des Festivals finden an wechselnden Orten statt und sollen dazu beitragen, Verbindungen und Interaktionen mit und zwischen arabischen Künstlern herzustellen und zu fördern.
Okwui Enwezor leitet die sechsten Meeting Points unter dem Thema Locus Agonistes: Practices and Logics of the Civic als ein "offenes Forum für emanzipatorische Logik, neue öffentliche Sphären in der Zivilgesellschaft und künstlerische Positionen in der arabischen und der westlichen Welt".
Nach Beirut und Brüssel (Damaskus musste abgesagt werden) machte Meeting Points 6 drei Tage lang im Haus der Kulturen der Welt in Berlin Station. Zum dortigen Programm gehörten Performances, Lesungen, Workshops, Rundtischgespräche, die Wiederaufführung von Mona Hatoums "The Negotiating Table" aus dem Jahr 1983 und Videos weiterer Performances der Künstlerin sowie eine Retrospektive des syrischen Filmschaffenden Omar Amiralay und Dokumentarfilme über die Aufstände in mehreren arabischen Ländern im letzten Jahr. Meeting Points 6 wurde von Okwui Enwezor mit seinem Vortrag zum Thema "Civitas, Citizenship, Civility: Art and the Civic Imagination" eröffnet, den er im Rahmen der Mosse-Lectures der Humboldt Universität Berlin hielt.
Am 13. Januar hatten wir die Gelegenheit zu diesem Interview mit Okwui Enwezor über seine Erfahrungen mit Meeting Points:
Haupt & Binder: Als wir dich vor fast 15 Jahren im Zusammenhang mit deiner Tätigkeit als künstlerischer Leiter der 2. Johannesburg Biennale zum ersten Mal interviewten, hat dich bereits interessiert zu untersuchen, "welches die Rolle oder die Situation eines Bürgers im besonderen Kontext sich verändernder politischer Landschaften ist." [1]. Das heißt also, du bist schon seit langer Zeit auf das fokussiert, was du "civic imagination" (zivilgesellschaftliche Vorstellungskraft) nennst. Inwieweit musstest du dein kuratoriales Konzept für diese Edition von Meeting Points verändern, nachdem sich die "politischen Landschaften" in einigen arabischen Ländern seit dem Anfang des letzten Jahres so tiefgreifend zu verändern begannen?
Okwui Enwezor: Es ist interessant, meine Worte von vor 15 Jahren nochmals zu hören. Und wenn es irgendeine Genugtuung gibt, das erneut zu hören, dann hat sie mit der Konsistenz des kuratorialen Ansatzes zu tun, den ich über die Jahre hinweg verfolgt habe, insbesondere hinsichtlich des Nachdenkens über einen expansiven Kontext, in dem Künstler tätig sind, sowie mit dem weiteren Beharren auf der Notwendigkeit, jedwede geopolitische Abgrenzung in Bezug auf diejenigen zu vermeiden, die Teil eines solchen Gesprächs sein können. Und auch, sich davor zu hüten, euphorisch über die Anziehungskraft dessen zu werden, was wir "globale Staatsbürgerschaft" nennen könnten, und zwar weil diese Anziehungskraft und die sie umgebende Euphorie durch die Realitäten ständig von Grund auf modifiziert werden. Im Kontext von Meeting Points bedeutet dies, dass jedes Projekt seine eigene konzeptuelle Wertigkeit hat und man versucht, die Dinge von der Betrachtungsweise aus anzugehen, die für das jeweilige Projekt angebracht ist. So war es mir während der Arbeit für Meeting Points in der sogenannten arabischen Welt, Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten und Europa wichtiger, was dieses Projekt mich selbst lehren kann, statt mit einer eigenen vorgefassten Künstlerliste zu beginnen, also was ich selbst dadurch lernen kann - nicht vom politischen Wandel, der vonstatten geht, sondern von den kritischen kulturellen Veränderungen, die konstruiert werden und die sich ereignen, ohne dass gesagt wird, dieses kritische, künstlerische, kulturelle, kuratoriale Überdenken sei offenkundig durch die vonstatten gehenden politischen, kulturellen und ökonomischen Übergänge veranlasst. Und hinsichtlich des Zivilgesellschaftlichen habe ich bei meinen Reisen in viele dieser Länder die Gelegenheit genutzt, mich zurückzunehmen und zu versuchen, das aufzunehmen, was für mein eigenes kuratoriales Denken konzeptuell produktiv sein könnte, anstatt der Frage nach dem Zivilgesellschaftlichen als einem Konvolut von Idealen nachzugehen, das in der Region ähnlich auftreten mag - und da ihr schon so lange damit zu tun habt, wisst ihr ja, in welchem Maße und wie schnell sich die Situation in dieser Region allein in den letzten 10 bis 15 Jahren verändert hat. In den 1990er Jahren war ich Jurymitglied der Kairo Biennale, und da gab es noch keine Townhouse Gallery. Seitdem entstanden das ACAF, CIC oder die Cinémathèque de Tanger, L'appartement 22, Ashkal Alwan, das Beirut Art Center, Makan als neue Strukturen.
Binder & Haupt: Als jemand, der ein aktives Projekt im direkten Austausch mit diesen Regionen realisiert, möchten wir dich fragen, was du dorthin zurückgeben möchtest, also welche Auswirkungen soll dein Projekt auf diese Regionen haben?
Okwui Enwezor: Ich will nichts zurückgeben. Ich denke, ich befinde mich tatsächlich in einem fortlaufenden Dialog mit Kollegen und Künstlern in dieser Region als einer natürlichen Fortsetzung des sich ausweitenden Terrains, auf dem ich arbeite. Ich will nicht irgendetwas zurückgeben, denn ich kann mir nicht anmaßen, dass ich etwas habe, das ich zurückgeben könnte. Ich kann nur davon ausgehen, dass die große intellektuelle und soziale Gastfreundschaft, die mir bei diesem Projekt entgegen gebracht wurde, Bestandteil einer anhaltenden Diskussion mit Kollegen und professionellen Strukturen ist, mit denen ich seitdem gearbeitet habe.
Binder & Haupt: Wir meinten das mehr im Sinne von Ergebnissen, Auswirkungen…
Okwui Enwezor: Oh ja, die Effekte würden für mich darin bestehen, diesen Dialog fortzusetzen, diese Debatte mit den Künstlern, und nach Meeting Points weitere Projekte zu machen, und wie ihr wisst, habe ich mit zahlreichen Künstlern aus dieser Region schon seit einiger Zeit gearbeitet und werde das auch weiterhin tun. Ich kann heutzutage nicht ein Projekt konzipieren, ohne über diese expansive Landschaft nachzudenken, in der ich gearbeitet habe. Und ihr werdet das in Paris sehen, wenn ihr zu La Triennale [2] kommt, ganz einfach, weil ich - wie ich schon sagte - von Beginn an wissen wollte, was dieses Projekt mich lehren kann, und ich bin noch dabei, daraus zu lernen, von diesen Künstlern, von dieser Region.
Binder & Haupt: Wir wissen ziemlich gut, was du meinst, denn das ist auch unsere Einstellung bei der Arbeit an Universes in Universe und Nafas, die wir als einen fortwährenden Lernprozess sehen, den wir mit vielen Menschen in aller Welt zu teilen hoffen.
Okwui Enwezor: Ja, aber ich nehme an, ihr möchtet, dass ich meine Erwartungen genauer benenne… Ich würde sagen, wenn es irgend etwas gibt, das dabei herauskommt, dann ist das insbesondere die Untersuchung dieser Frage des Zivilgesellschaftlichen und seiner Bedeutung bei der Ausarbeitung eines neuen konzeptuellen Horizonts hinsichtlich dessen, wie wir über Formen zeitgenössischer Kunst denken, die aus instabilen Orten kommt, aus Orten, die noch im Werden, in Transformation oder im Übergang begriffen sind - aber darüber hinaus auch selbst hier im Westen. Deshalb glaube ich, dass wir über die Art von "Aktivistenpositionen" wie "Occupy Wall Street" (was mich nicht beeindruckt) hinausgehen müssen, denn so etwas war von Gesellschaften zu erwarten, in denen sich die Formen des Widerspruchs erschöpft haben.
Binder & Haupt: Es ist interessant, dass die Leute immer irgendeinen Ausgangspunkt brauchen, um ihr eigenes zivilgesellschaftliches Bewusstsein zu entdecken und aktiv zu werden. Hier in Berlin fand 1989 ein sehr wichtiger zivilgesellschaftlicher Prozess statt, doch heutzutage hat man den Eindruck, dass es die Aufstände in der arabischen Welt sind, die einen starken Einfluss insbesondere auf junge Leute ausüben. Das wurde ganz deutlich sichtbar, als neulich hier in Berlin Demonstranten sogar mit dem arabischen Symbol erhobener Schuhe vor den Amtssitz des Bundespräsidenten zogen.
Okwui Enwezor: Oh ja … [lacht]
Binder & Haupt: Kommen wir zu Meeting Points zurück. Gestern bei der Eröffnungsveranstaltung hast du den Unterschied betont, den es zwischen der Situation eines Betrachters (als Konsument) und dem Schritt hin zu einem Beobachter gibt, der analysiert und darüber reflektiert, was er bzw. sie sieht. Ist das der Grund, weshalb du für Meeting Points 6 das Format der szenischen Lesungen, Performances und Diskussionen gewählt hast?
Okwui Enwezor: Ich möchte klarstellen, dass ich von dem klassischen ethnographischen Teilnehmer / Beobachtermodell Malinowskis etwas abweichen wollte, bei dem eine tiefe Identifizierung stattfindet, aber irgendwie erinnert es schon daran. Aber darum geht es mir beim Kuratieren nur zum Teil. In der kuratorialen Praxis gibt es eine Art ethnographischen Vorgang, weil man sich auf eine Reise zum Sammeln, neu Arrangieren, neu Sequenzieren von Materialien, Objekten begibt, die man in eine kohärente Erzählung bringt, denn darum geht es bei Ausstellungen im Grunde. Aber statt an einer solchen Art eines linearen Rahmens einer Ausstellung zu arbeiten, habe ich mich bei diesem Projekt für hybride Formate entschieden, um jedwede Kontinuität oder Linearität zu durchbrechen.
Binder & Haupt: Da hattest du wohl auch den Gedanken einer "Agora" im Sinn, also Diskussionen, Debatten und Workshops mit dem Publikum?
Okwui Enwezor: Ja.
Binder & Haupt: Es ist interessant, dass du bei Meeting Points mit diesem Konzept einer "Agora" arbeitest, weil es - wie du ja bestens weißt - hier Berlin die Diskussionen über das Humboldt-Forum [3] und über die Frage gibt, was dessen "Agora" sein könnte, aber das wäre eine anderes Thema… Bist du noch im Beraterkreis für das Humboldt-Forum?
Okwui Enwezor: Ja, bin ich noch.
Binder & Haupt: Meeting Points 6 wird dann hoffentlich auch solche Diskussionen im Zusammenhang mit Berlin bereichern…
Okwui Enwezor: Ich habe ein Problem mit der Auffassung von "Agora", wenn nur ein bestimmter Teil der Welt redet und der andere Teil zuzuhören hat. Aber ich denke, es ist durchaus ein lohnenswerter Ansatz, doch ob er tatsächlich umgesetzt wird, muss man abwarten und sehen. Ich habe meine eigenen Ansichten darüber schon öffentlich geäußert und gieße besser nicht noch mehr Öl ins Feuer. Aber ich denke, das Agora-Konzept und die Auffassung von einem Parlament an Stimmen, einem Parlament an Perspektiven, wird dringend gebraucht, weil Ausstellungen allein nicht ausreichen.
Binder & Haupt: Gestern bei deinem Vortrag und auch als wir deinen Einführungstext lasen, hatten wir den Eindruck einer gewisse Trennung zwischen politischem Aktivismus und künstlerischen Aktionen. Inwieweit hältst du es für möglich, dass Kunst angesichts der relativen Freiräume, die Künstler mitunter selbst in diktatorisch bzw. absolutistisch regierten Ländern haben (oder sich nehmen), eine "Praxis" oder ein Modell zivilgesellschaftlicher Beziehungen sein könnte?
Okwui Enwezor: Das passiert durchaus, wir kennen solche Erfahrungen aus Argentinien, Südafrika, China. Und ein Grund, weshalb es so wichtig ist, über das Zivilgesellschaftliche zu reden, besteht ja darin, dass eine Zivilgesellschaft von ihrer Definition her eine Arena ist, die sich von denen des Staates, der Familie und des Marktes unterscheidet. Aber die Zivilgesellschaft ist ein Teil jenes Ensembles, das definiert, was eine Gesellschaft insgesamt tatsächlich repräsentiert. Und in konzeptueller Hinsicht ist das der Raum, in den Kunst und Kultur eigentlich gehören, und eben nicht in den Raum des Staates und auch nicht in den Einflussbereich des Marktes, ebenso wenig in den der Familie. Kunst befindet sich auf der anderen Seite, auf der Seite des Zivilgesellschaftlichen, und ich bemühe mich darum hervorzuheben, wie den Projekten von Kuratoren und Künstlern in diesen Gesellschaften eine Schlüsselrolle zukommt, indem sie solche Werte ins Bewusstsein bringen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass künstlerische Projekte oder Aktivismus als Opposition gegen den Staat entstehen, denn dann wären sie ziemlich leicht abzuwürgen. Aber sie können innerhalb eines Staatsgebildes subversiv sein. Gerade eine solche subversive Dimension des Zivilgesellschaftlichen interessiert mich. Und das ist es, was vonstatten geht, denn wenn die Leute dazu gebracht werden, frei zu denken, ohne notwendigerweise "Aktivisten" zu sein, wird eine Subjektwerdung aktiviert, die nicht zu unterdrücken ist.
Anmerkungen:
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.
MP6 in Berlin wurde produziert vom Young Arab Theatre Fund (Leitung: Tarek Abou El Fetouh) in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt
Meeting Points 6
Locus Agonistes: Practices and Logics of the Civic
12. - 14. Januar 2012
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Künstlerischer Leiter: Okwui Enwezor
Solos & Monologe:
Omar Abusaada, Omar Amiralay, Tarek Atoui, Mohammad Al Attar, Tony Chakar, Hafiz Dhaou & Aïcha M’Barek, Oussama Ghanam, Joana Hadjithomas & Khalil Joreige, David Hare, Mona Hatoum, Samah Hijawi, Sandra Madi, Radhouane El Meddeb, Selma & Sofiane Ouissi
Gespräche:
Akeel Bilgrami, Okwui Enwezor, Mona Hatoum, Rahel Jaeggi, Chantal Mouffe, Samah Selim, Adania Shibli, Ahdaf Soueif
Retrospektive des syrischen Filmemachers Omar Amiralay (1944 - 2011)
Audiovisuelles Filmarchiv des Aufstands in Syrien, kuratiert von Rasha Salti