Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.
Essay über seine Installation "The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures", gezeigt auf der Documenta 13.
Von Serge Gruzinski | Sep 2012Wir erinnern uns an Holy Land (2006, Heiliges Land), dieses Küstenstück der Kanaren, das Kader Attia in einen Friedhof umwandelte. Das war an einem ähnlichen Strand wie die, an denen Motoboote versteckte Passiere auf der Suche nach dem verheißenen Land absetzen, zumindest jene, die nicht verschwanden, verschlungen von den Wellen. Wie so viele Stelen oder Grabsteine könnte man auch diese von weitem fälschlicherweise für im Sand steckende Surfbretter halten. Spiegel überall zeigen dem Besucher seine eigenes Spiegelbild. Eine verstörende Reminiszenz an das Verlorene an einem Erinnerungsort ohne Erinnerung, heimgesucht vom Verschwinden und von Abwesenheit. Der Strand des Atlantik scheint von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs weit entfernt zu sein. Open your eyes (Öffne deine Augen) lenkt unseren Blick auf das große Theater des modernen Krieges. Kader Attias Installation besucht einen anderen Erinnerungsort, ausgestattet mit all der Sichtbarkeit, die von offiziellen Geschichten und Gedenkritualen gewährt wird. Welten entfernt vom Strand von Fuerteventura liegen Schützengräben des Ersten Weltkriegs mit ihren zerborstenen Körpern, tot oder noch lebendig. Wenn verborgene Passagiere auf den Kanaren keine Spuren hinterlassen und der Besucher in Spiegeln nur sein eigenes Bild vor dem blauen Himmel reflektiert sieht, so blieben die Verstümmelungen des Ersten Weltkriegs zumindest auf der französischen Seite nicht unbeachtet: fotografiert, aufgezeichnet, studiert, sind sie auch - so weit als möglich - "wiederauferstanden" und wiederaufgebaut. Und deswegen repariert. Der Unsichtbarkeit der bei Holy Land fehlenden Afrikaner stellt Kader Attia diese Gespenster der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber, deren Bild bewahrt geblieben ist, weil sie zerbrochen waren - wir nennen sie "zerbrochene Gesichter" -, und doch sind sie wahrscheinlich repariert worden und infolgedessen in die Gesellschaft des Lebenden und sozial Wiederverwertbaren auf vielfältige Weise wiedereingeführt worden. Medizinisches Können, humanitäres Mitgefühl, Begeisterung über gute Werke und Wohltätigkeitsorganisationen, Heroismus des leidenden Kämpfers, Sublimierung von Kriegsschäden - Reparation beinhaltet all das, und es ist überraschend, dass Historiker und Anthropologen dem in ihren Arbeiten nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet haben. (…)
Reparieren / Ersetzen
Theoretisch endet Reparatur dort, wo Ersatz und Austausch beginnt. Ersetzen: das kompensieren, was nicht länger geflickt werden kann. Es ist auch eine Form, Distanz gegenüber dem zu wahren, was außerhalb der Reichweite liegt: schnell entwickeln die Eingeborenen in Mexiko Orgeln mit Flöten, und diese neuartigen Instrumente bringen Töne hervor, die dem Ohr der Missionare wohl gefallen. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts überschwemmen Wellen des Neoklassizismus lateinamerikanische Volks- und Barockkunst. Die Substituierung ist brutal. Barock muss zerstört und nicht mehr repariert werden. Die Aufgabe von Reparatur führt so zu Wechsel und Bruch. …
Reparieren / Verbinden
Reparieren bedeutet deshalb auch verbinden - Zeit, Leute, Dinge … -, und darum muss jede globale Geschichte der Menschheit dieser scheinbar simplen Geste und Selbstverständlichkeit eine profunde Aufmerksamkeit widmen. Sie besteht oftmals darin, einen Weg zu erfinden, eine Welt in eine andere einzufügen, und zwar nicht willkürlich, sondern um Bedeutung und soziales Verhalten einzubringen. Kader Attias Installation verstärkt Begegnungen und Zusammentreffen zwischen Welten von Angesicht zu Angesicht. Er sagte zu seiner Installation, "sie wird darin bestehen, Begegnungen zwischen westlicher und nicht-westlicher Welt in einer emblematischen Zeit ihrer Geschichte herbeizuführen, sei sie grausam oder ruhmreich gewesen. Doch über diese Gegenüberstellungen hinaus geht es in diesem Werk darum, eine Lesart von Existenz durch Universalität zu finden, statt durch eine bipolare Konfrontation zwischen westlicher und nichtwestlicher Welt." Welche Schlussfolgerung ist aus all diesen, einander gegenüber platzierten Objekten zu ziehen? Vielleicht der Ansporn, Grenzen und Auffassungen zu verändern, mit anderen Worten, "global zu denken". "Global denken" ist eine Herausforderung, der sich Historiker und Anthropologen heutzutage in dem Bemühen zu stellen versuchen, ihre alten Disziplinen aus den eingefahrenen Wegen exotischer Einzeldarstellungen zu lösen, von nationaler Geschichte oder großer eurozentrischer Schilderung. Wie? Seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat zeitgenössische Kunst uns neue Wege eröffnet: die Kamera von Alejandro González Iñárritu, der Tanz von Pina Bausch verbinden Welten und synchronisieren sie in kreativen Haltungen, die einen oder mehr Sinne für das Ganze enthalten.
Mit Open your eyes: The Reparation wird Kader Attia zu einem Historiker, einem Archäologen, einem Anthropologen und Ethnologen auf der Suche nach Objekten, die uns zeigen können, wie Gesellschaften sich selbst wieder aufbauten, einander gegenüber stehen, miteinander verflochten sind und aufeinander reagieren. Die Auswirkungen des europäischen modernen Krieges, vor allem des Ersten Weltkriegs, "restaurative" medizinische Fortschritte und deren Laboratorien sind konfrontiert mit destruktiven kolonialen Angriffen und Appropriationen durch Ureinwohner. Als ob die Moderne, um die es uns heute geht, aus diesen parallelen und gegensätzlichen Bewegungen bestehen würde - afrikanisches do-it-yourself Kunsthandwerk sowie kosmetische Chirurgie -, und es ist diese komplexe Dynamik, die wir uns bemühen müssen mitzudenken und zunächst zu identifizieren, da wir nicht gewohnt sind, sie im Blick zu haben. Kader Attia sieht und zeigt das - "Öffne deine Augen" -, was Sozialwissenschaften und Museen oft zu langsam erkennen. Das Ergebnis dieser Übung? Ein wunderbarer globaler Geschichtsunterricht, der Welten zusammenbringt, die anscheinend nichts gemeinsam haben, indem er hinter den Äußerlichkeiten die tieferen Aspekte offenlegt, die sie miteinander verbinden. Es besteht die Notwendigkeit, den alten Gegensatz zwischen Westen und Nicht-Westen, mit dem wir jahrhundertelang gelebt haben, zu revidieren. Der meteoritenhafte Aufstieg eines Asiens, das Verwestlichung verdaut hat, die pulsierende Existenz eines Lateinamerika im Herzen der großen Städte der USA und die unvermeidbare Präsenz der neuen Bevölkerung Westeuropas, Träger des Unerwarteten und nicht Vorhersagbaren, wird ihn letztendlich sowieso untergraben. Man könnte sich auch weitere Dialoge vorstellen oder diese anführen…
Serge Gruzinski
Forscher am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS, Paris) und Dozent an der Hochschule EHESS, Paris.
The Repair from Occident to Extra-Occidental Cultures. 2012
Installation, präsentiert in der
dOCUMENTA (13)
9. Juni - 16. September 2012
Kassel
Elemente:
Repairs
Regale, Holzskulpturen geschaffen von traditionellen Schnitzern aus Dakar, Senegal, Marmorplastiken von traditionellen Bildhauern aus Carrara, Italien, alte Zeitungen und Bücher, antiquarische Zeitschriften, Originalfotos, in ihrem originalen Kontext reparierte afrikanische Artefakte, Fotokopien, Metallelemente, Diaschau.
Repair as cultural anthropophagy and resistance
Videofilm, Vitrinen, mestizische Objekte (Objekte aus nicht-westlichen Kulturen, die ein Element westlicher Kulturen einbeziehen), Grabenkunst (Objekte, die von Soldaten während des 1. Weltkriegs in Schützengräben aus Patronenhülsen und Artilleriemunition gebastelt worden sind).