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Interview mit Zineb Sedira über ihr neues internationales Aufenthaltsprogramm. Erste Gastkünstlerin: Nicene Kossentini.
Von Yasmina Reggad | Jun 2012Yasmina Reggad: Seit 2005 hast du Kollegen und Freunde eingeladen, mit dir nach Algier zu reisen. Ich glaube, das im kollektiven Unterbewusstsein vorherrschende Bild von Algerien ist durch den Bürgerkrieg in den 1990er Jahren bestimmt. Seitdem gab es eine Menge falscher Darstellungen dieses Landes. Deshalb hast du einen Weg dorthin eröffnet und Interesse für das heutige Algerien geweckt. Was sind deine Beweggründe und wie überzeugst du die Leute?
Zineb Sedira: Ich denke, weil ich das Land, seine Menschen, die Landschaft, die Kultur, den Sinn für Humor, die Großzügigkeit liebe, wollte ich das alles zunächst mit Menschen teilen, die ich kenne und gern habe. Dann stellte ich fest, dass viele Künstler und Kuratoren gern kommen würden, jedoch zu ängstlich und zu besorgt über die Sprachbarriere waren. Deshalb half ich ihnen bei solchen praktischen Aspekten wie den Visa und der Unterkunft. Ich vermittelte auch Treffen zwischen meinen Gästen und lokalen Künstlern und Kuratoren. Diese Begegnungen waren sehr anregend und führten zu vielen konkreten Projekten.
Zum Beispiel beteiligt sich die deutsch-algerische Wissenschaftlerin Yasmina Dekkar derzeit an der Ausrichtung von Matters of Collaborations, einem Workshop mit Künstlern, Filmemachern, Autoren, Kuratoren und Wissenschaftlern, der Ende Juni 2012 in Algier stattfindet. Der britische Dozent Joseph McGonagle ko-kuratierte New Cartographies: Algeria-France-UK letztes Jahr in Cornerhouse in Manchester. Und die französisch-britische Kuratorin Caroline Hancock bereitet eine Ausstellung über postkoloniale Affinitäten zwischen Irland und Algerien vor, die ab Januar 2013 in der Royal Hibernian Academy in Dublin zu sehen sein wird.
Yasmina Reggad: Welche beruflichen Möglichkeiten haben algerische Künstler in Algerien selbst? Der jungen Künstlergeneration hier giltst du auch als Modell und Mentorin. Wie gehst du damit um?
Zineb Sedira: Seit fast einem Jahrzehnt komme ich regelmäßig nach Algerien und beginne, die Kunstszene gut zu kennen. Algerien hat eine kleine und zurückhaltende Kunstszene, die sich aber unbedingt entwickeln und mit anderen Szenen in Kontakt treten will. Während meiner Aufenthalte habe ich viele talentierte Kunststudenten getroffen, deren Werdegang ich seitdem verfolge. In der Tat ist es ihnen gelungen, ein Werk zu schaffen und sich über einige der "konventionellen" Lehren der École des Beaux-Arts hinwegzusetzen. Das Ergebnis ist sehr spannend und vielversprechend. Ich habe mich auch für die Entwicklung ihrer Karriere engagiert, war für einige Mentorin und vermittelte den Zugang zu Aufenthaltsprogrammen im Ausland wie etwa der Delfina Foundation in London. Mir war es immer wichtig, sie internationalen Künstlern und Kuratoren vorzustellen, weil es schwierig für sie ist, Zugang zu dieser Art professioneller Netzwerke und Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten.
Yasmina Reggad: Warum hast du dich entschieden, deine Beteiligung an der Entwicklung der Künste in diesem Land durch ein Aufenthaltsprogramm zu institutionalisieren? Und warum hast du dieses als einen recherche- und prozessorientierten Aufenthalt konzipiert?
Zineb Sedira: Die informelle Plattform versetzte lokale Künstler in die Lage, mit Kollegen und Kuratoren außerhalb Algeriens in Dialog zu treten. /A.R.I.A/ ist ein Weg, dieses informelle Arrangement weiterzuentwickeln, indem es als eine offizielle Struktur implementiert wird. Wir kooperieren auch mit der Association Chrysalide, einer lokalen Struktur, was für Gastkünstler einen großen Unterschied hinsichtlich der lokalen Kenntnis, des Networking und der logistischen Unterstützung bedeutet. Es gibt in Algerien nicht viele private kulturelle Initiativen, und der soziopolitische Kontext fördert diese Art von Initiativen nicht gerade. Deshalb ist ein Beginn mit 3 Gastkünstlern bereits ziemlich viel für das Land.
Algerien ist ein sehr wenig bekanntes Land, deshalb kann ich nicht erwarten, dass die Künstler schon bei der ersten Reise gleich ein Werk produzieren (obwohl ich sie dazu anhalte). Deshalb lag mir daran, dass der Aufenthalt anfangs auf den Rechercheprozess fokussiert ist. /A.R.I.A/ wird flexibel genug sein und das Rüstzeug bereitstellen, damit die Künstler "Risiken eingehen".
Yasmina Reggad: /A.R.I.A/ startete im Mai 2012 mit dem Aufenthalt der tunesischen Künstlerin Nicene Kossentini. Jetzt ist die Hälfte ihrer Zeit vergangen und ich bin nicht nur über das Engagement erstaunt, das Nicene ihren Künstlerkollegen und anderen Kunststudenten gegenüber gezeigt hat, sondern auch über ihren Einsatz und ihr Interesse für die Arbeit mit der lokalen Gemeinde. Sehr schnell begann sie, in Algerien ein neues Werk zu entwickeln, und sie denkt schon an eine Rückkehr. Worin besteht das Hauptanliegen von /A.R.I.A/, die Künstler so mit Algerien zu "verbandeln", dass sie zurückkommen, um irgendein Werk zu produzieren? Welche Rolle sollten oder können die Gastkünstler im algerischen Kontext spielen?
Zineb Sedira: Du hast recht, wenn du sagst, dass die Intention von /A.R.I.A/ darin besteht, die Gastkünstler so mit uns zu "verbandeln", dass sie zurückkommen möchten. Aber mir ist noch wichtiger, dass sie zu "Botschaftern" ihrer Erfahrung in Algier werden. Das wird das Image Algeriens als ein "schwieriges" und "undurchdringliches" Land durchbrechen. Natürlich würde es darüberhinaus hilfreich sein, wenn der Künstler bzw. die Künstlerin ein Werk in oder über Algerien produziert, durch das dieses Land in einen weiteren Kontext projiziert wird. Deshalb bemühen wir uns darum, während der Aufenthalte der Künstler öffentliche Programme zu entwickeln. /A.R.I.A/ wird ihnen Vielfalt hinsichtlich der Kunstformen, Disziplinen und selbst des Geschmacks bieten.
Yasmina Reggad: Du hast Initiativen und Künstler, die im Maghreb leben oder ursprünglich von dort kommen, immer sehr unterstützt. Gibt es einen künstlerischen oder kulturellen Dialog zwischen Tunesien, Marokko und Algerien? Es ist wohl kein Zufall, dass du in diesem Jahr des Pilotprogramms das Wagnis eines experimentellen Austauschs mit einem sehr speziellen Aufenthaltsprogramm, ArtSchool Palestine, eingegangen bist, das sich in einem ähnlichen Kontext wie Algerien in der Vergangenheit (und irgendwie auch in der Gegenwart) befindet. Warum hältst du es für wichtig, dass /A.R.I.A/ nicht nur eine Plattform für Begegnungen zwischen Algerien und dem Rest der Welt ist, sondern auch Brücken zu den Nachbarländern schafft und einen Dialog mit ihnen fördert?
Zineb Sedira: Die Nachbarländer haben mich immer interessiert, so war Tunesien eine folgerichtige Wahl. Auch wegen der jüngsten Ereignisse (tunesische Revolution) hatte ich den Eindruck, dass es bemerkenswerte Bezüge zur algerischen Revolution des "Oktober '88" gibt. Nach dem schrecklichen Bürgerkrieg, der in Algerien daraus hervorging, beobachtete ich sehr aufmerksam, was in Tunesien passierte. Doch weder Nicene noch /A.R.I.A/ haben eine "politisch/aktivistische" Botschaft. Seit dem Beginn des Projekts war mir klar, dass jedes Jahr ein Aufenthalt für Künstler aus dem Maghreb "reserviert" sein würde.
Andererseits ist die Arbeit mit ArtSchool Palestine sehr wichtig, weil die palästinensische Sache im alltäglichen Leben Algeriens sehr präsent ist. Ich sehe da auch Ähnlichkeiten und starke Austauschmöglichkeiten. Der Austausch mit anderen "arabischen" Ländern ist wichtig, weil die arabische Welt kein homogener Raum ist. Es gibt sehr wenig "Kommunikation" und sehr wenige Brücken zwischen dem Nahen Osten und dem Maghreb, doch das war nicht immer so. In der Zukunft möchte ich diese Beziehung wirklich gern wiederbeleben und weiterentwickeln.
Yasmina Reggad
Freie Kuratorin in London. Gründerin, Leiterin der nicht-kommerziellen Organisation Photo-Festivals. Koordinatorin von /A.R.I.A./ Artist Residency in Algiers.
Gründerin und Leiterin:
Zineb Sedira
Koordinatorin:
Yasmina Reggad
Aufenthalte 2012:
Nicene Kossentini
22. Mai - 26. Juni 2012
Künstler/in aus Gaza:
September - Oktober 2012
In Partnerschaft mit ArtSchool Palestine
Alfredo Jaar
November 2012