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Kabul - Bamiyan

Seminare und Ausstellung: Eine Position der dOCUMENTA (13)

Die vier wichtigsten Positionen, um die sich die dOCUMENTA (13) dreht – Belagerungszustand, Hoffnung, Rückzug und Bühne –, entsprechen vier möglichen Bedingungen, unter denen Künstler und Denker in der Gegenwart agieren. Diese Positionen sind nicht allumfassend, und ihre Bedeutung entsteht durch ihre Wechselbeziehungen und Resonanzen. Kabul und Bamiyan bilden zusammen eine Kreuzung dieser Bedingungen. Hier erleben Künstler, zeitgleich zum Zustand der Hoffnung, oftmals auch den Belagerungszustand, wie auch den des Rückzugs und der Exponierung. Die Seminare fanden, nach einem ersten Treffen im Juni 2010, im Frühjahr und Sommer 2012 statt und münden in eine dazugehörende Ausstellung in Kabul im Königinnenpalast, im umliegenden Bagh-e Babur und der Nationalgalerie, die kuratorisch von dem Mitglied der Agenten-Kerngruppe der dOCUMENTA (13) Andrea Viliani und dem Künstler Aman Mojadidi organisiert wird. Die Seminare wurden als Teil einer Veranstaltungsreihe mit einer Gruppe von mehr als fünfundzwanzig afghanischen Kunststudenten abgehalten, um Diskussionen über zentrale Fragen und Themen anzuregen; sie wurden von internationalen und afghanischen Teilnehmern geleitet. Ziel der Seminare und der Ausstellung ist, künstlerische Praktiken mit der lokalen Gemeinschaft zu teilen und diese Praktiken in einem partizipatorischen Prozess der Kreation, der Auseinandersetzung und des Lernens vorzustellen.

Die Seminare, in die Künstler, Autoren aus dem Kunstbereich und Denker einbezogen waren, wurden gemeinsam mit mehreren öffentlichen afghanischen Kunstinstitutionen organisiert, die auf verschiedenen Gebieten wie bildende Kunst, Musik, Theater und Film aktiv sind. In dem Seminar Art Histories in the Form of Notes, das im Februar 2012 stattfand, wurden Begriffe wie Kunst, Geschichte, Tradition, das Zeitgenössische, Experiment, Leben und Imagination unter verschieden Gesichtspunkten analysiert; dabei diente die schriftliche Notiz als Instrument, um eine Lage darzustellen, in der Konzepte, Ideen und Berichte auf eine provisorische Weise festgehalten werden, die ihre Potenziale und ihren hypothetischen Wert unterstreicht. Die darauffolgenden Seminare beschäftigten sich mit unterschiedlichen, aber miteinander zusammenhängenden Gebieten künstlerischer Reflexion und Intervention:

- wie man mit Sprache, Übersetzung und Vermittlung als hypothetischen Weichen zwischen Verstehen und Missverstehen und als kritischen Handlungen umgeht, bei denen die Wahrheit ständig verhandelt wird (seeing studies/translation as artistic practice, ein neues Projekt des instituts für inkongruente übersetzung, das von der Künstlerin Natascha Sadr Haghighian und dem Schriftsteller Ashkan Sepahvand in enger Zusammenarbeit mit der National Gallery in Kabul konzipiert wurde; Creating an Art Magazine: Testing the Grounds/Finding the Language, ein Seminar, in dessen Mittelpunkt eine Kooperation zwischen dem Mailänder Verlag Mousse Publishing und der Zeitschrift Sepida stand, die in den 1980er Jahren in Pakistan erschien und kürzlich von The Killid Group, Kabul, wieder aufgelegt wurde).

- wie man die geopolitischen Kategorien von Inklusion und Exklusion überwindet; wie man, im Zeitalter einer verbreiteten Remigration und hoch entwickelter digitaler Praktiken, den Anschluss an einen umfassenderen Diskurs bewahrt und die Kriterien von Zugehörigkeit und Wandel im Gleichgewicht hält (Perspectives on the Art of Today, veranstaltet vom CCAA – Center for Contemporary Arts Afghanistan).

- wie man Archive als öffentliche Orte untersucht; wie man Archivmaterial mit einem gemeinsamen öffentlichen Gedächtnis verbindet; wie man die Zirkulation von weniger bekannten Geschichten fördert, indem man das Archiv als Operationsbasis nutzt (Archive Practicum, Seminar unter der Leitung von Mariam Ghani und Pad.ma bei Afghan Film); wie man Fotografien archiviert, organisiert und erhält; wie man die Beziehung zwischen Sprache und Bildern in bewegten und unbewegten Bildern erforscht; wie man digitale Bilder aufzeichnet, manipuliert, speichert und vermittelt (Photographic Information, Seminar unter der Leitung von Masood Kamandy an der Fakultät für bildende Kunst der Universität Kabul).

- wie einfache Materialien aus der alltäglichen Umgebung oder der Körper eine Herangehensweise erhellen können, die einen unerwarteten Raum radikaler Freiheit schafft, die Zustände der Emanzipation und des Mitspracherechts verbessert und die Vorstellungen von Transformation und Verkörperung erforscht; wie man das Zeitgenössische wieder mit dem Traditionellen verknüpfen kann, indem man überkommende Dichotomien sowie Vorstellungen von Haltbarkeit und des "Handgemachten" herausfordert und die lokalen Bedeutungen traditioneller Materialien und Objekte betont; wie theatralische oder choreografische Praktiken das Persönliche und das Politische zum Vorschein bringen; wie die Ästhetik der Bühne mit historischen Momenten zusammenhängt; wie die Biografie des Schauspielers an die Geschichte des Theaters, aber auch an Geschichte im weiteren Sinne gebunden ist; wie man ein Kunstwerk schafft, das darauf beruht, die verborgene, aber geteilte Geschichte einer Gemeinschaft aufzudecken; wie man mit Grenzen umgeht; wie man aus beinahe nichts eine monumentale, visionäre Erfahrung hervorbringt (Acts, Gestures, Things and Processes: Material and Performance, ein mehrteiliges Seminar unter der Leitung des Künstlers und Filmemachers Barmak Akram, des Künstlers und Choreografen Jérôme Bel sowie der Künstler Lara Favaretto und Adrián Villar Rojas, das im Bagh-e Babur, am Institut Français d’Afghanistan, in Istalif, am Nationaltheater und an der Fakultät für bildende Kunst der Univeristät Kabul abgehalten wurde).

Parallel dazu wurden zwei Seminare in Bamiyan organisiert. What Dust Will Rise?, das unter der Leitung von Michael Rakowitz in einer Höhle inmitten der Felsformation stattfindet, in der einst auch die Buddha-Statuen von Bamiyan standen, nutzt die Imagination, um die schwindenden Fertigkeiten der Bildhauerei wiederzubeleben und ein mögliches zukünftiges Erbe wiederherzustellen. Rereading Shahnameh von Khadim Ali reinszeniert die traditionellen Praktiken des Geschichtenerzählens und der Miniaturmalerei, um mehrere Generation miteinander zu verbinden und zu begreifen, wie unsere Vergangenheit jahrhundertelang erzählt und zu unserer Gegenwart wurde.

Ausgehend von diesen Seminaren, umfasst die Ausstellung überwiegend Arbeiten, die in Afghanistan entstanden sind, und verwickelt das Publikum in einen Dialog voller Entsprechungen – zwischen Belagerung und Diaspora, Zusammenbruch und Wiederaufbau, Erinnerung und Fantasie, Vergangenheit und Zukunft – und wechselseitiger Evokationen beider Städte, Kabul und Kassel, die beide Zeugen der Zerstörung durch Krieg und der Notwendigkeit eines materiellen Wiederaufbaus und der geistigen Wiederherstellung sind. Auf diese Weise werden sie zu Bühnen, auf denen unsere Gegenwart zur Darstellung kommt (wie in den Arbeiten von Tacita Dean und Goshka Macuga) oder transzendiert wird (wie in den beiden Baum-Skulpturen von Giuseppe Penone in der Kasseler Karlsaue und im Bagh-e Babur in Kabul). Die dOCUMENTA (13) evoziert eine Lage, in der Krieg und Frieden koexistieren (wie in den Fotografien von Zalmaï und in der Malerei von Francis Alÿs) und in der Formen der weltlichen Imagination Engagement, Materie, Dinge, Verkörperung und aktives Leben erforschen. So verortet die dOCUMENTA (13) die künstlerische Forschung an einem unsicheren und zugleich einnehmenden Punkt – dem der poetischen Erkundung und der gewagten Konzentration, der einsichtsvollen Motivation und des meditativen Strebens.

Wie Mariam und Ashraf Ghani in ihrem dOCUMENTA (13)-Notizbuch Afghanistan: A Lexicon uns ins Gedächtnis rufen, können sich Mythen, Spekulationen, Gerüchte und Fakten überlagern. Prototypen der Zukunft und Symbole der Vergangenheit, Pläne und Fehlschläge können auf "selektive, assoziative Weise" koexistieren, wie in Ghanis eigenem Video, das den königlichen Palast in Kabul, Darulaman, der in den zurückliegenden dreißig Jahren des Bürgerkriegs in Afghanistan zerstört wurde, in das 1941 und 1943 bombardierte Kasseler Fridericianum transformiert. Auch andere Projekte, wie etwa das des mexikanischen Künstlers Mario Garcia Torres, sollten in diesem Licht betrachtet werden. Garcia Torres hat das One Hotel wiederbelebt, eine Initiative, die der italienische Künstler Alighiero Boetti von 1971 bis 1977 in Kabul entwickelt hatte. Boetti war nach Afghanistan gegangen, um seine Identität als Künstler und seine eigene Kunstauffassung neu zu erfinden, indem er zusammen mit Gholam Dastaghir im Shar-e Naw-Distrikt eine Unterkunft namens One Hotel betrieb, wobei er die Eröffnung eines Hotels wahrscheinlich nicht als Kunstwerk betrachtete. Auch Garcia Torres – der die verlassenen und vergessenen Räumlichkeiten wiederherstellt und aktiviert, indem er Rosen anpflanzt und Gästen im Garten Tee serviert – schafft nicht das, was wir üblicherweise als Kunstwerk bezeichnen würden; vielmehr handelt es sich um ein imaginäres – teils reales, teils fiktives – Raum-Zeit-Kontinuum, das man erleben und mit anderen teilen kann; eine Gelegenheit, unsere eigene Handlungsfähigkeit durch die Wahrnehmung von Kunst neu auszurichten. Diese nicht präzise, erzählerische Herangehensweise an das, was Kunst ist, ermöglicht es, die konventionellen Unterscheidungen zwischen Gast und Gastgeber oder zwischen damals und heute abzumildern, und bildet ein Echo auf das einladende Multiversum künstlerischer Gesten, die im Mittelpunkt der dOCUMENTA (13) in Afghanistan stehen.

Die documenta (13)/Goethe-Institut-Programme in Afghanistan finden statt unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Information und Kultur, Afghanistan, und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

Pressemitteilung der dOCUMENTA (13)

Kabul - Bamiyan

7. Juni 2010 bis 19. Juli 2012

Seminare und Ausstellung:
Eine Position der dOCUMENTA (13)

 

Teilnehmerinnen und Teilnehmer:

Lida Abdul
Leeza Ahmady
Barmak Akram
Khadim Ali
Francis Alÿs
Jérôme Bel
Andrea Büttner
Carolyn Christov-Bakargiev
Tacita Dean
Lara Favaretto
Abul Qasem Foushanji
Mario Garcia Torres
Jeanno Gaussi
Mariam Ghani
Zainab Haidary
Masood Kamandy
William Kentridge
Goshka Macuga
Raimundas Malašauskas
Chus Martínez
Christoph Menke
Aman Mojadidi
Rahraw Omarzad
Giuseppe Penone
Walid Raad
Michael Rakowitz
Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand (für das institute for incongruous translation)
Wael Shawky
Zolaykha Sherzad
Ashok Sukumaran und Shaina Anand
(CAMP und Pad.ma)
Mohsen Taasha
Andrea Viliani
Adrián Villar Rojas
Clemens von Wedemeyer
Zalmaï
Studenten der dOCUMENTA (13) Kabul Seminare

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