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Rezension der Ausstellung an ihrer letzten Station in Arter, Istanbul. Zuvor war sie in Berlin und Wien.
Von Evrim Altuğ | Mai 2011Die Ausstellung Tactics of Invisibility (Strategien der Unsichtbarkeit) ist voller verborgener Werke in mysteriösen Gängen, die an das Hasenloch in Alice im Wunderland erinnern, und lässt bei Kulturkonsumenten, denen die architektonische und kompositionelle Ausrichtung von Arter kaum vertraut ist, das Gefühl des Blindekuhspielens mit offenen Augen aufkommen. Dieses Projekt, eine gemeinsame Initiative der Vehbi Koç Stiftung und von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary (T-B A21), wurde 2008 begonnen, im April 2010 erstmals in T-B A21 in Wien und im September desselben Jahres in Tanas, Berlin, gezeigt.
Steril, ruhig und standhaft: Evacuation #1
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie die Ausstellung in Arter mit ihren mehr als 15 Arbeiten, auf vier Etagen verteilt, erlebt werden kann.
Evacuation #1: The Sacred Evacuation (Evakuierung Nr. 1: Die heilige Evakuierung) von xurban_collective erwartet die Besucher im Untergeschoss von Arter in einem vollkommen von den anderen Werken der Ausstellung unabhängigen "Unter-Grund", heiß wie ein Heizungsraum und damit der Sensitivität des Themas entsprechend. Wir sehen die Simulation einer kleinen, den Osten evozierenden Moschee, so etwas wie einen "White Cube" des Glaubens, das Fundament dessen, was die Gruppe auch in Europa, im Westen und selbst im Osten, in Kuala Lumpur oder Mekka, gesucht hat.
Dies ist eine soziale Installation mit einer sterilen, ruhigen und festen Haltung. Das Projekt mit seinem Kitsch und dem traditionellen religiösen Material (Gebetsketten, Gebetsuhr, Motive glasierter Kacheln, Gebetsteppiche und spirituelle Naturlandschaften, Schuhregale, etc.), dessen konzeptuelle Last voller narrativer, soziologischer und architektonischer Verknüpfungen sich in die Erinnerung der Betrachter ergießt, bleibt bei diesen wegen der intensiven Fokussierung auf die Thematik einer sozialen Architektur haften.
"Unsichtbare Kollaboration" in architektonischer Beklemmung
Cevdet Ereks Werke werden gekrönt von einem Raum im dritten Geschoss von Arter, wo sich seine akustischen und architektonischen Interventionen in Berlin und Wien treffen. Mit dem abstrakten Goldornament Şaşaa (was "Glanz" bedeutet) untersucht er auch die vergessenen Fassaden in Istanbuls Stadtteil Beyoglu, der sich auf Grund hoher finanzieller Investitionen in konstanter Veränderung befindet.
Die Werke Kolon und Sky ornamentation with 3 sounding dots and anti-pigeon net (So3sdapn) (Himmelsornamentierung mit 3 tönenden Punkten und Anti-Tauben-Netz) hat der Künstler bereits im letzten Jahr in Wien und Berlin ausgestellt. In diesen Arbeiten, in denen Erek "Unsichtbarkeit" als ein physikalisches Problem benutzt oder das Verborgene gelegentlich aufhebt, indem er es öffentlich zur Schau stellt, sucht und hinterfragt er Hinweise auf ästhetische Anliegen, die spürbar sind, obwohl sie nicht physisch diagnostiziert werden können, durch mit Licht und Sound geschaffene Gestaltungen von Idee und Funktion.
Am Eingang von Arter stehen die Spuren einer Performance. Die von dem in Deutschland lebenden Künstler Nasan Tur realisierte Videoinstallations-Performance begrüßt das Publikum. In der Arbeit von 2004 Invisible (Unsichtbar), die sich in einem direkten Dialog mit dem schon erwähnten Raum von xurban_collective befindet, macht uns Tur durch die Bilder von mehr als einem Dutzend Überwachungskameras zu passiven Voyeuren im Außenbereich von 10 Moscheen in verschiedenen deutschen Städten. Doch ist es nicht möglich, irgendwelche öffentliche Zeichen oder Formen festzustellen, die auf die Funktion dieser Plätze an solchen Räumen des Gebets hinweisen.
Der Künstler vermittelt dieses Stadium von Sichtbarkeit-Unsichtbarkeit durch die Graffiti, die er in Istanbul während der Ausstellungseröffnung an die Wände schrieb. Tur versucht, ein abstraktes Porträt des Geistes der "Anonymität" als des einzigen Übermittlers "unsichtbarer" Kultur zu enthüllen, indem er die Poster der von ihm gesammelten Graffiti dem Publikum gratis zurückgibt.
Wie es scheint, geht das Künstlerkollektiv Hafriyat tiefer, das in der Ausstellung demselben Geist folgt. In der Arbeit mit dem Titel Seventh Man (Siebter Mann), übernommen von einem Buch John Bergers, bei der Hafriyat mit den beiden Initiativen HaZaVuZu und Yeni Sinemacılar (was "Neue Kameraleute" bedeutet) kooperierten, bezeugen die Künstler der Statue des Arbeiters in Tophane, Istanbul, ihre Ehre, die Vandalismus zum Opfer gefallen ist. In Seventh Man kommt die Sorge einer Gruppe von Kunstschaffenden über ein politisches Kunstwerk ans Licht, das die Arbeiterklasse verherrlicht, heute aber nicht wiederzuerkennen ist. Die Künstler untersuchen, was dessen Überbleibsel repräsentieren, indem sie sich bemühen, das zu retten, was von der Statue kurz vor dem Verschwinden ihrer Formen übriggeblieben ist, und diesen Prozess dokumentieren.
Ideen auf der Suche nach Sound, Töne auf der Suche nach Ideen
Im Erdgeschoss erschafft sich ein historisches Werk von Sarkis über "Gedächtnisaufzeichnung", basierend auf dem Konzept Kriegsschatz von 1976, selbst neu. Diese K entre les deux étangs betitelte Arbeit von 1986 strömt in der Ausstellung eine melancholische Einsamkeit und Stille aus. Eigentlich gehört Sarkis nicht zu denjenigen, die an Gruppenausstellungen teilnehmen. Er ist ein Künstler, dem es um die Existenz, Rolle und Funktion seiner Werke im Ganzen und im Sinne eines Skripts geht. Doch diese Arbeit in der Ausstellung mit ihrer eigenen Stille und dem Mysterium, das die Narrative verhüllt, übt eine starke Gravitationskraft aus.
Mit Füsun Onur und Ayşe Erkmen sind zwei weitere Künstlerinnen der Ausstellung dem Mysterium des Sounds verfallen. Onur ist eine Meisterin im Erschaffen konzeptueller, auf musikalischer Terminologie aufbauender Installationen. In ihrem Opus II – Fantasia, das erstmals 2001 in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden ausgestellt war, ist es möglich, den "synthetischen" Geist eines mit Objekten geschriebenen Musikstücks zu erkennen. Onur hat mit Stricknadeln, vergoldetem Garn und kleinen Figuren einen dreidimensionalen akustischen Text geschaffen.
Auch Erkmen realisierte ihr Werk Geist direkt für die Ausstellung und den Raum. Die auf Musik basierende Arbeit bezieht sich auf das Gebäude von T-B A21 in Wien. In Würdigung Beethovens, der 1806 in Sälen dieses Gebäudes aufgetreten ist, bezieht sich Erkmen auf das persönliche Leben des Komponisten sowie auf das Gerücht in jener Zeit, im Palais Erdödy-Fürstenberg würde der Geist einer Frau umgehen. Durch die Umwandlung eines in vier separaten Stimmen produzierten Kanons zu einem einzelnen Sopran lässt sie geisterähnlichen Stimme erklingen.
Die Videoinstallation von Ali Kazma bezieht ihre Kraft aus dem Ritual, das sie verkörpert: einer poetischen, dramatischen Interpretation der Kreisförmigkeit der Erinnerung. In Geschrieben versetzen diese reinen Gedanken, bestehend vor allem aus vom Künstler aufbewahrten Notizen und Zitaten, die auf dem Bildschirm erscheinen und verschwinden, den Betrachter in ein Simurg [entspricht dem Vogel Phönix - Anm.d.Ü.] ähnliches Stadium des Fluges zwischen konzeptueller Sterblichkeit und mentaler Unsterblichkeit von Feuer zu Asche, von Asche zu Feuer.
Die dunkle Installation Where the Winds Rest (Wo die Winde ruhen) von Hale Tenger ist inspiriert durch die Zeilen "Haben wir den Körper nicht aus dem Wasser gezogen / Wir haben den Körper nicht aus dem Wasser gezogen" des Gedichts gleichen Titels von Edip Cansever. Wie die Künstlerin vermittelt, speist sich diese unversehens eindringliche, zwielichtige Arbeit aus der Spirale des Unheimlichen, des Terrors und der Gewalt, und es gelingt ihr, die diesen drei Konzepten innewohnende Spannung durch die vom Werk projizierte Panik und das dem Publikum infizierte Schuldgefühl zu erzeugen. Tengers Werk wird aus jener Unsichtbarkeit genährt, die aus der von ihm verbreiteten Angst herrührt.
Die Verborgenen, die bei der Umwandlung Aufgedeckten
Die Taktik des Offenlegens und Verbergens durch Transformation sind Produktionsweisen, für die sich Esra Ersen und Nevin Aladağ, zwei in Deutschland lebende Künstlerinnen interessieren. Aladağs dem Publikum in Istanbul am 7. und 8. April präsentierte Performance Nevin Aladağ interviewt Nevin Aladağ und Ersens Ich bin türkisch, ich bin ehrlich, ich bin fleißig eröffnen die Diskussion über die Frage, wie wir den menschlichen Körper als soziales Kostüm durch das Heraussieben verschiedener Alter, ökonomischer Klassen oder Geschichten in einem einzigen Individuum verschmelzen können. Während Ersen die Metapher der von sieben- bis zehnjährigen deutschen Kindern getragenen türkischen Schuluniform wählt, ist der Betrachter in Aladağs Arbeit mit einem therapeutischen Video konfrontiert, in dem ein einziger deutscher Schauspieler mit Namen Fabian Stumm Geschichten aus dem realen Leben in der Türkei und von anderen Menschen aus aller Welt artikuliert, die wir aber mit Aladağs Stimme gesprochen hören. Auch diese Arbeit ist mit Aladağs Hommage an ein Designobjekt verbunden, denn sie wird durch eine Colors genannte Installation mit einem Kommentar über farbige Strümpfe und den Reichtum ihrer sozialen Konnotationen begleitet.
In der dokumentarischen, soziologischen Videoinstallation Zwölf mit ihrem alternativen Ansatz in Bezug auf Identitäten innerhalb von Identitäten präsentiert Kutluğ Ataman eine interessante Herangehensweise an das Abblättern von Schalen oder das Hinzufügen neuer Hüllen zu dem Mysterium, das Menschsein bedeutet. Diese Arbeit von 2004 besteht aus doppelseitigen Projektionsflächen, die 12 Personen zeigen und so in die Ausstellung gehängt sind, dass sie an Porträtfotos erinnern. Jede dieser Personen vermittelt uns andere außerordentliche Erinnerungen an ihr Leben als ein "Anderer", wobei wir ihnen auf Hockern gegenüber sitzen, eins zu eins mit ihnen konfrontiert.
Wie man sehen kann, verfolgen noch zwei Künstlerinnen der Ausstellung dieselben Fragen: İnci Eviner mit einer weiteren puzzleähnlichen Arbeit, mit der sie Identität hinterfragt, und Nilbar Güreş. In Eviners Videoinstallation Harem treffen wir auf ein großes performatives / live Gemälde, geschaffen mit Computertechnologie ausgehend von Mellings historischen Palastdarstellungen. Man kann sich bei den Frauengestalten in diesem Gemälde nicht auf solche Elemente wie ethnischen Hintergrund, Geschlecht, Dramatisierung oder Nacktheit verlassen. Das Publikum wird bei dieser Arbeit ganz im Gegenteil mit dem Zeugnis eines interessanten Experimentierens konfrontiert.
Es scheint, dass wir es in dem Video Unbekannter Sport von Nilbar Güreş ebenfalls mit der modernen und sozialen Kritik solcher Ironie zu tun haben. Güreş geht vom privaten Leben und konkreten Situationen der Frau aus, die in der traditionellen türkischen Familie als eine zweitklassige Person behandelt wird. Doch dieses private Leben transformiert Güreş mit ihrer Ästhetik in einen bitteren Sport, und an dieser Ironie nehmen die Betrachter durch ein performatives Video Anteil. Der Name dieses Sports bedeutet im Grunde "eine Frau sein". Es ist ein brutaler, trauriger Sport mit solchen Disziplinen wie Beine wachsen, Verschönern, dein Haar machen lassen. In dieser Hinsicht wird das Werk von Güreş zu einer qualifizierten, verdienstvollen und humanen politischen Aktion, mit der sie die Frau in der Frau erkundet.
Evrim Altuğ
Kunstkritiker und Journalist, Mitglied der türkischen Sektion der AICA (Internationale Vereinigung der Kunstkritiker).
Kuratoren:
Emre Baykal, Daniela Zyman
Künstler*innen:
Nevin Aladağ
Kutluğ Ataman
Cevdet Erek
Ayşe Erkmen
Esra Ersen
İnci Eviner
Nilbar Güreş
Hafriyat
Ali Kazma
Füsun Onur
Sarkis
Hale Tenger
Nasan Tur
xurban_collective
Tactics of Invisibility
9. April - 5. Juni 2011