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Auf die Vergangenheit warten, die Zukunft sehen. Über das Schaffen des irakischen Künstlers.
Von Sam Bardaouil & Till Fellrath | Sep 2011Es war ein kalter Dezembernachmittag - ein ganz besonders kalter. Die niederländische Stadt Amersfoort kauerte sich unter einen bedrohlich dunklen Himmel. Stille durchdrang die eisige Luft auf unserem Weg zum Atelier von Sadik Alfraji, die nur durch das Knirschen des Frostes unter unseren Schritten unterbrochen wurde. "Na hoffentlich lohnt sich der Weg", murmelten wir uns zu, während wir die Hand ausstreckten, um an der Tür zu läuten. Als ob er unsere schlechte Stimmung geahnt hätte, war die Tür bereits geöffnet, und ein kleiner Mann stand wartend auf dem Flur. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee wehte uns entgegen, als ob dieser Fremde ihn für uns bestellt hätte. Er begegnete uns mit seinem ganz eigenen Lächeln, das sich unserer miesen Laune entgegenstellte. Er sprach in einem sehr bestimmten, aber beruhigendem Ton, und schon spielte es keine Rolle mehr, dass die Temperaturen draußen weit unter dem Gefrierpunkt lagen. "Ich habe auf euch gewartet. Kommt herein. Es gibt so viel zu sehen."
Das ist nun schon ein paar Jahre her. Viele Atelierbesuche später haben wir sowohl Sadik als Mensch und Freund als auch sein Schaffen als Künstler schätzen gelernt. Eine Vielzahl theoretischer Blickwinkel könnte zur Erklärung seiner Arbeiten herangezogen werden. Ironischerweise findet sich jedoch kein besserer Weg dies zu tun, als gerade durch diese drei kurzen Sätze, mit denen er uns bei unserer ersten Begegnung begrüßte: "Ich habe auf euch gewartet", "Kommt herein" und "Es gibt so viel zu sehen."
"Ich habe auf euch gewartet"
Sadik wartet. Er nimmt sich Zeit. Seine Arbeitsweise basiert auf Geduld. Auf der Suche um der Suche willen. Und darauf, sehen zu lernen, statt sich vorwärts zu bewegen. Er wartet darauf, dass sich die Dinge manifestieren, dass Formen Gestalt annehmen, auf das Altern der Zeit, auf das Herunterladen von Dateien und auf eine Wiederkehr der Jahreszeiten. Ganz im Gegensatz zu dem eines passiven Zuschauers ist sein Warten jedoch ein aktiver Akt der Auseinandersetzung mit seiner unmittelbaren Umgebung, mit ihren physischen Reizen und ihren theoretischen Konzepten. Die Ergebnisse seiner Arbeiten, seien es Gemälde, Installationen oder digitale Projektionen, sind mehr als nur formale Ausflüge in unerforschte Gebiete. Es sind vielmehr philosophische Reflexionen über das Selbst, die Sprache und die Art der bildlichen Darstellung. The House that my Father Built (Das Haus, das mein Vater baute), die Arbeit die er eigens für die Ausstellung Told Untold Retold [1] geschaffen hat, ist das Ergebnis einer zwanzigjährigen Wartezeit, die mit dem Verlassen seiner irakischen Heimat begann. Erst nach seiner Rückkehr in den Irak zu einem kurzen Besuch beschwor er seine sehnsüchtigen Gefühle nach Unschuld in einem letzten aussichtslosen Versuch, eine längst verlorene Kindheit zurückzuerobern.
"Kommt Herein"
Obwohl Sadiks Arbeiten sehr persönlich und intim sind, laden Sie stets zum Hereinkommen ein. Mit einer Bildsprache, die das Zugängliche mit dem Fernen und das Offensichtliche mit dem Zweideutigen mischt, schafft Sadik eine visuelle Ikonographie, die uns in eine zeitlose Welt entführt. Eine Welt, die gleichsam tröstlich und bedrohlich, human und sadistisch, versöhnlich und spaltend ist. Die "zyklopisch" gigantische Figur prüft uns mit ihrem allwissenden Auge und entledigt uns der dünnen künstlichen Hülle, mit der wir unsere Unsicherheiten und Gefühle tarnen. Vor der übermächtigen Präsenz dieser Figur fühlen wir uns nackt, bloßgestellt und wehrlos. Doch in einer unerwarteten Wendung durch die meisterhafte Gestaltung des Künstlers werden wir Zeugen der Transformation dieser Überfigur in eine weiche, verletzliche und verletzte Gestalt, die unsere Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit in tiefster Weise teilt.
"Es gibt so viel zu sehen"
Wohin man auch durch Sadiks Welt reist, gibt es unendlich viel zu entdecken. Ein Gefühl komplexer Naivität durchdringt sein ganzes Werk, das die reale Welt als stumpfsinnigen Ort erscheint lässt und sich in dem verlockenden Zauber seiner Kreationen rasch verflüchtigt. In seinen traumhaften visuellen Landschaften fliegen Drachen durch die Luft, um sich in himmlische Vögel zu verwandeln. Kleine Mädchen springen umher, um alsbald zu mütterlichen Gottheiten heranzuwachsen. Sonne und Mond spielen Fangen in einem ewigen Kreislauf von Leben und Tod. Sterne funkeln rhythmisch im Takt und leuchten exotischen Wanderern den Weg. In Sadiks Universum fügen sich die Geräusche der Städte mühelos in eine sanfte Natur ein. Erschütternde Schreie kriegsgeplagter Völker wandeln sich zu Schlafliedern, die sogar Riesen in einen tiefen Schlaf versetzen. Die rieselnden Tropfen von Wasserfontänen verschmelzen mit dem schwarzen Rauschen von Ölraffinerien. Surreal und zugleich fantastisch, und dennoch relevant in ihrem Realismus, verführt uns Sadiks Kunst zur Konfrontation mit dem, was wir eigentlich vermeiden wollen. Sie erlaubt uns zu träumen, ohne den Kontakt mit jener Wirklichkeit zu verlieren, die sie uns zu verlassen ermutigt. Durch dieses Gefühl der Verwirrung gelingt es Sadik, das Persönliche gemeinsam und das Ungewohnte universal werden zu lassen. Und das ist in seinem Fall eine ganz magische Erfahrung.
Vor ein paar Wochen waren wir wieder einmal in Amersfoort zu Besuch, dort wo wir Sadik an jenem trostlosen Nachmittag im tiefen Winter zum ersten Mal begegneten. Dieses Mal war es Sommer und die Natur stand in voller Blüte. "Erinnerst du dich, als wir uns das erste Mal begegneten?" fragten wir ihn. "Es war so kalt an jenem Tag." Mit seinem besonderen Lächeln antwortete Sadik: "Es wird bald wieder kalt sein, aber es wird immer frischen Kaffee geben. Ihr müsst nur warten".
Anmerkung:
Sam Bardaouil & Till Fellrath
Gründer von Art Reoriented, einer kuratorischen Plattform für Kunst, die mit dem Nahen Osten in Zusammenhang steht.
Sadik Kwaish Alfraji:
The House that my Father Built. 2010
Multimediainstallation. Animation aus Zeichnungen, projiziert auf eine auf die Leinwand gemalte Figur und persönliche Objekte.