Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.
Ausstellung im Cornerhouse, Manchester, über die Beziehung zwischen Algerien und der Welt.
Von Yasmina Dekkar | Mai 2011New Cartographies (Neue Kartografien) beginnt mit der Multimediainstallation North to North (2011) von John Perivolaris. Die im Auftrag der Cornerhouse Gallery entstandene Arbeit dokumentiert die Reise des Künstlers von Manchester nach Algier und führt das Publikum in das kuratoriale Programm der Ausstellung ein: "Neue Kartografien" zwischen Frankreich, Algerien und dem Vereinigten Königreich darzustellen.
Mit der Ausstellung New Cartographies präsentieren die Kuratoren Joseph McGonagle und Edward Welch mit zehn etablierten und jüngeren Künstlern aus Algerien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich einen frischen Ansatz zeitgenössischer Kunst. Während die Rolle Algeriens für den postkolonialen Diskurs im kulturellen Bereich weitgehend ignoriert wurde, "haben die Jahre seit 9/11 und der Beginn des 'Krieges gegen den Terror' in der Perspektive der USA und des Vereinigten Königreichs zu einem wachsenden Bewusstsein der strategischen Bedeutung Algeriens hinsichtlich des Handels und der globalen Sicherheit geführt." [1] Statt Algerien als ein definiertes nationales Territorium zu präsentieren, erkundet New Cartographies die Beziehungen zwischen Algerien und der globalen Welt.
Während John Perivolaris eine Reise von Nordeuropa nach Algerien präsentiert, untersucht Zineddine Bessai mit H-OUT (The immigration guide) (2010, Der Immigrationsleitfaden) die Hindernisse, auf die Migranten stoßen, indem er auf einer großen bunten Weltkarte in die entgegengesetzte Richtung reist. Die Schwierigkeiten, Visa zu erhalten, Grenzen zu überschreiten etc., die für einzelne Länder kennzeichnend sind, wurden im algerischen Dialekt auf der Karte vermerkt (ironischerweise war Bessai der einzige Künstler, dem ein Visum für das Vereinigte Königreich verweigert wurde). Bei allem in H-OUT (The immigration guide) benutzten Witz und Humor greift die Arbeit das ernste Thema der Misere sogenannter Harragas auf, was "jene, die Gesetze, Eingrenzungen oder Landesgrenzen übertreten" bedeutet. Diesen Begriff interpretiert Bessai in seiner nächsten Installation Harragas (2010), einem Kreis von Kerzen mit kleinen Figuren aus Karton, wortwörtlich.
Als Fortsetzung des Themas Migration und Reisen wird neben Bessais Installation Bruno Boudjelals Sammlung von Fotografien und begleitenden Tagebuchauszügen über seine Fahrt nach Algerien gezeigt. Algerien von Ost nach West (2001-2003) basiert auf Boudjelals außergewöhnlicher persönlicher Geschichte, die nicht nur etwas über die soziopolitischen Spannungen zwischen Algerien und Frankreich aussagt, sondern insbesondere die psychologische und emotionale Repression der nach Erlangung der Unabhängigkeit geborenen Generation offenlegt. Boudjelal hat über 30 Jahre gebraucht, seine doppelte Herkunft in Erfahrung zu bringen. Sein Vater verleugnete seine algerische Identität und verließ die Familie, als Boudjelal noch jung war. Entschlossen, sich mit seinen algerischen Wurzeln zu verbinden, dokumentierte Boudjelal seine Besuche zwischen 1993 und 2003 in dem vom Krieg zerrissenen Algerien. In flüchtigen, teils unscharfen Fotografien nähert sich Boudjelal seinem Thema, den algerischen Menschen und ihrem Leben während des Bürgerkrieges, auf eine empfindsame und respektvolle Weise.
Devoir de mémoire / Eine Biographie des Verschwindens, Algerien 1992- (2007) von Omar D ist eine der emotional ergreifendsten Arbeiten in dieser Ausstellung. Von Hunderten Passbildern verschwundener Menschen, die der Künstler über die Jahre hinweg in enger Beziehung zu den Familien derjenigen gesammelt hat, die spurlos verschwunden sind, werden in der Galerie etwa fünfzig gezeigt. Diese bewegende Arbeit ist hinsichtlich ihrer persönlichen und politischen Ambitionen einzigartig. Das Trauma dieser besonders dunklen Seite des algerischen Bürgerkriegs wird bis heute unterdrückt. Omar Ds Buch mit demselben Titel, veröffentlicht 2007 in Großbritannien, ist nie in Algerien verbreitet worden. Die algerische Regierung hat kürzlich ein Amnestiegesetz verabschiedet, das jene schützt, die für das Verschwinden von Menschen und für Folter verantwortlich sind. Es verbietet den Familien, weiter nach verschwundenen Angehörigen zu suchen. Das Gesetz zwingt sie mit Androhung gerichtlicher Konsequenzen, zu vergessen. Deswegen sind die Vermissten zweimal verschwunden: aus dem gesellschaftlichen Leben und aus der Erinnerung als Opfer.
Zu enthüllen, was vergessen und unterdrückt ist, macht auch das zentrale Anliegen der neuen Arbeit von Zineb Sedira Gardiennes d'images (2010) aus, die in der Cornerhouse Gallery ihre Premiere in Großbritannien hat. Mit der Videoinstallation wird das Fotoarchiv von Mohamed Kouaci erkundet, dem einzigen offziellen Fotografen des algerischen Unabhängigkeitskrieges, der 1962 zu Ende ging. Auf drei Projektionsflächen zeigt die in London lebende Künstlerin Interviews mit Kouacis Witwe Safia, die nach dem Tod ihres Mannes 1997 das gesamte Fotoarchiv geerbt hat. Diese wichtige Arbeit bringt nicht nur das vergessene Œuvre Kouacis ans Licht, sondern bemüht sich auch darum, der von den französischen Autoritäten weiterhin kontrollierten Historiografie des Algerienkriegs etwas entgegenzusetzen. Da Kouacis Intention, die Gräueltaten aus algerischer Perspektive zu präsentieren, mit der "offiziellen" Darstellung des Krieges interferiert, ist sein Schaffen selten öffentlich gezeigt worden. Der Titel Gardiennes d'images wirft auch die Frage auf, wer die algerische Version der Geschichte lebendig erhält. Das Fehlen öffentlicher Archive in Algerien macht die Witwen und Töchter derjenigen, die im Krieg kämpften, zu den einzigen Bewahrerinnen dieser Erinnerungen.
Die fotografische Installation Chrysanthemum (2010/2011) von Amina Menia besteht aus einer lebensgroßen Fotografie einer Landschaft mit einer weißen Stele im Zentrum sowie einer Serie kleinerer Fotos von Grabsteinen. Die letzteren sind auf Tafeln aufgezogen und zur Landschaftsfotografie auf der gegenüberliegenden Wand hin ausgerichtet. Die Installation wurde für diese Ausstellung in Auftrag gegeben und reflektiert nicht nur über Erinnerung und Gedenken, sondern auch über verschiedene Arten von Denkmälern. Auf der einen Seite wurden Denkmälern für die Märtyrer der algerischen Revolution gewissenhaft gepflegt. Auf der anderen Seite verweisen "Eröffnungsstelen" für Bauprojekte darauf, dass das jeweilige Vorhaben nach der offiziellen Eröffnungszeremonie nicht weitergeführt worden ist. Mit ihrer Arbeit betont die Künstlerin die narrative Dimension dieser Art von Monumenten als Symbolen eines Versprechens, die "das Warten, das Suspendierte, etwas in Vorbereitung..." evozieren. Mit Chrysanthemum liefert Menia, eine der wenigen Künstlerinnen und Künstler, die in Algerien ortsspezifisch arbeiten, eine konzeptuelle Arbeit, in der sie die Beziehung zwischen Objekt und urbanem Raum, Landschaft, Zeit und Architektur hervorhebt.
Auf der Suche nach der Geschichte ihres sephardisch-jüdischen Großvaters reiste Sophie Elbaz 2007 nach Constantine in Ostalgerien. Die schwebenden Bilder in ihrem Video Qacentina (2007) sind eine Metapher der Fragilität des Wissens der Künstlerin über ihre Familiengeschichte und der Erinnerung daran. Das Video wird zusammen mit dem fotografischen Triptychon L'Ile Fantastique (2007) präsentiert. Ihrer eigenen Aussage zufolge wollte Elbaz "phantasmagorische Vorstellungen durch reale Bilder ersetzen". Über ihre Reise sagte sie, "ich fühlte mich an keinem anderen Ort so vertraut und gleichzeitig so fremd. Das Ambiente dort war von jedermann zu betrachten, aber wegen meiner Gefühle sah ich das auf andere Weise. Ich war höchst desorientiert in einem vertrauten Land. Tatsächlich bin ich einen langen Weg gegangen, um Dinge zu finden, die sehr nah sind. Diese Ausflüge erlaubten mir, beim Wesentlichen anzukommen. Nicht die Frage der Identität, sondern die Aussöhnung von Identitäten. In die Lage versetzt zu werden, Bilder in eine überlieferte Bildsprache oder Vorstellungswelt zu platzieren, ist außergewöhnlich."
Die starke Präsenz von Kunstwerken, die seit langer Zeit und auch immer noch verschwiegenen Geschichten eine Stimme geben wollen, ist in New Cartographies überwältigend. Die Teilnehmer von New Cartographies, die zwischen Künstler und Forscher, politischem Aktivisten und Historikern oszillieren, verschmelzen das Persönliche und das Politische. Im Vorgriff auf den 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 2012 führt New Cartographies das britische Publikum in brennende Fragen ein und eröffnet eine Debatte über den Platz Algeriens in der globalen Welt.
Anmerkung:
Yasmina Dekkar
Kulturwissenschaftlerin, Doktorantin am Goldsmiths College, London. Lebt in Berlin, Deutschland, und London, Vereinigtes Königreich.
Kuratoren:
Joseph McGonagle
Edward Welch
Künstler:
Kader Attia
Zineddine Bessaï
Bruno Boudjelal
Omar D
Sophie Elbaz
Yves Jeanmougin
Katia Kameli
Amina Menia
John Perivolaris
Zineb Sedira
New Cartographies:
Algeria-France-UK
8. April - 5. Juni 2011