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Kritische Kunst aus Tunesien, vor und nach der Revolution. Virtuelle Gruppenausstellung.
Von Mohamed Ben Soltane | Sep 2011Die in dieser virtuellen Ausstellung vertretenen tunesischen Künstler gehören verschiedenen Generationen an. Was sie vereint, sind ihre würdevolle Haltung und ihr Mut während der Zeit vor der Revolution, also in einer Periode, in der die Unterdrückung ihren Höhepunkt erreichte. Diese Künstler kämpften in einem schwierigen lokalen Kunstkontext. Mehrere von ihnen waren auf vielschichtige Weise kulturell aktiv, so im direkten künstlerischen Schaffen, als Kunstlehrer, Kritiker, beim Organisieren von Ausstellungen, etc.
Für die meisten von ihnen war das Arbeiten im Land selbst von grundlegender Bedeutung. Vor der Suche nach internationaler Aufmerksamkeit ist es zunächst erforderlich gewesen, die Fundamente der lokalen Kunstszene zu stärken. Die Mehrheit der hier präsentierten Kunstschaffenden gehört nicht zu jenen tunesischen Künstlern, deren Namen im internationalen Kunstgeschehen am häufigsten erscheinen. Dennoch ist ihr Talent immens. Es gibt zahlreiche Gründe für diese Anomalie, und zwar interne wie auch externe.
Einer der internen Gründe ist, dass es vielen unserer Künstler und den künstlerischen Strukturen an dem in einer extrem professionalisierten Kunstwelt notwendigen Professionalismus mangelt. Das Fehlen von Museen und Stiftungen für moderne und zeitgenössische Kunst im Lande, seien es öffentliche oder private, sowie das Nichtvorhandensein einer Kulturpolitik, die eine solche Bezeichnung verdienen würde, sind ebenfalls Ursachen dieser internationalen Unsichtbarkeit.
Was die externen Gründe betrifft, so haben diese mit einem internationalen Kunstsystem zu tun, das eine gewisse Hegemonie beibehält, so dass die Stimmen aus Ländern des Südens nicht genügend gehört werden. Die Entscheidungsträger in den Ländern des Nordens interessieren sich mehr für eine künstlerische Produktion aus den Ländern des Südens, in der sie das bestätigt finden, was sie für "gute" zeitgenössische arabische Kunst halten.
Eine solche Produktion entspricht den Stereotypen, die infolge der postkolonialen Geschichte in neuem Gewand daherkommen. Tatsächlich sind der islamische Schleier, die als unterdrückt dargestellte arabische Frau, islamischer Terrorismus und Krieg die Themen, mit denen Künstler aus der Region einen leichteren Zugang zu internationaler Sichtbarkeit erhalten. Viele der zu einem gewissen Bekanntheitsgrad gelangten Künstler beklagen dieses Phänomen, bei dem ein Teil ihres künstlerischen Schaffens ausgeschlossen bleibt. Der marokkanische Künstler Mounir Fatmi spricht sogar von einer versteckten Forderung, wenn er sich auf westliche Entscheidungsträger bezieht, die ihn einladen, ein Kunstwerk zu erarbeiten.
Dank der vom tunesischen Volk geführten und sich in der arabischen Welt ausgebreiteten Revolution sowie des erklärten Willens, diese Menschen endlich zu Wort kommen zu lassen, hat heutzutage ein anderer Teil der künstlerischen Produktion zu besserer Sichtbarkeit gefunden. Das könnte größere Einblicke in das heutige künstlerische Schaffen erlauben, und die daraus resultierende Kenntnis davon würde der Wirklichkeit erheblich näherkommen.
Aïcha Filali ist eine der wenigen tunesischen Künstlerinnen, die niemals aufgehört haben, sich neu zu erfinden. Was ihr künstlerisches Schaffen am stärksten charakterisiert, ist ihre starke und nicht zurückhaltende Kritik an der Kunstwelt, sei es die tunesische oder die internationale.
Die Frage des Elitären, einer Abgrenzung im Sinne der Formulierung von Bourdieu, ist eine Problematik, die ihre künstlerischen Hervorbringungen durchzieht. In der hier vorgestellten Arbeit, einem Teil ihrer Installation L’angle Mort (Der tote Winkel) in der Galerie Ammam Farhat im März 2010, sehen wir Fotos von "einfachen Leuten", angebracht auf im Galerieraum "installierten" Plexiglastafeln. Diese Leute, die normalerweise nicht zum "exklusiven" Publikum von Kunstgalerien gehören, eignen sich einen Raum an, von dem sie normalerweise sozial ausgeschlossen sind. Ein paar Monate später, im Januar 2011, und dieses Mal in der Realität, werden sie sich den politischen Raum an vorderster Front derjenigen aneignen, die den abgesetzten Präsidenten aus dem Lande jagten.
Mohamed Ali Belkadhi, allgemein Dali genannt, ist einer der begabtesten Künstler seiner Generation. Sein Schaffen ist vielgestaltig und hat eine tatsächliche soziologische Basis. Er bewegt sich zwischen Fotografie, Installation, Malerei und Text, um seine Reflexionen umzusetzen. Ende 1998 präsentierte er ein Kunstwerk, durch das er eine Menge Probleme mit dem früheren Regime bekam. Es war eine Serie von 60 Büchsen mit dem Aufdruck "Ein Getränk, um die Revolution zu machen" und dem Bild Che Guevaras sowie dem Hinweis "Trinkbare und stimulierende Flüssigkeit für jede Person, die Revolution sucht". Als sie in den Schaufenstern der Galerie und Buchhandlung Millefeuilles präsentiert wurden, sind die Büchsen sofort erkannt worden, und sieben Polizisten drangen eines Nachts in das Haus des Künstlers ein und brachten ihn auf das Polizeirevier, wo er mehrere Stunden lang verhört wurde.
Fakhri El Ghezal machte 2004 seinen Abschluss am Institut der Schönen Künste von Tunis, wo er eine Ausbildung in Grafik und Fotografie absolviert hatte. 2007 wurde er für die Rencontres photographiques in Bamako 2007 ausgewählt und präsentierte dort ein fotografisches Projekt mit dem Titel Das Abdel Basset Patchwork.
Die Serie Otages (Geiseln) entstand 2007. Die theoretische Basis dieser Arbeit ist die Manipulation durch die Medien und die Lügen der Medien hinsichtlich der Bilder, mit denen die USA im Jahr 2003 die Invasion des Irak begründeten. Mit seinem Werk macht uns der Künstler deutlich, dass wir alle "Geiseln" dieses globalen Systems sind, das uns manipuliert.
Halim Karabibene gehört zu den wenigen tunesischen Künstlern, die schon internationale Aufmerksamkeit fanden. Er wurde in den 1990er Jahren durch den ätzenden Humor seiner Collagen bekannt. In den letzten Jahren unternahm er multidisziplinäre Aktivitäten, um die öffentlichen Autoritäten dazu zu bringen, das erste Nationale Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst Tunesiens (MNAMC) zu eröffnen. Indem Halim soziale Netzwerke, Vorträge, Happenings und Ausstellungen nutzte, erweckte er dieses Museum virtuell zum Leben, während er auf dessen Realisierung wartete. Der Cocotte, ein kurz vor der Explosion stehender Schnellkochtopf, ist das Symbol des MNAMC.
ismaël (klein geschrieben) ist ein Videokünstler und Liebhaber des Kinos. Sein Schaffen hat in Tunesien noch nicht die Würdigung erhalten, die es verdient, weil der Videokunst keinerlei signifikante Aufmerksamkeit gezollt wird. Ohne politische oder ästhetische Kompromisse einzugehen, hebt sich dieser Künstler durch seinen scharfen kritischen Sinn hervor, den er in seinen geschriebenen Reflexionen und seinen Videos entwickelt. Das Video mit dem Titel TV01, von dem hier Screenshots gezeigt werden, ist eine Mischung aus zwei Fernsehshows, einer religiösen und einer Kochshow, die in Tunesien während des Ramadan sehr beliebt sind. ismaël mischt in seinem Video den Sound der Kochshow, während wir dazu die Bilder des religiösen Programms sehen, und umgekehrt. TV01 kritisiert sowohl den vorherrschenden armseligen Geschmack als auch das religiöse Programm, das von einem Verwandten des gestürzten Präsidenten gesponsert wurde, der nach der Macht greifen wollte.
Mehdi Bouanani, ein junger tunesischer Künstler, arbeitet in Frankreich und stellt oft in Tunesien aus. Er hat diverse Serien von Gemälden geschaffen, in denen kontroverse politische Figuren dargestellt sind. Darunter sind Porträts von Vertretern der Dynastie des Bey und des ersten tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba oder sogar des irakischen Diktators Saddam Hussein. Die beiden letztgenannten wurden vom tunesischen Zoll zurückgehalten, als Bouanani sie im Jahr 2010 in Tunesien ausstellen wollte. Der Künstler musste sich einem Polizeiverhör unterziehen lassen, und seine Ausstellung konnte nicht stattfinden.
Mohamed Ben Slama ist ein unermüdlicher Maler. Er fand immer Wege, um die Autoritäten mit Humor und Frivolität zu nerven, ist jedoch niemals festgenommen worden. In seinen Gemälden sind der islamische Schleier und bärtige Gestalten mit sexy und nackten Figuren vermischt. Ben Slama kommt aus einer bildhaften Strömung mit ausgeprägt tunesischen Wurzeln. Zu seinen Vorläufern gehören die Künstler Guider Triki, Habib Bouabana und Lamine Sassi. In einer der Serien, die er vor ein paar Jahren in Tunesien präsentierte, halten diese Leute ein Transparent hoch, auf dem "RIEN" (Nichts) steht. Mit diesem "Nichts" sollen viele Dinge ausgedrückt werden, darunter das Fehlen von Freiheit und die vom vorigen Regime ausgeübte Repression all jener, die wagten, es zu kritisieren.
Le Salut de la peinture (Der Gruß des Gemäldes) von Nabil Saouabi ist ein Happening, das am 21. Mai 2009 im Abdellia Palast während des 7. Frühlings der Schönen Künste in La Marsa stattfand. In der Videodokumentation des Happenings attackiert Nabil Saouabi die Ankaufkommission des tunesischen Kulturministeriums frontal. Die Kommission, die Kunstwerke für den Staat ankauft, ist wegen ihrer undurchsichtigen Vorgehensweise, ihres fragwürdigen Managements und ihrer verschwommenen Ziele von Künstlern viel kritisiert worden. Die erworbenen Werke werden an ungeeigneten Orten gehortet und drohen dadurch zerstört zu werden. Der Staat schenkte den Forderungen der Künstler, diese obsolete Struktur zu reformieren, kein Gehör. Als Nabil Saouabi erfuhr, dass die sogenannte Kommission beschlossen hatte, ein Werk von ihm zu erwerben, beschloss er, dieses zu zerstören und die Stücke des Gemäldes an die Besucher der Ausstellung zu verteilen.
Das Werk Vista lil 9albèn (Retourner Sa Veste/Die Seiten wechseln) [1] von Nadia Jelassi stammt aus ihrer Einzelausstellung En rupture d’assise (Mit dem Sitz brechen) in der Kanvas Art Gallery im Oktober 2010. Das Thema der Ausstellung war der Stuhl, der die Macht symbolisieren könnte. Die Künstlerin entfernte den Sitz des Stuhls und spielte mit dessen Lehne. Die hier präsentierte Arbeit warnt vor dem Verhalten gewisser Tunesier, die mit dem vorigen Regime kooperierten und sich beeilten, nach der Revolution "die Seiten zu wechseln."
Die Fotografien von Wassim Ghozlani sind Teil der Serie Tunesien 140111, was dem Datum des Höhepunkts der tunesischen Revolution entspricht, also dem Tag, an dem der frühere Präsident ins Exil ging. Während der Aufstände, die das Land im Dezember 2010 und im Januar 2011 erschütterten, machten viele junge Fotografen interessante Aufnahmen, und Wassim Ghozlani ist einer von ihnen. Er hat einen scharfen, komischen und poetischen Blick. In dieser virtuellen Ausstellung sind drei Bilder von ihm zu sehen, die über die Revolution für Freiheit und Würde viel mehr aussagen, als eine lange Rede. Tatsächlich sind die mit Mobiltelefonen aufgenommenen und über soziale Netzwerke verbreiteten Videos für die tunesische Revolution sehr wichtig gewesen. Das zeigt uns eine von Wassims Fotografien. Der Zorn der eigentlich als Pazifisten geltenden Tunesier wurde auch durch die extreme Gewalt und die vorsätzliche Tötung gesteigert, die das Ben Ali Regime gegenüber dem tunesischen Volk ausübte. Das Bild der Graffitizeichnungen handelt bescheiden und humorvoll von dieser Repression. Und dann ist die Explosion der Revolte am 14. Januar 2011 in der Avenue Habib Bourguiba in einer Fotografie ausgedrückt, die emblematisch für den Schrei einer freien Frau steht.
Ymen Berhouma ist eine junge Autodidaktin. Wegen ihrer dynamischen Malerei, der eine gewisse Naivität im positiven Sinne des Wortes innewohnt, wurde sie in die Kunstwelt eingeführt. Die von ihr kreierten Charaktere laden uns zum Träumen ein und weisen eine Nähe zu Kindergeschichten auf. Nach und nach, mit der Konsolidierung ihrer Technik, wurde die Malerei dieser jungen Tunesierin dunkler und spannungsgeladen. Ymen hört nicht auf zu experimentieren und bewegt sich in so verschiedenen Ausdruckformen wie Skulptur, Zeichnung und Installation.
Ahl Al Kahf ist ein anonymes Kollektiv, das sich auf seiner Facebookseite selbst als "eine Bewegung junger Leute aus Tunesien, Anti-Globalisierung und Anti-Orientalismus, geboren aus der Revolution" definiert. Diese Bewegung war besonders aktiv während des Sitzstreiks in der Casbah von Tunis, der zur Absetzung der ersten nachrevolutionären Regierung beitragen sollte, die aus Mitgliedern des alten Regimes bestand. Dann machte die Bewegung weiter und tat sich durch Graffiti an den wichtigsten Verkehrsadern der tunesischen Hauptstadt hervor. Die Arbeiten von Ahl Al Kahf ehren globale Figuren des Widerstands und attackieren in solchen Bildern wie denen des blutrünstigen Gaddafi spielerisch die in den arabischen Ländern verbliebenen Diktatoren.
Anmerkung:
Mohamed Ben Soltane
Künstler und künstlerischer Leiter des B'chira Kunstzentrums in Tunis.
Ein Projekt auf Initiative und im Auftrag des Nafas Kunstmagazins
Atem der Freiheit
Kritische Kunst aus Tunesien, vor und nach der Revolution. Virtuelle Gruppenausstellung.
Kurator: Mohamed Ben Soltane
Künstler/Innen:
Ahl Al Kahf
Mohamed Ali Belkadhi
Ymen Berhouma
Mehdi Bouanani
Aïcha Filali
Fakhri El Ghezal
Wassim Ghozlani
ismaël
Nadia Jelassi
Halim Karabibene
Nabil Saouabi
Mohamed Ben Slama