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Künstler und Intelektuelle erkunden gemeinsam, was vom Erbe des Ottomanischen Reiches übrigblieb.
Von Defne Ayas und Neery Melkonian | Mär 2011Unter dem Title Blind Dates: New Encounters from the Edges of a Former Empire (Neue Begegnungen von den Rändern eines früheren Reiches) wurden im November 2010 dreizehn neue gemeinschaftliche Kunstprojekte in der Pratt Manhattan Gallery vorgestellt. Die Ausstellung und eine Reihe damit verbundener öffentlicher Programme, die schon zwei Jahre vor der Eröffnung begannen, boten eine seltene Plattform, insbesondere im nordamerikanischen Kontext, sowohl für Künstler als auch für Nicht-Künstler, die kuratorial "verkuppelt" wurden, um sich damit auseinanderzusetzen, was vom Erbe und dem Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches (1299-1923) übrigblieb.
Das Projekt Blind Dates wurde 2006 von den Kuratorinnen Defne Ayas und Neery Melkonian konzipiert. Sie haben eine Erweiterung seiner Reichweite vor, indem sie es für Neufassungen öffnen und Kolleginnen und Kollegen einladen, weitere künstlerisch Mitwirkende hinzuzufügen, wozu es kommen wird, wenn die Ausstellung in diesem Jahr ihre internationale Reise beginnt.
Das Nafas Kunstmagazin lud Ayas und Melkonian ein, über ihren kuratorialen Ansatz und den Prozess des Zustandekommens der ersten Station der Ausstellung in New York zu reflektieren, wo sie während der Performa 2005 durch den Künstler Melik Ohanian bei einem Blind Date zusammenkamen.
Konzept & Anliegen:
Wir brauchten erst ein "Blind Date", um uns zu treffen und als "armenische" und "türkische" Kuratorinnen eine bedeutende Reise anzutreten. Wir dachten, die Vermittlung ähnlicher Treffen könnte andere dazu ermutigen, mit dem Auflösen der diffizilien Knoten zu beginnen, die einen "Dialog" zwischen zerstrittenen Nachbarn und entfernten Kulturen erschweren, weil sie mit einer fragmentierten, entterritorialisierten kulturellen Kartographie zu tun haben.
Das Projekt Blind Dates geht von der Prämisse aus, dass der abrupte Zusammenbruch des Reiches und seine gewaltsame Aufspaltung in Nationalstaaten bis auf das heutige Leben nachklingende Wirkungen haben. Angesichts der gegenwärtigen politischen Veränderungen, die sich auf dem Gebiet des früheren Ottomanischen Reiches vollziehen (das einst große Teile des Nahen und Mittleren Osten und Nordafrikas, des Schwarzen Meeres und der Kaukasusregion sowie Gebiete Europas umfasste), wird ein kritisches Verständnis der ungelösten historischen Grundfragen wichtiger denn je. Man könnte auch behaupten, dass die heutigen Kämpfe in Ägypten, Libyen, Irak und Palästina sowie die moderne Formierung der armenischen und griechischen Diaspora größtenteils mit diesem fraglichen historischen Moment in Verbindung stehen. Dem wäre eine entsprechende Amnesie und Perversion der Geschichtsschreibung oder das fortgesetzte Negieren katastrophaler Ereignisse in der türkischen Politik von heute hinzuzufügen.
Bis jetzt musste sich ein interessiertes Publikum vor allem auf Akademiker, Politiker oder sogar literarische Traditionen verlassen, um etwas über dieses wenig erforschte, überaus komplexe Thema zu erfahren. Selbst wenn es an führenden westlichen Institutionen seit Jahrzehnten ottomanische Studien gibt, können wir erst seit kurzem eine nicht-formalistische oder kritische Forschung auf damit verbundenen Fachgebieten feststellen. Das Projekt Blind Dates vertraute einer Reihe etablierter und junger Künstler und Fachleute aus Armenien, Bosnien, Griechenland, Israel, Libanon und der Türkei zusammen mit ihren transnationalen oder "globalisierten" Kolleginnen und Kollegen in Europa und den USA die Aufgabe des "Verlernens und Neulernens" an. Wir als Kuratorinnen ermutigten sie zur Einbeziehung anderer Gebiete der Wissensproduktion in ihre Fragestellungen, so z.B. Architektur, Philosophie, Anthropologie, Dichtung und Tanz. Wir bemühten uns darum, einen diskursiven und ästhetischen Raum zu definieren, der auf ignorierten Gefühlen, ungeklärten Geschichten, verschwiegenen Archiven etc. basiert.
Prozess:
Als "Hausarbeit" begannen wir damit, Künstler und Nicht-Künstler für eine Reihe privater und informeller Diskussionen zu paaren oder besser gesagt zu verkuppeln. Üblicherweise fanden sie an runden Esstischen statt und halfen, den kuratorialen Prozess anzuregen. Wir orchestrierten diese sogenannten "Blind Dates", um auf Forschung basierende künstlerische Projekte zu ermöglichen. Zu solchen Treffen kam es in Städten wie New York, Los Angeles, Austin, Istanbul, Amsterdam, Schanghai, Sharjah, Sarajevo, Jerewan, Van und Venedig. Auch als Vorspiel der Ausstellung fand eine Reihe von Blind Dates als Rundtischgespräche statt, bei denen Leute zusammenkamen, die daran interessiert sind, Haupterzählstränge zu dekonstruieren, "neue Wege des Sehens" umstrittener historischer Darstellungen/Ereignisse zu suchen und dem Agieren durch künstlerische und kuratoriale Praxis eine Chance zu geben. Als wir die Vorschläge von den eingeladenen Künstlern/Mitwirkenden erhielten, begann ein Verbund von Sensibilitäten eine menschliche Geographie zu kartographieren, gekennzeichnet durch spezifische Vorlieben für Bilder, Stimmen, Orte und Geschichten, die mit existierenden Klassifizierungen von Nationalstaaten, Kunstgeschichten und Identitäten kollidierten. Zusammenfassend lässt sich sagen, die Künstler intervenierten in die Art, wie gewisse Vergangenheiten bis dahin "geschrieben" oder "repräsentiert" worden waren, ohne in Nostalgie, fixierte Erzählweisen oder Klischees zu verfallen.
In der Ausstellung vorherrschende Grundzüge:
Der Autor und visuelle Künstler Jalal Toufic arbeitete mit dem Professor für Ottomanische Studien Selim Kuru zusammen, um einen Teil seines neuesten philosophischen Textes "The withdrawal of tradition past surpassing disaster" vom Englischen ins Ottomanische zu übersetzen. Dieser symbolische Versuch, eine jahrhundertealte Sprache wieder zum Leben zu erwecken, die mit dem Zusammenbruch des Reiches und durch dessen moderne, nationalistische Neufassung ebenfalls verschwand, war ein Beispiel dafür, wie eine verlorene Tradition zu einem merkwürdigen Zweck wiedererweckt werden kann.
Jean Marie Casbarian stellte eine Gruppe schwarzweißer Fotografien aus den stark gefährdeten Archiven der Near East Foundation neu zusammen, um die zwiespältige Beziehung zwischen dem "Geretteten" und dem "Retter" hervorzuheben. Der begleitende Essay der Genozid-Historikerin Nazan Maksudyan über ihre Großmutter transformierte die Fragilität der Glasplatten, die als Träger dienten, in eine Aussage über "den Tod des Zeugen".
Andere Künstler konzentrierten sich darauf, wie wichtig es ist, das Trauerverbot herauszufordern, ohne in Viktimisierung zu verfallen. Hrayr Anmahouni Eulmessekian kooperierte mit dem Tonakademiker Anahid Kassabian, um dokumentarische Ansätze zu kritisieren, die vorgeben, Traumata und Gräueltaten darzustellen. Das Kollektiv Xurban machte sich auf eine 2800 km lange Reise zu fünf "verwüsteten" Städten in Anatolien und brachte Beispiele von Blumen und natürlichen Tönen der Regionen mit, um das zu erfassen, was einige für einen kontroversen Ansatz halten, der Katastrophen naturalisiert, wenn die Natur zum Heilen angerufen wird. Aram Jibilians fotografische Rekonstruktion von Arshile Gorkys Geist (verkörpert durch Aaron Mattocks), der das Umland von dessen Zuhause und seine Nachbarn in Connecticut besuchte, bezieht sich auf die Sinnlosigkeit biographischer Übersetzungen.
Die Architekturmodelle und -skizzen der Arbeit Remains Connected: The Bridge at Ani von Silva Ajemian und Aslihan Demirta führen uns durch die Ruinen einer alten, durch die Staatsgrenze zwischen der Türkei und Armenien geteilten Stadt, die einst durch eine jetzt zusammengebrochene Brücke über den Fluss Arpa, der das Gebiet ebenfalls teilt, verbunden war.
Elif Uras und Linda Ganjian entschieden sich dafür, eine Tradition neu zu beleben, bei der sie ihre Leidenschaft für das Kunsthandwerk teilen konnten. Sie schufen einen als göbek taşı (Nabelstein) bekannten, oktogonalen Sockel, der komplett mit bemalten Keramikfliesen bedeckt ist, die auf das unter der ottomanischen Herrschaft im 18. und 19. Jahrhundert verknüpfte ästhetische Erbe von Armeniern und Türken anspielen. In einem ähnlichen Bemühen auf einem anderen Gebiet arbeitete Stefan Tsivopoulos mit den modernen Tänzern Ursula Eagly, Carlos Fittante & Christopher Williams bei seinem Projekt Dance DNA zusammen, um die Ursprünge des griechischen Tanzes Zeibekiko aufzuzeigen und ihm eine frische Identität zu geben.
Die Konzeptkünstler Nina Katchadourian und Ahmet Öğüt widmeten sich dem Thema Gerechtigkeit in einem Performancestück, das darin bestand, sich unter Eid ein lebenslanges Versprechen zu geben. In ihrem Projekt AH-HA geht es um den Akt des Austauschs von Briefen in ihrem Namen durch eine beglaubigte Transaktion.
Das Video Oriental Dream von Michael Blum und Damir Nikšić skizziert "business as usual" in der zeitgenössischen Geopolitik der Ost-West-Teilung, die Brüche weiterbestehen lässt. Auch Karine Matsakyan und Sona Abgaryan wählten einen humoristischen Ansatz für ihre Auseinandersetzung mit der fortgesetzten Geschlechterteilung.
Zu guter Letzt kehrten wir alle an das Zeichenbrett der Neufassung von (Kunst-) Geschichte zurück, indem wir fragten wer/wie/warum Geschichte geschrieben ist. Diese These wurde durch ein neues ottomanisches "Projekt-Zeitschienen"-Poster von den jungen Kuratorinnen Özge Ersoy und Taline Toutounjian hervorgebracht.
Defne Ayas und Neery Melkonian
Kuratorinnen des Projekts Blind Dates. Defne Ayas: Kuratorin von Performa, New York, und eine der Leiterinnen von Arthub in Shanghai. Neery Melkonian: freischaffende Kunstberaterin, Pädagogin und Autorin.
Kuratorinnen:
Defne Ayas, Neery Melkonian
Blind Dates: New Encounters from the Edges of a Former Empire
19. Nov. 2010 - 12. Feb. 2011
Pratt Manhattan Gallery
144 West 14th Street
New York, USA