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150 Jahre Fotografie aus Indien, Pakistan und Bangladesch; Whitechapel Gallery London.
Von Rosa Maria Falvo | Feb 2010Diese anspruchsvolle Übersicht historischer und zeitgenössischer Fotografie aus Indien, Pakistan und Bangladesch mit mehr als 400 Bildern von 82 Künstlern umspannt einen Zeitraum von 150 Jahren. Indem sie eine gemeinsame Kultur als einen Parameter benutzt, ist dies die erste umfassende Vision Südasiens, die im Westen präsentiert wird, denn diese Bilder sind nicht "über" die Region, und es sind keine europäischen Perspektiven zu sehen. Wer eine Text basierte, ethnografische Erzählweise einer vormals kolonialen Welt erwartet, wird dergleichen hier nicht finden.
Installiert in einer Bastion westlicher Kunst, der Londoner Whitechapel Gallery, 63 Jahre nach der Erringung der Unabhängigkeit Indiens und der darauffolgenden Auflösung des britischen Herrschaftsgebiets, soll die Schau dessen Topografie mit ausdrücklich einheimischem Blick erkunden. Natürlich ist die Politik dem Bildermachen inhärent - unsere "Art des Sehens" und der Kontext, in dem wir Bilder betrachten, werfen fundamentale Fragen auf. Auf erfrischende Weise handelt es sich hierbei um einen Fall der Selbstentdeckung, um eine Art meditativen Abbildens eines kollektiven Selbst und seiner geographischen Wahrheiten, bei dem der "Andere" von innen heraus beobachtet.
Die Personen auf solchen Bildern wie Arbeiter auf einer Baustelle in der Stadt (Bangladesch, 1980) von Mohammad Ali Salimund und Regnerische Tage in Lahore (Pakistan, 2008) von Mohammad Arif Ali sind nicht als archetypische Opfer oder Schmuddelkinder aufgefasst. Obwohl die Aufnahmen keineswegs das Leid und die Wirklichkeit ignorieren, bieten sie eine entschlossene und oftmals hoffnungsvolle Alternative zu den in den Medien üblicherweise verbreiteten Bilder des Todes und der Zerstörung, die offenkundig eine Desensibilisierung des Publikums "außerhalb" bewirkten. Die Kuratoren haben unsere allgemeine Sicht des Subkontinents in Frage gestellt und sogar herausgefordert, indem sie eine Art antikoloniale Antwort auf die offizielle westliche Fotografiegeschichte präsentieren. Sie fordern uns auf, den Beitrag Südasiens zu würdigen, der 1850 in Indien beginnt. In diesem Sinne wird die Schau zu einem wegweisenden Katalysator, inspiriert durch die Lücken.
Der kuratoriale Ansatz will die genaueren sozialen und kreativen Wendepunkte aufzeigen, die in jeder Werkgruppe enthalten sind. Sunil Gupta verweist auf ein besonderes Beispiel, wie Transsexuelle, die zuvor von der kolonialen Gesetzgebung geächtet waren, im Kontext der historischen "Fluidität der Sexualität in Indien" dargestellt sind. Obschon die offenkundige Gefahr einer Homogenisierung besteht, erinnert er uns daran, dass "Kultur nicht aufgesplittet werden kann". Die Macht der Fotografie, ein heutiges Publikum zu erreichen, führt dazu, dass "Westler" wahrscheinlich eher die Ähnlichkeiten zwischen diesen Nationen feststellen, während "Südasiaten" zwangsläufig für deren Unterschiede sensibel sind. Aber die Landschaft verschiebt sich, denn Themen der "Mehrheitswelt" werden zunehmend von jenen angesprochen, die sie am besten verstehen und nicht länger ignoriert werden können. Mehr Repräsentationen der inneren Strukturen bis dato "fremder" Realitäten werden letztendlich die eindimensionalen Auffassungen von Systemen, Symptomen und Konflikten ausgleichen. Wenn es einen Trend beim Aufkommen von "einheimischen Fotografen" gibt, dann ist es ihre Fähigkeit, eine Intimität mit ihren Sujets herzustellen, die deren Menschlichkeit unterstreicht. Ich finde, es ist diese Authentizität des Bildermachens, durch die eine narrative Eloquenz des Dargestellten entsteht.
Trotz des in Indien boomenden Kunstmarkts ist die Fotografie als eine künstlerische Disziplin dort paradoxerweise erst im Kommen. Und in Pakistan ist das Interesse einer neuen Generation an diesem Medium ein zwar vielversprechendes, gleichwohl aber noch junges Phänomen. Bangladesch hat mit einem etablierten internationalen Festival - Chobi Mela - und der dynamischen Galerie Drik (was in Sanskrit Vision bedeutet) in Dhaka, die seit mehr als 20 Jahren lokale Fotografen repräsentiert, den Weg gewiesen.
Die Ausstellung ist in fünf thematische Bereiche gegliedert, die sich unweigerlich zu nationalen Geschichten zusammenfügen und zugleich darüber hinausreichen: das Porträt, die Darbietung, die Familie, die Straße und das Staatswesen. Legendäre Fotografen aus Bangladesch wie Amanul Huq und Nasir Ali Mamun werden gemeinsam mit ihren heutigen Kollegen wie Abir Abdullah, Shumon Ahmed und Shahidul Alam präsentiert. Gezeigt werden fotografische Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert aus der berühmten Sammlung Alkazi in Delhi, der Abhishek Poddar Sammlung in Bangalore und dem White Star Archive in Karachi sowie viele Werke aus Familienarchiven, Galerien und von etablierten zeitgenössischen Künstlern, die zuvor noch nie ausgestellt waren. Wir sehen handkolorierte Bilder von Kurtisanen und Familien, geschaffen von anonymen Fotografen der ersten von Indern betriebenen Studios, journalistische Aufnahmen wichtiger politischer Ereignisse (Rashid Talukders Foto von der Rückkehr Sheikh Mujibur Rahmans in sein Heimatland von 1972 und Benazir Bhuttos Ankunft auf dem Flughafen von Karachi 1988) und topaktuelle Rekonfigurationen der gebauten Umwelt (Farida Batools Nai Reesan Shehr Lahore Diyan von 2006 und Rashid Ranas Zwillinge, 2007). Als virtuelle Mit-Protagonisten bei der Entfaltung dieser Geschichten ist es den Betrachtern überlassen, ihre eigene Sozialkritik beizusteuern.
Fantastische Zirkusdarbietungen (Matineeschau von Saibal Das, 2001) und glamouröse Bollywoodstars (Dev Anand und Meena Kumari in den 1950ern) erfassen Porträts in Porträts und zeugen von der Fähigkeit der Fotografie, dem Gegenstand ihres Blicks Ausdruckskraft zu verleihen. Hier rekonstruiert eine Region ihr eigenes Bild und behandelt Kasten und Sexualität ebenso natürlich wie Geopolitik und Umweltkatastrophen. Es ist nicht das "Anderssein", das wir zu bedenken haben, sondern unsere Bereitschaft, das was wir bislang zu wissen glaubten, neu kennenzulernen.
Angesichts des dichterischen Ausspruchs eines der Kuratoren, Radhika Singh, der die Ausstellung mit einer Zeile aus T.S Eliots Aschermittwoch (1930) betitelte "Dies ist die Zeit der Spannung zwischen Vergehen und Entstehen. Der Ort der Einsamkeit dort wo drei Träume kreuzen...", muss ich unweigerlich an William Blakes Letter to Revd Dr Trusler (1799) denken: "Wie ein Mensch ist, so sieht er. Wie das Auge gebildet ist, so sind dessen Mächte". Vorstellungskraft und Argument zu verpacken ist immer problematisch, aber die selbstgewisse und feierliche Stimmung dieser Schau schafft es, ästhetisch wie intellektuell in Erstaunen zu versetzen. Es ist als ob das kollektive Objektiv auf die Zirkulation von Diskursen und die Ausformung transnationaler Verbindungen zwischen Menschen über die Zeiten hinweg neu fokussiert wäre. Es ist bedauerlich, dass diese Ausstellung, zumindest nach dem gegenwärtigen Stand, nicht an Orte wie Birmingham oder Leicester reist, wo die Perspektiven aus dem Inneren des heutigen Britannien ohne Zweifel noch reichere Bildungsmöglichkeiten eröffnen würden.
Rosa Maria Falvo
Freischaffende Autorin und Kuratorin, spezialisiert auf zeitgenössische asiatische Kunst. Beraterin von Skira International Publishing in Mailand für die Region Asien-Pazifik.
Kuratoren:
Sunil Gupta
Shahidul Alam
Hammad Nasar
Radhika Singh
Kirsty Ogg
Ausstellungstour:
Fotomuseum Winterthur, Schweiz
11. Juni - 22. August 2010
Where Three Dreams Cross:
150 Years of Photography from India, Pakistan & Bangladesh
21. Januar - 11. April 2010