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Von der islamischen Kunst zur zeitgenössischen Kunst. Ausstellung im Kunstmuseum Bochum, 2010.
Von Necmi Sönmez | Jul 2010"UNERWARTET / UNEXPECTED - Von der islamischen zur zeitgenössischen Kunst" ist ein Projekt des Kunstmuseums Bochum im Rahmen des unter dem Titel Mapping the Region stehenden gemeinsamen Auftritts der RuhrKunstmuseen anlässlich von Europäische Kulturhaupstadt RUHR.2010.
Die Ausstellung operiert auf drei Ebenen. Den Ausgangspunkt bilden großformatige Fotografien des finnischen Künstlers Tuomo Manninnen, die zehn Familien mit Wurzeln in islamischen Ländern präsentieren. Diese Familien leben teilweise schon in der dritten oder vierten Generation in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets und zeigen sich in ihrem heutigen Umfeld.
Auf einer zweiten Ebene werden Werke von zeitgenössischen Künstlern (Hamra Abbas, Arahmaiani, Lara Baladi, Mounir Fatmi, Tarek Al-Ghoussein, Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Arash Hanaei, Shady El Noshokaty, Zineb Sedira und Nebojsa Seric Shoba) aus den jeweiligen Herkunftsländern der ausgewählten Familien gezeigt. Hierdurch stellt sich eine Verbindung zwischen Migration und zeitgenössischer Kunst her. Um die Bezugspunkte zwischen den erfolgreich integrierten Familien und der aktuellen Kunst aus den jeweiligen islamisch geprägten Herkunftsländern weiter zu beleuchten, werden Exponate der klassischen islamischen Kunst als dritte Ebene der Ausstellung einbezogen. Durch diese verschränken sich Tradition und Gegenwart, aber auch Brüche der Überlieferung im Kontext ihrer gegenwärtigen Bedeutung. Die interdisziplinär angelegte Ausstellung operiert mit Spiegelungen und Wechselwirkungen zwischen diesen drei Ebenen und verweigert sich bewusst vereinfachenden und klischeehaften Bestimmungen und Festlegungen.
Die Begriffe "Islam", "Kultur" und "zeitgenössische Kunst" sind in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West unterschiedlich besetzt. Eine abschließende Klärung dieser problematischen Begrifflichkeiten ist komplex und keine primäre Zielsetzung dieses Projekts, zumal der zeitgenössische Teil der Ausstellung nicht generell "die" islamische Kunst oder Kultur darstellen möchte oder kann, sondern vor allem die Strategien der jungen Künstlergeneration ins Auge fasst. Letztere demonstriert auf sehr eigenständige Weise ihre Sicht auf die Welt, in der sie lebt. Das "contemporary image making" ihrer Arbeiten wird von einer Wahrnehmung bestimmt, die sich oft fragmentarischer, surrealistischer oder poetischer Mittel und Elemente bedient, unabhängig von regionalen, ethnischen und historischen Bedingungen.
Für Beobachter der heutigen Konstellationen zwischen Orient und Okzident ist sehr gut nachzuvollziehen, warum Schriftsteller und Künstler, die in islamisch geprägten Kulturen ihre Herkunft haben, ablehnend reagieren, wenn man sie aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit politischen, soziologischen oder ästhetischen Kategorien zuordnen möchte; verweisen sie doch mit Recht darauf, dass diese primär in westlichen Vorstellungen und Vorurteilen ihren Ursprung haben. Mitteleuropäer können schwer verstehen, warum solche kategorialen Zuordnungen in islamischen Kulturen negativ besetzt sind. Aus dem Kolonialismus ist die vermeintliche Überlegenheit des europäischen Wertesystems gegenüber der Kunst anderer Kulturen herzuleiten, insbesondere im Hinblick auf islamisch geprägte Länder. Bis in die Gegenwart ist es kaum gelungen, zeitgenössische Kunst aus diesen Ländern aus einem Blickwinkel der Gleichberechtigung, ohne Vereinfachungen und Verallgemeinerungen zu betrachten.
Der Titel "UNERWARTET / UNEXPECTED" bezeichnet die übliche erste Reaktion eines eurozentrisch orientierten Kunstpublikums, wenn es um heutige Kunst aus islamischen Kulturen geht. Ein Hauptanliegen der Ausstellung ist der Versuch, den Transfer neuer kultureller Erfahrungen und Austauschbeziehungen wahrzunehmen. Während sich die bisherige Praxis verwandter Ausstellungen im deutschsprachigen Raum ( z.B. DisORIENTation, Zeitgenössische arabische Kunstproduktion aus dem Nahen Osten, Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2003; TASWIR, Islamische Bildwelten und Moderne, Martin Gropius-Bau, Berlin, 2010) auf einfache "Präsentionen" oder auf eine "Aufforderung zum Dialog" konzentriert hat, wird im Kunstmuseum Bochum eine andere Darstellungsform erprobt. Dabei zieht sich die Vergegenwärtigung der Migration aus islamischen Ländern in das Ruhrgebiet wie ein Roter Faden durch die Ausstellung.
Einwanderer in das Ruhrgebiet fanden sich hier zunächst nur mit der Perspektive einer begrenzten Aufenthaltsdauer ein, bald aber kamen sie mit der festen Aussicht, den Rest ihres Lebens in dieser Region zu verbringen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten zeigt die gelungene Integration der zweiten und dritten Generation von "Gastarbeiter"- Kindern, welche Fortschritte im Sinne von Chancengleichheit und Gleichberechtigung inzwischen beim Zusammenleben von Einheimischen und Einwanderern im Ruhrgebiet erzielt werden konnten. Das ist eine der wichtigsten Aussagen der Fotos von Tuomo Manninen. Die Dichter Nazim Hikmet, Mahmoud Darwish und Adonis bezeichnen in ihrer Prosa kreative Menschen oft als "innere Immigranten", die, von unterschiedlichen Motiven geleitet, neue Wege gehen. Deshalb scheint ein Vergleich zwischen damaligen "Gastarbeitern" und Künstlern, so wie dieser in der Ausstellung experimentell vollzogen wird, durchaus möglich. Neugier auf ein "neues Leben" in unbekannter, fremder Umgebung und der Wunsch, sozialen, politischen und kulturellen Zwängen zu entfliehen, sind vergleichbare Motive und Antriebskräfte beider Gruppen. Oft lesen sich die Biografien von Migranten und Künstlern wie Emanzipationsprozesse. Die Gewissheit, bald wieder in die Heimat zurückzukehren, war für die meisten "Gastarbeiter" überhaupt erst die Voraussetzung für die Bereitschaft, in ein anderes Land zu gehen.
Fast die Hälfte der eingeladenen Künstler der Ausstellung lebt und arbeitet "in der Fremde". Sie pendeln ständig zwischen ihrem Geburts- und Arbeitsort, um neue Denkimpulse aufnehmen, die vielfach Gegenstand ihrer künstlerischen Projekte werden. Einige Aspekte der Ausstellung mögen "transitorisch" anmuten, weil sie verschiedene Traditionen der alten im Übergang zur neuen Heimat reflektieren. Fast alle Arbeiten verbindet die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrem Weiterwirken in den neuen Lebensverhältnissen. Dabei geht es nicht nur um die Geschichte des Morgenlandes als einem abgegrenzten Bereich, sondern vielmehr um die Weltgeschichte, deren politische Folgen in islamisch geprägten Ländern besonders spürbar sind. Dabei kommt der "Wind", der gleichsam in allen Ecken der Ausstellungsräume weht, hauptsächlich aus südlicher und südöstlicher Richtung.
Künstler/innen:
Tuomo Manninen
* 1962 Jyväskylä, Finnland. Lebt in Helsinki, Finnland.
Hamra Abbas
* 1976 Kuwait; pakistanischer Herkunft. Lebt in Islamabad, Pakistan, und Boston, USA.
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Arahmaiani
* 1961 Bandung, West-Java, Indonesien. Lebt in Yogyakarta, Indonesien.
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Lara Baladi
* 1969 Beirut, Libanon. Lebt in Kairo, Ägypten.
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Mounir Fatmi
* 1970 Tanger, Marokko. Lebt in Paris, Frankreich, und Tanger.
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Tarek Al-Ghoussein
* 1962 Kuwait, Palästinenser. Lebt in Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate.
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Özlem Günyol
* 1977 Ankara, Türkei. Lebt in Frankfurt a.M., Deutschland.
Arash Hanaei
* 1978 Teheran, Iran; lebt dort.
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Mustafa Kunt
* 1978 Ankara, Türkei. Lebt in Frankfurt a.M., Deutschland.
Shady El Noshokaty
* 1971 Damietta, Ägypten. Lebt in Kairo, Ägypten.
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Zineb Sedira
* 1963 Paris, Frankreich; algerischer Herkunft. Lebt in London, Vereinigtes Königreich.
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Nebosja Seric Shoba
* 1968 Sarajevo, Bosnien-Herzegowina. Lebt in New York, USA.
Necmi Sönmez
Freischaffender Kurator. Geboren in Istanbul, Türkei; lebt dort und in Düsseldorf, Deutschland.
Kuratoren:
Necmi Sönmez
zeitgenöss. Künstler
Claus-Peter Haase
islamische Kunst
UNERWARTET / UNEXPECTED
Von der islamischen Kunst zur zeitgenössischen Kunst
18. Juni - 10. Okt. 2010