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Symposium in Kairo über Archive und andere Strategien der [Re-] Aktivierung kultureller Erinnerung.
Von Laura Carderera | Nov 2010In den letzten zehn Jahren ist viel über eine "kulturelle Renaissance" im Nahen Osten gesprochen worden. Die Gründung und Konsolidierung von Biennalen, Kunstmessen und die Fülle neuer Museen, die am Golf entstehen, haben die Region ins Rampenlicht der Kunstwelt gerückt. Doch von einer Renaissance zu reden impliziert oft, dass die Region aus einem dunklen Zeitalter emporkommen würde, in dem die Geschichte entweder still stand oder die Erinnerung an jene Periode verlorengegangen ist.
Mit Speak, Memory: on archives and other strategies of (re) activation of cultural memory (Erinnerung, sprich: über Archive und andere Strategien der [Re]Aktivierung kultureller Erinnerung) in der Townhouse Gallery in Kairo im Oktober 2010 sollten Wege einer Bewahrung der verblassenden Geschichte der vernachlässigten kulturellen und künstlerischen Bewegungen in der Region im 20. Jahrhundert erkundet werden. Die Veranstaltung brachte Künstler, Kuratoren, Historiker, Archivare, Sammler und Museumsmitarbeiter zusammen, um sich an einer kritischen Diskussion über den Zustand von Archiven und der derzeitigen Forschung über die jüngere Kunstgeschichte des Nahen Ostens zu beteiligen. Die Teilnehmer des Symposiums waren eingeladen, über mögliche Strategien nachzudenken, wie das jüngere kulturelle Gedächtnis der Region bewahrt und reaktiviert werden könnte.
Man scheint sich im Allgemeinen darüber einig zu sein, dass die gegenwärtige Forschung über die moderne Kunstgeschichte der Region nur spärlich und unbefriedigend ist. Es gibt zwar Primärquellen, aber diese sind verstreut und schwer zugänglich, sei es weil sie sich in den Händen privater Sammler befinden oder weil sie in staatlichen Aufbewahrungsorten liegen, die inkonsistente und undurchsichtige Regeln für den Zugang haben.
Doch seit kurzem ist eine Ausbreitung von historiographischen und Forschungsprojekten festzustellen, die sich bemühen, die Kulturgeschichte der Region im 20. Jahrhundert zu hinterfragen, zu dokumentieren oder zu erhellen, wobei jedes davon mit einer eigenen Strategie oder Methodologie vorgeht. Beispiele dafür sind Walid Raads Projekt Scratching on Things I Could Disavow: a history of modern and contemporary art in the Arab World oder solche Projekte wie die von den in Beirut lebenden Forscherinnen Rasha Salti und Kristine Khouri gegründete Studiengruppe für die Geschichte der arabischen Moderne in den visuellen Künsten. Diese Initiative hinterfragt die existierende Forschung über moderne arabische Kunst und zielt darauf ab, ein lebendiges Archiv zu schaffen, das die Geschichte von Ausstellungen, Galerien, Sammlern und Kunstpraktiken dokumentiert, die anscheinend in Vergessenheit geraten, falsch interpretiert oder manchmal schlichtweg abgelehnt worden sind. Und letztendlich wird wertvolle neue Forschung auf dem Gebiet von einer neuen Generation von Akademikern und Wissenschaftlern betrieben, von denen viele zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Universitäten der USA promovieren und mit der AMCA [1] (Association of Modern and Contemporary Art of the Arab World, Iran and Turkey) verbunden sind.
Während diese Forschungsprojekte in Gang kommen, zieht der Markt für moderne und zeitgenössische Kunst der Region eine wachsende Aufmerksamkeit privater Sammler sowie von Museen an. Das führt zum allmählichen Erwerb und Export von Künstlerarchiven, Magazinen und anderen Relikten der regionalen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts [2]. Solche Verkäufe und Ankäufe von Dokumenten durch Sammler finden für gewöhnlich im Verborgenen statt, weshalb nicht nachvollzogen werden kann, wohin dieses kostbare Forschungsmaterial geht [3]. Und selbst wenn der Käufer ein Museum oder eine Universität im Ausland ist, die das Material zugänglich machen wollen, bleibt der Export von Archiven (seien es die von Künstlern oder die von Familien) doch hoch problematisch, weil das eine Aufrechterhaltung der existierenden Trennung zwischen dem Platz, an dem Kunstgeschichte formuliert wird, und dem Ort der künstlerischen Produktion bedeutet.
Während des dreitägigen Symposiums Speak, Memory sprachen die eingeladenen Redner und Teilnehmer die Problematik des Archivs als eines scheinbar objektiven Aufbewahrungsortes von Fakten und dessen Instrumentalisierung durch politische Kräfte an, denen es um die Absicherung der Vorherrschaft spezifischer historischer Lesarten geht. In einem Ambiente, in dem die Bürger nur begrenztes Vertrauen in die Regierungsautoritäten haben und nationale Archive nicht ohne weiteres zugänglich sind, steuern unabhängige Archivierungsprojekte inspirierende Modelle, wie andere Stimmen und Diskurse hervorzubringen wären. Als einige dieser beim Symposium vertretenen Initiativen seien die Arab Image Foundation [4], das Asia Art Archive [5], das indonesische Visual Art Archive [6] oder das digitale Medienarchiv PAD.MA [7] genannt. Wie aber die Autorin Mai El Wakil aus Kairo in einem Blog über das Symposium [8] eloquent darlegte, können unabhängige Archivierungsprojekte nichtsdestotrotz "gleichermaßen hegemoniale Strukturen, parallel zu denjenigen, aus denen viele Forscher ausbrechen wollen" schaffen, wenn sie ein überwältigendes Monument des Wissens produzieren. Solche Kooperationen wie die Partnerschaft zwischen La Red Conceptualismos del Sur (Netz der Konzeptualismen des Südens) [9] und dem Museum Reina Sofía in Spanien belegen jedoch, dass es für Institutionen und unabhängige Forschungsinitiativen durchaus Möglichkeiten gibt, die Kräfte zu bündeln, um Archivsammlungen zu bewahren und unabhängige Forschung zu fördern. Und das kann in einer Konstellation geschehen, in der die Institution oder das Museum die für Forschung, Treffen oder Publikationen so dringend benötigte Finanzierung oder die Infrastruktur für die Bewahrung oder Digitalisierung von Sammlungen bereitstellt, wobei Forschern die Freiheit geboten wird, ihre eigenen Narrative zu entwickeln.
Wo liegt nun also die Lösung? In einem Dokument mit dem Titel "10 Thesen zum Archiv" drängten die Initiatoren von PAD.MA darauf, nicht auf das Archiv zu warten ("wartet nicht auf das Archiv"), ein Imperativ, der auch der Titel eines Workshops war, den sie vor dem Symposium in Kairo leiteten. Ihre dritte These (in der es heißt: "die Richtung des Archivierens wird nach vorn sein, nicht nach innen gerichtet") unterbreitet eine alternative Philosophie des Archivs. Ihr Vorschlag ist ein "Prozess, der auf Verbreitung und nicht auf Konsolidierung basierend abläuft, durch Imagination, statt Erinnerung, hin zu Kreation, statt zur Konservierung" [10]. Für unabhängige Archivierungsinitiativen besteht die beste Lösung, das Replizieren hegemonialer Modelle der Wissensproduktion zu vermeiden, demzufolge vielleicht in der Öffnung ihrer Archive und Sammlungen für Künstler, Forscher, Kuratoren und alle anderen, die daran interessiert sind, das Material auf eine eigene Weise zu sichten, zu verarbeiten und wiederanzueignen. Idealerweise sollte die Öffnung des Archivs nicht nur bedeuten, lediglich reguläre Öffnungszeiten und eine Website anzubieten, sondern es sollte auch eine aktive Suche nach Nutzern, eine offene Einladung an Personen enthalten, das Material zu verwenden. Das könnte zum Beispiel in Verbindung mit einem Aufenthaltsprogramm für Kuratoren oder Forscher sowie mit Einladungen an Künstlerkollektive, auf eine bestimmte Sammlung zu reagieren, geschehen.
Künstlerische Archivpraktiken können im Hinblick auf die Produktion von Gegenidentitäten, Gegenerzählungen und Gegenerinnerungen besonders aufschlussreich sein. Das machten solche Beiträge zum Symposium deutlich wie Celine Condorellis poetische Evokation der Geschichte der Baumwollproduktion und des Exils in Alexandria, Susan Meiselas Archivprojekt über die visuelle Geschichte der Kurden oder das Buchprojekt von Adam Broomberg und Oliver Chanarin über das fotografische Archiv Belfast Exposed in Nordirland.
Letztendlich hat Speak, Memory ohne Zweifel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden konnten, aber es hat beste Voraussetzungen für eine nachhaltigere Verständigung über Archivprojekte, historiographische Bemühungen und Forschungsinitiativen im Nahen Osten geschaffen. Das Symposium hob viele relevante Themen hervor, die ein Ausgangspunkt für spezialisierte Treffen über methodologische oder praktische Aspekte (z.B. Copyright, die Konservierung oder Bewahrung von gefährdeten Archiven, die Technologie des Archivierens, Forschungsmethoden oder Strategien, sich für einen Zugang zu nationalen Archiven einzusetzen) oder thematische Komplexe (wie das Festhalten und Archivieren oraler Geschichten, die Dokumentation von Performancekunst oder besondere Herausforderungen bei der Dokumentation zeitgenössischer Kunst) sein könnten.
Protokolle des Symposiums und Videomaterial werden auf der Website www.speakmemory.org. veröffentlicht. Zu den Schritten gleich nach der Veranstaltung gehören eine Publikation und eine Auflistung, in der Archive und Forschungsprojekte benannt und beschrieben werden, die für all jene nützlich sein könnten, die über die Kulturgeschichte der Region recherchieren. Wenn Sie relevante Archive (staatliche oder unabhängige) oder Forschungsinitiativen kennen, schicken Sie bitte eine Email an Laura Carderera: laura(at)speakmemory.org.
Anmerkungen:
Laura Carderera
Kuratorin und Kunstmanagerin, lebt in Istanbul und Kairo.
Speak, Memory:
On archives and other strategies of (re)activation of cultural memory
28. - 30. Oktober 2010
Townhouse Gallery
Rawabet Theater
Kairo, Ägypten
Kuratorin des Symposiums:
Laura Carderera