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Über das Bemühen der tunesischen Fotografin, Zeitabläufe und Veränderungsprozesse zu erfassen.
Von Rachida Triki | Sep 2010Bewegung des Lebens
Mouna Jemal geht es in ihrer künstlerischen Praxis insbesondere darum, das Vergehen der Zeit und die Art und Weise zu verstehen, wie sich die Geschöpfe und die Dinge verändern. In ihren vielen Selbstporträts verfolgt sie die Spuren der Zeit auf ihrem Gesicht, indem sie kaum erkennbare Veränderungen hervorhebt, manchmal durch Eingriffe mit Farbe oder durch Perrücken und Verkleidungen. Das ist der Fall in ihrem Foto-Mosaik Souvenirs d’un portrait en souvenirs (Aus der Erinnerung erinnertes Porträt) aus dem Jahr 2004. Die Wiederholungen und Unterschiede in diesem Selbstporträt fügen sich zu einem Kaleidoskop zusammen, das den Blick des Betrachters fesselt.
Der Übergang zu digitaler Fotografie und Photoshop erlaubte Jemal, die kleinen Veränderungen besser offenzulegen, die alltäglich in der Physiognomie und auf Körpern vonstatten gehen. Die Künstlerin will in Fragmenten festhalten, wie das Leben abläuft, und die Vielfalt seiner Ereignisse und Metamorphosen erfassen. Das ist der Grund, weshalb sie meint, ihre Kunst sei nicht von solchen Momenten zu trennen. Diese Überzeugung intensivierte sich mit der Geburt ihrer Drillinge. Sie fand sich selbst von diesem Universum umfangen, in dem ihre Aufmerksamkeit fast komplett auf das Leben und die Entwicklung ihrer drei Kinder konzentriert war. Gleichzeitig verspürte sie noch leidenschaftlicher den Wunsch, die Prozesse der Transformation ihrer Erinnerung anzuvertrauen, um den Verlauf der Zeit sichtbar zu machen. "Von diesem Zeitpunkt an", sagte sie, "wurde das Momenthafte der Fotografie interessanter für mich, um das Bild/Ereignis zu erfassen. Das ist es, was mich reizt: dass das Bild in erreichbarer Nähe ist, egal welche Kamera man benutzen mag, sei es eine hoch entwickelte oder nur die eines Mobiltelefons." Durch die unterschiedlichen Posen und Erscheinungsweisen werden ihre Kinder, die jetzt ihre bevorzugten Modelle sind, zu einer unendlichen Quelle von Bildern. Mouna Jemal manipuliert diese Bilder, aufgenommen im Verlauf von Stunden oder Tagen, in einer Weise als würde sie deren Möglichkeiten ganz und gar ausreizen wollen. Durch diese Manipulation erkundet sie die konstitutiven Elemente der Bilder.
Das Werk des Bildes
Mouna Jemals Ziel ist es, mit dem unglaublichen Reichtum des Bildes zu spielen, um es, wie sie sagt, zu "einer Art trompe l’oeil, Illusion, Fata Morgana zu machen, die sich den Augen des Betrachters darbietet." Ihre Werke vermitteln manchmal den Eindruck, als wenn sie rätselhafte Arabesken oder alte Teppiche mit abstrakten Mustern wären. Die Künstlerin lädt die Blicke der Betrachter ein, sich in das Mysterium des Bildes zu versenken, es zu hinterfragen, um bis zum Kern jener Elemente vorzudringen, die sie durch ihre Manipulationen geordnet hat. Sie teilt, invertiert und kreuzt all das Material, das derzeit zumeist aus Fotos ihrer Kinder besteht. Sie nimmt diese Fotos auf, wenn ihre kleinen Drillinge spielen, und deshalb variieren die Bilder in deren unterschiedlichen Körperhaltungen. Die konzentrisch als Spirale oder auch einfach als Schachbrett angelegten Bilder, die mit Photoshop überarbeitet und manchmal leicht koloriert sind, bieten die Gelegenheit, mit Anwesenheit und Abwesenheit zu spielen. Solche Werke erlauben einem, das Rätsel des Bildes zu sehen und darüber nachzudenken. Die Künstlerin mag es, das Bild explodieren zu lassen, um ungeahnte Formen unendlich erscheinen zu lassen. Derartige Formen erinnern uns an die Komplexität des Sichtbaren. Das ist zum Beispiel in Fotoinstallationen des Jahres 2009 zu finden, wie
Jour (Tag), Contre-jour (Licht von hinten) und Intérieur-Extérieur, die beim 2. Panafrikanischen Kulturfestival in Algier ausgestellt waren.
Zeit / Raum
Zeit und Raum waren lange Mouna Jemals bevorzugte Themen. Sie multipliziert Aufnahmen ihrer Kinder in Räumen, die sowohl geschlossen als auch transparent sind, ähnlich wie Fenster. "Das Bild von Kindern in Fenstern interessiert mich. Das gehört zu unserer Tradition. Als meine Drillinge drei Jahre alt waren, begann ich damit, sie an das Fenster zu setzen, so dass sie einen Moment lang in völliger Sicherheit in einem Raum spielen, der sich an der Grenze zwischen dem Innen und dem Außen befindet." Für die Künstlerin waren diese Bilder eines Raumes zwischen innen und außen die Gelegenheit, sich mit Problemen von Gefangenschaft und Freiheit zu beschäftigen. Ihre letzten Werke mit dem Titel Erinnerungen und Erinnerungsillusionen sind Fotos ihrer Kinder aufgenommen im Fenster einer alten Festung im tunesischen Dorf Ghar el Melh, die früher ein Gefängnis für Sklaven in Nordafrika war. Hier untersucht die Künstlerin, welche Parallelen es zwischen dieser Festung und dem Sklavenhaus auf der Insel Gorée in Senegal gibt, das sie vor mehreren Jahren besuchen konnte. Es ist genau dieselbe Idee, die zur Installation Schicksal führte, für die Mouna Jemal 2010 den zweiten Preis der 9. Biennale Dakar erhielt. Sie multipliziert symmetrisch fragmentierte Fotografien ihrer Kinder, die sie in den Fenstern der Festung aufgenommen hat. Diese Bilder von Körpern, die zusammengedrängt und alternierend richtig herum und auf dem Kopf stehend arrangiert sind, vermitteln den Eindruck eines Schiffes, das an die Gefahr von Versklavung und vergangener und gegenwärtiger Migration denken lässt.
Raum als ein Ort von Erinnerung erscheint ebenfalls in Escape by Skype, einem auf dem Computermonitor mit Skype festgehaltenen Bild ihrer Drillinge. Es erinnert Jemal an das erste Mal als sie ihre Kinder gleich nach der Geburt durch das Fenster eines Brutkastens sah. Die von einem Computermonitor stammende und in eine fraktale Erscheinung umgearbeitete Bild ist wie ein Fenster, mit dem in Erinnerung gerufen wird, dass die Sichtweise anderer nicht so leicht zu verstehen ist. Heutzutage möchte die Künstlerin die Grundlagen des Bildes durch die Benutzung von 3D noch mehr dahingehend untersuchen, was es offenbart und verbirgt.
Biografie, Ausstellungen und Preise
Die Künstlerin und Fotografin Mouna Jemal wurde 1973 in Paris geboren. Sie lebt und arbeitet in Tunis, wo sie am Institut der Schönen Künste (Institut supérieur des Beaux-arts) Kunst unterrichtet. Ihr Studium an der Schule der Schönen Künste in Tunis (Ecole des Beaux Arts de Tunis) schloss sie mit einem Bachelor mit Spezialisierung auf Grafik ab. Danach schrieb sie sich an der Universität von Paris 1 Panthéon-Sorbonne ein, um ihren Doktor in Kunst und Wissenschaft zu machen. Ihre Doktorarbeit "Schatten zeichnet Zeit nach, mit einem fotografischen Ansatz" verteidigte sie 2002. Darin entwickelte sie ihre Forschung über Kunstfotografie als ein Schreiben mit Licht und über die Spuren von Zeit, speziell in den "darin enthaltenen Schatten". Sie ist in der tunesischen Kunstszene aktiv und Mitglied der Vereinigung Tunesischer Künstler (Union des Artistes Plasticiens Tunisiens).
Mouna Jemal stellt ihre Fotografien und Installationen seit 1993 aus. Sie nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen sowie Biennalen und anderen künstlerischen Projekten im Ausland teil und hatte in Tunesien bislang vier Einzelausstellungen. In dem Bewusstsein, auf dem afrikanischen Kontinent zu leben, misst sie ihren beiden letzten Ausstellungsbeteiligungen besondere Bedeutung bei. Im Juli 2009 nahm sie am 2. Panafrikanischen Kulturfestival von Algier und im November 2009 an der 8. Bamako Biennale der Fotografie teil. 2005 erhielt sie für ihr Werk Halima ma Joconde (Halima meine Mona Lisa) den Großen Preis der Stadt Tunis (Grand prix de la médina de Tunis) für Fotografie. 2010 wurde sie mit dem präsidialen Verdienstpreis für Literatur und Künste (Preis für Fotografie) ausgezeichnet und erhielt den Preis des senegalesischen Kulturministers bei der 9. Biennale Zeitgenössischer Afrikanischer Kunst Dak'Art.
Rachida Triki
Tunesische Kuratorin und Autorin. Professorin für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Universität Tunis.