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Interview: Hommage an Hrant Dink - Performance mit einer blinden Malerin; Kunst u. Erinnerung, etc.
Von Defne Ayas | Jan 2010DA: Was war dein erster Eindruck von Hrant Dink? Hast du ihn jemals persönlich getroffen?
AÖ: Leider hatte ich nie die Gelegenheit, ihm persönlich zu begegnen. Ich war vor allem von seiner Art des Erzählens von Geschichten beeindruckt, insbesondere anatolischer Geschichten, und von der Art und Weise, wie er aus solchen Geschichten Lehren zog. Er ist eine der ehrlichsten, außergewöhnlichsten und mutigsten Personen gewesen, die auf jenem Gebiet gelebt haben. Er war jemand, der dem Unausgesprochenen eine Stimme gab. Seine kultivierte, höfliche und ehrliche Art habe ich sehr respektiert. Und vor allem war er einer der wichtigsten Menschenrechtsaktivisten in der Türkei.
DA: Kannst du das Gefühl des Verlusts beschreiben, dass du nach seiner Ermordung empfunden hast? Was waren deine Gefühle als ein Künstler und als Mensch, als Bürger ganz allgemein?
AÖ: Als Künstler war ich verzweifelt, als Bürger schämte ich mich und als Mensch war ich traurig, so als wenn ich jemand aus meiner Familie verloren hätte. Aus meinem Kummer wurde schnell Besorgnis. Tatsächlich ist das, was passierte, ganz schrecklich, und wir alle sind dafür verantwortlich. Wir haben nicht gut genug auf Hrant Dink aufgepasst. Nur drei Wochen vor diesem Ereignis war ich von Istanbul nach Amsterdam gezogen. Ich hatte das Gefühl, danach würde in der Türkei nichts mehr so sein wie zuvor. Ich hörte, dass einige junge Burschen auf die Straße gingen und dieselben weißen Mützen trugen, die der 17-jährige Mörder aufgehabt hat. Nach der Ermordung war ich in Sorge, dass sich eine chauvinistische, fanatische, nationalistische Mentalität auf den Straßen gefährlich ausbreiten würde. Dann hörte ich von der riesigen Menschenmenge, die zusammenkam und in respektvollem Schweigen zu Dinks Begräbnis ging. Weil ich in Amsterdam war, konnte ich mich den Tausenden Menschen nicht anschließen, die zu seiner Beerdigung gingen. Aber selbst aus der Ferne konnte ich spüren, das dies eine neue Ära war. Viele Leute kamen zusammen, um ihre unterdrückte Stimme für Dink zu erheben. Das war ein Zeichen einer neuen ehrenhaften und kollektiven Bewegung. Es bedeutete für mich, dass die Öffentlichkeit nicht mehr länger zögern würde, ihre Reaktion zum Ausdruck zu bringen.
DA: Was waren deine Gefühle in Bezug auf dein Heimatland und die Zustände dort?
AÖ: In der Türkei gibt es die dringende kollektive Notwendigkeit zu lernen, miteinander zu leben und die Diskriminierung von Armeniern, Kurden und anderen Minderheiten zu beenden. Es ist nicht mehr die Zeit schneller Lösungen und organisierter Assimilation. Heutzutage ist die Öffentlichkeit der wichtigste Zeuge. Aber es gibt noch einige Hardliner, die eine Eliminierung von Unterschieden in der Türkei wollen, wodurch eine gewalttätige Gesellschaft entstehen würde. Das sollten wir mit unserer Wachsamkeit verhindern.
DA: Hast du das jemals offen diskutiert? Könntest du das? Würdest du es tun?
AÖ: Sich der Geschichte zu stellen, ist wichtig. Aber ich denke, das Allerwichtigste ist, sich der heutigen Realität zu stellen. Heute wurden unser Geist, unser Wort, unser Mut, unser Bruder Dink mitten auf der Straße direkt vor unseren Augen getötet. Heute wissen wir, dass in der Türkei viele Armenier leben, die ihre Identität wegen der sozialen Dominanz verbergen. Ich glaube, die Diskussion muss von der heutigen Realität ausgehen.
DA: Wie umarmt ihn die Kunstszene in Istanbul? Wie leicht oder schwer ist es gewesen, ihn und seine Ideen für sich geltend zu machen?
AÖ: Gleich nach Dinks Ermordung kam die Szene der Künstler und Intellektuellen zusammen. Jeder wollte nicht nur für sich allein, sondern auch durch kollektive Aktionen reagieren. Solche Initiativen der Zivilgesellschaft wie Hrant ve Biz (Hrant und wir) und 19 Ocak (19. Januar) sind Ergebnisse des Zusammenkommens in jener Zeit gewesen. Aus der Entfernung (aus Amsterdam) schloss ich mich solchen Gruppen an. Hrant ve Biz sammelte in den ersten drei Monaten über 10.000 Unterschriften von Unterstützern. Eine der wichtigsten Aktionen zivilen Ungehorsams in Istanbul kam von einer Gruppe von Künstlern und Autoren von 19 Ocak. Diese zeigten sich bei der Staatsanwaltschaft selbst an, indem sie bekannten, dass sie mit Hrant Dinks Worten, die seine Verurteilung zur Folge hatten, übereinstimmen. Zehn Tage nach dem Mord machte Çıplak Ayaklar Kumpanyası / Barfuß-Compagnie eine Protestaktion mit 80 Teilnehmern, die vor dem Büro der Wochenzeitung Agos, wo Dink ermordet wurde, mit Zeitungen zugedeckt auf dem Boden lagen. Eine Gruppierung mit dem Namen Hrant icin adalet icin / Gerechtigkeit für Hrant kam vor dem Gerichtsgebäude zusammen, um den Fall Hrant Dink weiterzuverfolgen. Doch gegenwärtig ist die Beteiligung nicht so groß, wie gleich nach der Ermordung. Es wurde auch ein Dokumentarfilm mit dem Titel 19 Ocak'tan 19 Ocak'a gedreht, und sie machen auch mit anderen Aktionen wie Gefesseltes Gewissen weiter.
DA: Was denkst du, wie könnte deine Position insbesondere als Künstler dazu beitragen, seine Ideen zu verbreiten? Um welche Ideen vor allem geht es dir? Lass uns mehr über deine Performance bei Performa sprechen. Wie hast du begonnen, daran zu arbeiten?
AÖ: Gerade im Falle von Dink ist das ständige "Erinnern" wichtig. Aber es geht nicht einfach nur darum, etwas zu illustrieren und ein Denkmal zu kreieren, dass man besucht und sich traurig fühlt, und ansonsten passiv bleibt. Ich würde vielmehr eine Aktion schaffen, an der jeder teilnehmen kann, und verschiedene Treffen organisieren. Wie ich schon anfangs sagte, angesichts des Falles von Dink fühlte ich mich als Künstler verzweifelt. Ich wusste nicht, was ich überhaupt tun könnte. Jetzt, nach mehr als zwei Jahren, habe ich mit meinem Performanceprojekt für Performa 09 einen Weg gefunden, etwas zu tun. Ich wollte mit einem blinden Maler oder einer blinden Malerin arbeiten, um deren Vorstellungskraft zu benutzen, so dass wir einen Tribut an Hrant Dink zahlen könnten. Dann fand ich Devorah Greenspan, eine blinde Malerin aus New York. Inspiriert durch Dinks letzten Artikel mit dem Titel Die taubenhafte Furcht meines inneren Geistes verständigte ich mich mit Devorah über Dinks Philosophie, Einsichten, Befürchtungen, Träume und seine einzigartige Liebe für sein Land, und sie porträtierte ihn so, wie sie sich ihn vorstellte. Das Ergebnis ist eine Überraschung gewesen. Der erste Schritt war, Devorah Greenspan zu treffen. Wir verbrachten drei Tage, um einander kennenzulernen und über Hrant Dink zu sprechen, wobei wir zusammen seine Stimme hörten und einige seiner Artikel lasen. Ich glaube, dass ich es geschafft habe, in einer so kurzen Zeit eine emotionale und mentale Beziehung zwischen Devorah und Dink herzustellen.
DA: Bei der Performance begann Devorah, ein Porträt von Hrant Dink in diesem total dunklen Raum zu malen.
AÖ: Ja, für die Performance wollte ich einen komplett dunklen Raum schaffen, wo die Besucher die Performance nur durch kleine Fackeln erleuchtet sehen können. Es war ein schmaler und langer Raum, und Devorahs Staffelei, Farben und Pinsel lagen am Ende dieses Raumes, der wie eine Theaterbühne mit einem schwarzen Vorhang im Hintergrund aussah. Sie bat mich, neben ihr zu sitzen und unser Gespräch fortzusetzen. Wir flüsterten miteinander. Wir sprachen nicht nur über Hrant Dink, sondern auch über unser tägliches Leben und unsere Vergangenheit. Alle Besucher, die den Raum betraten, hielten kleine Fackeln und trafen auf Devorah Greenspan. Sie malte im Dunkeln weiter.
DA: Wie war eure Wahrnehmung des Publikums?
AÖ: Es war eine unglaubliche Erfahrung zu sehen, wie die Leute absolut ruhig hereinkamen und wieder hinausgingen und den Akt und den Moment respektierten. Ich schrieb auch einen Text im Namen von Hrant Dink, so als wenn er ihn geschrieben hätte, nachdem er erschossen worden war. Ich versuchte, mir etwas Unmögliches vorzustellen und in Worten zu fassen, was er geschrieben hätte. Statt dem Publikum eine gewöhnliche und kurze Einführung zu geben, entschied ich mich, diesen fiktiven Text als ein Gedicht für die Performance zu benutzen.
DA: Und du hast aktiv mit der Schaffung von Erinnerungen begonnen...
AÖ: Meine Position war mehr die eines Navigators, eines Werkzeugs oder Moderators, um dieses Treffen zwischen Devorah Greenspan und Hrant Dink herbeizuführen. Ich schuf ein alternatives Treffen, dass unsere Erinnerung auffrischen und uns zu einer Diskussion über seine Ideen führen würde. Welches sind diese Ideen? Am meisten ging es ihm darum, zu "lernen wie man miteinander lebt", in jedem Falle. Er hasste Worte wie "Rache" oder "Ignorance". Er war strikt gegen jede Art von Rassismus. Er war dazu bereit, den Ort an dem er lebte von einer Hölle in einen Himmel zu verwandeln. Er wollte völlige Redefreiheit in seinem Land haben.
DA: Was hat der Malprozess für die Devorah bedeutet?
AÖ: Devorah hatte ihr eigenes System für die Farben und die Pinsel. Sie wusste genau, wo sie ihre Farbe und andere Dinge hingelegt hat. Sie verfügt über einen unglaublichen Sinn dafür, die Farben und die Oberfläche der Leinwand zu spüren. Offenkundig hatte sie das Gemälde in Gedanken schon beendet, bevor sie die Leinwand überhaupt anfasste. So ging alles sehr reibungslos vonstatten. Sie begann mit dem Gesicht und stellte zum Schluss den Hintergrund fertig. Das alles dauerte mehr oder weniger zwei Stunden.
DA: Wie bist du auf den Gedanken gekommen mit einer blinden Malerin zusammenarbeiten zu wollen? Der Akt des Arbeitens mit einer blinden Malerin in einem komplett dunklen Raum war schon ziemlich mutig.
AÖ: Für sehende Menschen ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, dass eine blinde Person malen kann. Viele würden glauben, es sei surreal oder ein völlig unmöglicher Versuch. Als ich zum ersten Mal von einer blinden Malerin erfuhr, dachte ich, das sei sehr poetisch und sie müsste unglaubliche Fertigkeiten besitzen. Natürlich war es heikel, sich für die Arbeit mit einer blinden Malerin zu entscheiden. Ich hatte viel Glück, dass ich Devorah gefunden habe, die sich vom ersten Moment an tatsächlich dafür interessierte, mitzumachen. Der zweite Schritt war die Idee, das in einem komplett dunklen Raum zu tun. Der Raum wäre kein Test für einen blinden Maler gewesen, es war hingegen ein Test für das Publikum. Licht war aber etwas, dass das Publikum, sehende Menschen, brauchen würde. Ich habe dem Publikum eigene Lichtquellen gegeben, damit sich jeder selbst entscheiden konnte, wann und wie lange er oder sie etwas sehen will. Ich versuchte deutlich zu machen, dass es hierbei nicht darum ging, das gesamte Gemälde zu betrachten. Gemeinsam einen sehr tiefen und nicht wiederholbaren Moment im Dunkeln zu erleben und nur einen Teil des Gemäldes für einen Augenblick zu sehen, gab allen von uns die Möglichkeit, unsere Vorstellungskraft zu benutzen, so wie Devorah ihre Imagination in diesem besonderen Moment einsetzte.
DA: Du hast in Devorah nie zuvor getroffen. Wie viel Zeit hast du mit ihr verbracht?
AÖ: Das ist richtig, bis einige Tage vor der Performance habe ich Devorah nicht persönlich getroffen. Bevor ich in New York ankam, haben wir telefonisch miteinander kommuniziert. Ich war sehr neugierig darauf, sie zu treffen. Dann trafen wir uns schließlich drei Tage vor der Performance. Wir mussten sehr bald loslegen, obwohl wir uns auch die Zeit nahmen, uns einander vorzustellen.
DA: Wie viel hast du ihr von deinem persönlichen Hintergrund und von Hrant Dinks Hintergrund mitgeteilt? Wie viel Einfühlungsvermögen konntest du bei einer Malerin aus New York erreichen? Warst du dir über deine eigenen Gefühle in Bezug auf Hrant und das, was du erreichen wolltest, im Klaren?
AÖ: Unser Dialog entwickelte sich sehr spontan. Wir sprachen über unseren persönlichen Hintergrund und zugleich über Hrant Dinks Hintergrund. Alles griff auf eine sehr zufällige Weise ineinander. Wir sprachen über unser tägliches Leben in der Vergangenheit und heute. Von mir, der nahe bei ihr stand, etwas über Dinks Leben zu hören, war für Devorah ein Weg, dem näher zu kommen und Insiderinformationen zu erhalten, anstatt etwas über ihn in den Nachrichten zu erfahren. Sie hörte auch Hrant Dinks eigene Stimme sowie die Stimme seiner Frau in Interviews. Während des ganzen Prozesses des Nachdenkens darüber, welches der beste Weg sei, ihn zu beschreiben, wurde ich mir meiner eigenen Gefühle viel deutlicher bewusst.
DA: Die zur Performance gekommen waren, schienen durch das Gemurmel in dem abgedunkelten Raum von Bidoun ein wenig verwirrt gewesen zu sein. Sie konnten euch beide fast nicht hören. Gleichzeitig wurden sie durch den abgedunkelten Raum geleitet und schienen vergessen zu haben, genauer hinzuhören. Jemand aus dem Publikum verglich die Dunkelheit mit einem tiefen Brunnen in Haruki Murakamis Buch Norwegian Wood sowie auch seinem Wind-Up Bird Chronicle. Was waren deine Gedanken? Was ging dir durch den Kopf, als du das Licht ausgeschaltet hattest und mit Devorah zu reden begannst? Wir waren alle irgendwie zwischen Wachen und Träumen, zwischen Geschichte, Erinnerung und nirgendwo.
AÖ: Ich bin froh, dass das Zusammenkommen der Besucher und die Atmosphäre des Raumes genauso waren, wie ich es mir zuvor vorgestellt hatte. Ich hatte viel darüber nachgedacht, wie wir uns in einem abgedunkelten Raum benehmen. Ich hatte The Strange Case of Mademoiselle P. von Brain O’Doherty gelesen. Es ist ein mysteriöser Roman, der im 18. Jahrhundert handelt, über einen Doktor und seinen Patienten, einen achtzehnjährigen blinden Pianisten. Das Buch lehrte mich auf eine sehr nahegehende Weise, die Psychologie des Sehens in der Dunkelheit zu verstehen.
DA: Ich denke an dein früheres Schaffen als einen möglichen Einfluss hinsichtlich der Dunkelheit. Wie reagierte Devorah auf deinen Anruf?
AÖ: Tatsächlich habe ich in der Vergangenheit schon zwei andere Arbeiten gemacht, bei denen ich Dunkelheit und Licht als Hauptelemente benutzte. Eines davon war eine Performance in den Jahren 2006-2008 mit dem Titel Ein weiterer perfekter Tag, bei der ein Friseur jemand in einem Keller die Haare schneidet und ein draußen vor dem Fenster stehendes Motorrad die einzige Lichtquelle ist. Die andere Arbeit ist das Video Kurzschluss, in dem eine Gruppe von Kindern in einer sehr dunklen Straße Fußball spielt und ein Auto durch ihr Spiel vor und zurück fährt.
DA: Hat es dir Spaß gemacht, als Teil deines Werkes dabei zu sein?
AÖ: Na klar, ich habe es genossen, Teil meines Werkes zu sein, obwohl ich dabei ja nur Devorah mit einem netten Gespräch assistierte.
DA: Wie ist das, von der Videoarbeit zu kommen, die du so gut kennst, und dann eine Live-Performance zu machen?
AÖ: Eine meiner früheren Arbeiten war eine Performance, in der ich selbst agierte. Ja, Performance ist kein Medium, das ich oft benutzte, dennoch gefällt mir das Gefühl tatsächlich, etwas nur in einem bestimmten Moment zu erleben. Das macht es sehr außergewöhnlich.
DA: Siehst du viele Performances? Setzt du dich ständig kritisch mit dem, was du siehst, auseinanderer und ziehst daraus für deine eigenen Performances Schlussfolgerungen?
AÖ: Ich sehe durchaus aufgeführte Performances, aber mir gefällt es besser, Dinge als Teil des täglichen Lebens zu beobachten, wenn es etwas ist, das sich zwischen Performance und realem Leben bewegt. Etwas wird zur Performance, nur weil du vorbeigehst und durch einen Zufall Zeuge davon bist.
Defne Ayas
Direktorin des Witte de With Zentrums für Zeitgenössische Kunst, Rotterdam, Niederlande.
The Pigeon-like Unease of My Inner Spirit, 2009
(Die taubenhafte Furcht meines inneren Geistes)
Die Performance von Ahmet Öğüt für Hrant Dink zusammen mit der New Yorker Künstlerin Devorah Greenspan fand am 15. November 2009 statt. Sie war Teil von Performa09, der dritten Edition der Biennale visueller Performancekunst in New York, kuratiert von Defne Ayas.