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Tape Republic - ein Projekt über die Nutzung braunen Klebebands im Viertel Laleli in Istanbul.
Von November Paynter | Jul 2009Istanbul ist ein Patchwork aus Handelszonen, in denen spezifische Arten von Produkten zusammenkommen, wodurch diese Warengruppen selbst und die Wohnviertel, in denen sie sich befinden, klassifiziert sind. Zum Beispiel am Galata-Turm liegt der "Musikhügel", so benannt wegen der vielen Läden für Musikinstrumente und Hardware für DJs. Gleich um die Ecke ist das "Beleuchtungsviertel", eine funkelnde Konstellation von Schaufensterauslagen mit Kronleuchtern, Lampenschirmen und im Hintergrund verborgenen Schaltern und Glühlampen. Zu den Zonen mit Gruppen von Produkten, die klassische Anlaufpunkte für Touristen sind, gehören der ägyptische Gewürzmarkt und der Fischbasar. Und dann gibt es die im Grunde nur von Einheimischen frequentierten Einkaufsgegenden, wie die Etage für Nähmaschinen im IMC und die Eisenwaren-Straße von Karaköy. Die massenhafte Wiederholung dessen, was in jedem dieser Gebiete zum Verkauf angeboten wird, ist phänomenal. Ein Geschäft neben dem anderen will anscheinend fast identische Produkte verkaufen, und damit nicht vertraute Passanten gehen vorbei und fragen sich, wie jedes davon überhaupt seinen Unterhalt bestreiten kann. Doch obwohl sie sich in zentralen Lagen der City befinden, sind viele dieser Geschäfte lediglich die Schauräume für den Handel, wo große Stückzahlen eines bestimmten Beleuchtungskörpers oder ganze Kleiderstapel erworben werden.
Zu Istanbuls berühmtesten Serienprodukten gehören Textilien und Bekleidung mit dem allgemein üblichen Etikett "Made in Turkey" an multinationalen Modemarken wie H&M und M&S. In der Stadt gibt es einen Bezirk für eine bestimmte Gattung von billiger "Marken"-Kleidung. Unter den bekannten Namensschildern sind Red Star, Romana Botta, Collins, Motor Jeans und Junker, und solche Kleidung geht von hier aus im Allgemeinen eher in Richtung Osten als in den Westen. Dieser Bezirk ist Laleli, ein Gebiet von ca. zwei Quadratkilometern mit über 50.000 Geschäften, die alle zusammen Kleidungsstücke für etwa 5 Milliarden Dollar pro Jahr insbesondere in Staaten der einstigen Sowjetunion verkaufen. Der umfangreiche Handel wird anscheinend inoffiziell in einer innerstädtischen, nicht registrierten Steueroase abgewickelt.
Hunderte Pakete voller Kleidung werden täglich auf Booten und Lastkraftwagen zuerst in die Ukraine und nach Bulgarien versandt, um von dort aus weiter verteilt zu werden. Bis 2001 nahmen fliegende Kunden solche Pakete als Begleitgepäck mit, doch nach dem 11. September 2001 begannen die Fluggesellschaften, die Beförderung abzulehnen, nicht etwa weil sie Übergewicht hatten oder aus Zollgründen, sondern wegen der Art der Verpackung - umwickelt mit Unmengen braunen Klebebands, das manchmal jeden Zentimeter des schwarzen Sacks oder Kartons mit der Ware darin bedeckte. Dieser übermäßige Gebrauch von braunem Klebeband erregte das Interesse des Künstlers Osman Bozkurt, und zwar nicht nur dessen Verwendung bei Paketen, sondern die Tatsache, dass es wegen seiner Klebrigkeit und dem vielfältigen Einsatz, dem man überall in Laleli begegnet, eine Popularität erlangte, die zu so etwas wie einer lokalen Obsession geworden ist.
Bozkurts Arbeit Tape Republic (2009, Klebeband-Republik), die zuerst als eine große, facettenreiche Installation in der Ausstellung Europe XXL im Rahmen von Lille 3000 (2009) gezeigt wurde, ist eine Hommage an das Viertel Laleli und das merkwürdige Produkt, durch das die Gegend nach Auffassung des Künstlers stärker gekennzeichnet ist als durch den dortigen Handel mit Textilien. Zunächst dokumentierte Bozkurt den vielfältigen Gebrauch des Klebebands auf den Straßen als vorübergehende Lösungen, kaputte Geländer und Gliedmaßen von Schaufensterpuppen zu befestigen, einen bestimmten Bereich zu markieren, die scharfen Kanten von Pollern an Straßen abzupolstern, aus Lampenpfählen quellende Elektrodrähte zu fixieren und sogar um fehlende Sitzflächen von Stühlen durch dichte Vor- und Zurückumwicklungen zu ersetzen. Dieser einfache Weg "über die Runden zu kommen" und "sich zu behelfen" ist in Istanbul weit verbreitet, wenngleich die Üppigkeit des Klebebands in Laleli dort eine visuelle Einheit bildet und die bevorzugte Taktik der Improvisation in dieser Gegend kennzeichnet.
Der auf der Straße gefundene subsidiäre und nicht-offizielle Gebrauch von braunem Klebeband ist das Überbleibsel einer eher industriellen Anwendung seitens lokaler Frachtunternehmen. Eine dieser Transportfirmen verlangt sogar, dass alle von ihr zu überbringenden Pakete komplett mit braunem Band zugeklebt sind. Auf die sich somit ergebenden, nicht unterscheidbaren, braun glänzenden Klumpen werden mit Filzstiften die Zahlen oder Angaben geschrieben, die sich auf die Zieladresse beziehen, und trotz aller äußeren Einheitlichkeit ist klar, dass viele davon auf dem Transportweg verlorengehen.
In der Installation Tape Republic steht eine Auswahl solcher Pakete im Zentrum. Ohne Angabe eines Bestimmungsortes liegen sie im Galerieraum als skulpturale Gebilde und als eine Art Monument für die Endprodukte der Aktivitäten von Laleli, bevor diese unauffindbar werden, verzettelt in einem vielfältigen Verteilungssystem. In der Galerie ertönen aus kleinen, im Inneren der Pakete verborgenen Lautsprechern Aufnahmen der Geräusche, wie solch braunes Klebeband wieder und wieder gezogen, durchtrennt und aufgeklebt wird. Der nicht endende Rhythmus stellt die Verbindung zu einem Film her, der die Geschicklichkeit und Geschwindigkeit von zwei Transportarbeitern beim Einpacken ihrer Produkte dokumentiert. Um einen einzigen Sack oder eine Kiste zu umwickeln, braucht man etwa zwei Rollen Klebeband, und es gibt ein klares Muster der Anwendung, das mit den Jahren meisterlich beherrscht wird. Zur speziellen Technik beim Abreißen des Bandes gehört das schnelle Falten eines Teils mit der Klebeseite nach unten und ein kraftvolles Zerren zu beiden Seiten hin, so dass es sich an der Falte trennt. Dann folgen die Schlaufen der Griffe, die in ihre Form gedreht und gerissen werden. So wie die Lektion über mögliche Anwendungen des Klebebands in Bozkurts Fotografien, enthüllt sein Film einen weitere nützliche Fertigkeit: das Abreißen des Klebebands ohne ein Messer oder eine Schere - ein Trick, den wahrscheinlich jeder Ausstellungsbesucher später zu Hause ausprobieren wird.
Tape Republic versammelt all die kleinen Nuancen von Laleli und seiner Klebeband-Besessenheit, um auf viel größere globale Kreisläufe von Produktion, Konsumismus und Verteilung hinzudeuten. Indem Bozkurt eine Mikrowelt ins Blickfeld rückt, die nicht offiziell zugelassen und geregelt ist, zeigt er einen Bereich von Aktivitäten, der so vielen Menschen Unterhalt verschafft und mit einem regionalen Netzwerk mit historischen und kulturellen Vorläufern verknüpft ist. Der freie Gebrauch des Klebebands in Laleli widerspiegelt sich in Bozkurts Werk, dem er zugesteht, sich über die Parameter der "Klebeband Republik" hinaus auszuweiten. Die klebrige Substanz mit ihrem penetranten chemischen Geruch hängt ungekürzt von den Rändern der Fotografien hinunter, die sie zusammenhält, und nicht aufgebrauchte Rollen bleiben zur weiteren Verwendung auf dem Fußboden liegen. Und so wie die nicht regulierte Welt in Laleli ist das Klebeband in Bozkurts Werk auf spezifische Weise verwendet und bleibt gleichzeitig sich selbst überlassen - eine Metapher für eine Gemeinschaft, die durch ein System gemeinsamen Strebens und die Möglichkeit, dabei flexibel zu bleiben, verbunden ist.
November Paynter
Assoziierte Direktorin für Programme und Forschung von SALT, Istanbul, Türkei.
Tape Republic
(Klebeband Republik)
Gezeigt in der Ausstellung "Istanbul, traversée" im Palais des Beaux-Arts, Lille, Frankreich
14. März - 27. Juli 2009
Teil der Veranstaltung
EUROPE XXL