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From 1850 to the Present. Kamal Boullatas bahnbrechendes neues Standardwerk. Buchrezension.
Von Kaelen Wilson-Goldie | Apr 2009Die visuelle Kunst im Nahen Osten hat lange an einer Art Legitimationsdefizit gelitten. Selbst wenn man heutzutage noch jemand auf den Straßen von Kairo, Beirut oder Ramallah fragen würde, was er oder sie unter den schönen Künsten versteht, würde wahrscheinlich Dichtung oder Musik vor Malerei oder Fotografie genannt werden. Video und Installation mögen in anspruchsvollen Kunsträumen gefeiert werden, doch sind sie nicht in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Vor einigen Jahren verfasste Adila Laïdi-Hanieh, eine Kritikerin und Essayistin, die auf die intellektuelle Geschichte der arabischen Moderne spezialisiert ist und fast ein Jahrzehnt lang das Khalil Sakakini Kulturzentrum in Ramallah leitete, ein bemerkenswert klarsichtiges Papier für die Europäische Kulturstiftung, in dem sie die Erfolge und Versäumnisse zeitgenössischer Kunstinitiativen in der Region einschätzte. Sie schrieb, es gäbe einen erheblichen Nachholbedarf hinsichtlich eines verbesserten Zugangs und der Visibilität "der visuellen Künste, die nicht den herausragenden Stellenwert genießen, den Literatur in der arabischen Hochkultur innehat oder den die Musik in der arabischen populären Kultur einnimmt".
Wenn die visuellen Künste schon einen so schweren Kampf austragen müssen, dann steht die Geschichte der bildenden Kunst vor noch viel höheren Herausforderungen. In den letzten zehn Jahren sind in der kulturellen Landschaft verschiedener arabischer Städte tiefgreifende Wandlungen vonstatten gegangen. Unabhängige Infrastrukturen für die Produktion und Präsentation neuer Werke haben sich in Kairo, Alexandria, Beirut, Amman und Ramallah etabliert. Experimentelle Kunsträume sind eröffnet worden oder werden demnächst eröffnen, so in Algier, Rabat, Tanger, Damaskus, Jerusalem und Manama. Solche Veranstaltungen wie Photo Cairo, das Home Works Forum in Beirut und die Sharjah Biennale sind seriöse Plattformen für die Entwicklung zeitgenössischer Kunstpraxis mit einem kritischen Ansatz geworden. Gleichzeitig ist das westliche Interesse an Kunst des Nahen und Mittleren Ostens erheblich gewachsen, und mehrere große Kulturinstitutionen sind für Dubai, Abu Dhabi und Doha geplant.
Angesichts all dieser Veränderungen ist es nicht überraschend, dass die Geschichte der modernen arabischen Kunst plötzlich zu einem dringend notwendigen Untersuchungsgebiet geworden ist. Walid Raads Fortsetzung des als Atlas Group bekannten Langzeitprojekts ist eine Erkundung der Geschichte der modernen und zeitgenössischen arabischen Kunst, bei der er in Stufen vorgeht, die verschiedenen Orten und Kontexten - wie z.B. Beirut und Abu Dhabi - gewidmet sind. Maqam, eine Anfang 2009 in Beirut eröffnete Galerie, greift die Geschichte der libanesischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts neu auf. Nada Shabout, Autorin von Modern Arab Art: Formation of Arab Aesthetics, hat einen Großteil ihrer jüngsten Forschungen dem modernen Erbe des Irak gewidmet, um den Berichten ausländischer Korrespondenten etwas entgegenzusetzen, die im Zuge ihrer Berichterstattung über die von den USA angeführte Invasion und Besetzung des Landes auch irgendwelche Behauptungen etwa über die Rolle der Abstraktion in der irakischen Kunst verbreiten.
Aber nirgendwo sind die Hürden der Kunstgeschichte höher als auf dem Gebiet der palästinensischen Kunst, zum Teil weil das Schreiben jedweder Geschichte im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt unvermeidlich zu einem politisierten Akt wird, bei dem die Aussagen einer Seite zu oft die Verdrängung der Sicht der anderen bedeutet.
Mit einem Umfang von fast 370 Seiten und durchgängig mit farbigen Reproduktionen selten zu sehender Kunstwerke aus eineinhalb Jahrhunderten illustriert, ist Kamal Boullatas bahnbrechendes neues Buch Palestinian Art: From 1850 to the Present (Palästinensische Kunst: Von 1850 bis zur Gegenwart) eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die visuelle Kultur der arabischen Welt interessieren. Boullatas Buch ist im Wesentlichen eine Sammlung von Essays, die er in den vergangenen 20 Jahren geschrieben und in akademischen Zeitschriften und Ausstellungskatalogen in Arabisch, Englisch und Französisch veröffentlicht hat. Viele der Texte sind für die Neuherausgabe erheblich aktualisiert und überarbeitet worden, und Boullata hat sie in einer Weise zusammengestellt, die die Fragmentierung seines Gegenstands auf schöne wie auch schmerzliche Weise wiedergibt.
Ob in kosmopolitischen Städten oder in ärmlichen Flüchtlingslagern, in Israel oder in den besetzten Gebieten, in der arabischen Welt oder im Westen - palästinensische Künstler leben heutzutage so weit verstreut, dass kohärente Kunstbewegungen nahezu unmöglich sind. Mehr noch, die jüngsten dieser Künstler haben nur wenig Gelegenheit, sich mit den Werken ihrer Vorgänger zu beschäftigen, denn sehr viele Archive, Museen, Kulturzentren und Galerien sind geschlossen, enteignet, geplündert oder zerstört worden. Indem er mit Distanz und Nähe spielt und behauptet, man könne es sowohl sequentiell als auch Beitrag für Beitrag in ungeordneter Folge lesen, nutzt Boullata die Struktur des Buches, um seine Theorie zu untermauern, wie sich die visuelle Sprache des künstlerischen Ausdrucks der Palästinenser in den vergangenen 150 Jahren entwickelt hat.
Unterteilt in vier Sektionen, die auf eine ergreifende Einführung von John Berger folgen, geht Boullatas Buch ausführlich auf drei große Wendepunkte in der Geschichte der palästinensischen Kunst ein. Der erste und schwerwiegendste ist der Übergang von religiösen Ikonen zu säkularer Malerei, was den ersten Teil von Palestinian Arteinnimmt. Mit der Ankunft von Staffeleimalern, hochwertigen Kunstmaterialien und Fotografen, die sich eifrig darum bemühten, das Heilige Land auf Glasplatten aufzunehmen und die Abzüge an Touristen wie Einheimische zu verkaufen, begannen solche Maler wie Nicola Saig, Khalil Halabi, Mubarak Sa’ed und Daoud Zalatimo, die zunächst von russisch-orthodoxen Ikonenmalern ausgebildet wurden (Sa’ed erfuhr derweil seine Unterweisung in einem römisch-katholischen Kloster), mit Landschaften, Porträts, Stillleben und bildlichen Darstellungen historischer Erzählungen, die durch die Kunst des mündlichen Vortrags und des Geschichtenerzählens überliefert (und dadurch ausgeschmückt) wurden, zu experimentieren.
Das geschah mit dem Zerfall des Ottomanenreiches und dem Aufkommen des Britischen Mandats in Palästina und erreichte seinen Höhepunkt 1933 mit einer Ausstellung von Zulfa al-Sa’di, die ausgewählt worden war, Palästina bei der Ersten Nationalen Arabischen Messe in Jerusalem zu vertreten. Sie stellte eine Serie von Landschaften, Porträts und Stillleben aus, von denen viele auf zur damaligen Zeit gut bekannten Fotografien basierten. Die Ausstellung ist ein riesiger Erfolg gewesen, und Boullata zufolge "markierte das eine noch nie dagewesene Befürwortung einer bis dahin als Mittel des persönliches Ausdrucks verkannten Kunstform ... einer Kunstform, die bis dahin zwar toleriert, aber nicht für wertvoll genug erachtet worden war, die nationale Kultur zu repräsentieren."
Der zweite Markstein in Boullatas Buch betrifft die Aufsplittung palästinensischer Künstler in figurative und abstrakte Malerei. Das passierte in Beirut in der Zeit von 1952, als Kairo durch die Revolution in Ägypten seinen hohen kulturellen Rang verloren hatte, bis 1982, als die israelische Invasion den freien Fluss von Ideen ins Stocken brachte, der die libanesische Hauptstadt Boullata zufolge drei Jahrzehnte lang zur "Metropole der arabischen Moderne" gemacht hatte. Parlamentarische Regierungen in Ägypten, Syrien und dem Irak brachen zusammen. Durch den Krieg von 1967 ergoss sich eine neue Welle palästinensischer Flüchtlinge in Richtung Norden. Die frische Natur des libanesischen Staates gab Dissidenten, Intellektuellen und Erneuerern jedweder Art Raum. "Während dreier ereignisreicher Dekaden, in denen die Region vor sozialen und politischen Unruhen brodelte, diente Beirut all den in der arabischen Welt seit dem Untergang Palästinas hervorgebrochenen politischen Bewegungen als ein Blitzableiter", schreibt Boullata.
Zwei verschiedene Schulen palästinensischer Kunst entstanden. Einerseits kultivierten Maler, die meist in Flüchtlingslagern aufgewachsen waren, einen Stil figurativer Malerei, mit dem sie Schlüsselmomente des palästinensischen nationalen Kampfes illustrierten und Triumph und Tragödie zugleich verkörperten. Andererseits tendierten Maler, die in kosmopolitischen Kreisen der Städte gelebt und gearbeitet haben, zu abstrakten Gemälden, die ihre Erfahrungen und Ideen intellektueller, verinnerlichter und hochgradig individualisiert zum Ausdruck brachten.
Der dritte Wendepunkt ist der Übergang von den traditionellen zu den neuen Medien, so wie er sich in einer Handvoll Ausstellungen zwischen 2001 und 2002 in Ramallah exemplarisch vollzog. Die Schau "100 Shaheed - 100 Lives", kuratiert von Adila Laïda-Hanieh für das Sakakini Zentrum, zeigte 100 Alltagsobjekte - eine nicht fertig gestellte Stickarbeit, einen Schlüsselanhänger, einen Kerzenständer, etc. -, die 100 zivilen Opfern des Israelischen Überfalls gehört hatten. Die Ausstellung "Augenzeugen" im Keller des kommunalen Verwaltungsgebäudes von Ramallah präsentierte Objekte aus Wohnungen, Büros und Krankenhäusern, die während der Militäroperation verwüstet worden waren.
"Um der Belagerung standzuhalten und ihre Freiheit zu behaupten, mussten palästinensische Künstler ihre Imagination befreien und inmitten der verheerenden Realität, die sich vor ihren Augen auftat, Hand in Hand arbeiten", schreibt Boullata. "Über Nacht waren alle visuellen Künstler darauf eingestellt, ihre üblichen Ausdrucksmittel aufzugeben und irgendwelche anderen verfügbaren zu finden, um ihre Solidarität mit den Leuten, mit denen sie in Tod und Verzweiflung verbunden waren, auszudrücken. ... Die Notwendigkeit dessen, was als Kunst gegolten haben könnte, behauptete sich demzufolge als ein Ausdruck des Überlebens."
Boullatas Buch ist ohne Zweifel wichtig und in vieler Hinsicht beispiellos. Der Autor ist ein gut angesehener Maler, der verschiedene historische Abläufe, die er beschreibt, selbst erlebte und dabei eine wichtige Rolle spielte (er war der einzige Maler seiner Generation, der bei Khalil Halabi gelernt hatte, einem der religiösen Ikonenmaler, die zur säkularen Malerei übergingen, sowie einer der vier Maler im Redaktionsbeirat von Mawaqif, einem Magazin, das dazu beitrug, die abstrakte Malbewegung, die sich aus der figurativen Schule in Beirut abzweigte, herauszukristallisieren). Wie Laïda-Hanieh bemerkte: "Im spezifischen palästinensischen Kontext ... ist nur ein Palästinenser, der die historischen Perioden miterlebte und daran teilhatte oder der die Vergangenheit so minutiös erforscht hat, dazu in der Lage, diese Geschichte zu dokumentieren und zusammenzufassen."
Aber es sollte angemerkt werden, dass einige der Konzepte, um die es in Boullatas Buch geht - der Vorrang der nationalen Identität, der Glaube, dass der künstlerische Ausdruck Teil einer nationalen Kultur ist, und eine chronologisch linear erzählte Geschichte -, genau das sind, was viele zeitgenössische Künstler in Palästina und anderswo jetzt in ihrem Schaffen in Frage stellen und dekonstruieren. Es wird interessant sein zu sehen, wie sie reagieren werden. Wenn Boullatas Buch andere Künstler, Forscher und Akademiker dazu bringt, ihre eigenen alternativen Sichtweisen der Geschichte aufzuschreiben, dann wird Palestinian Art allen Involvierten einen großen Dienst geleistet haben.
Kaelen Wilson-Goldie
Autorin, lebt in Beirut. Redaktionelle Mitarbeiterin von Bidoun; schreibt u.a. für The Daily Star, Artforum, Frieze.
Palestinian Art: From 1850 to the Present
Von Kamal Boullata
Paperback, 270 x 220 mm, 368 Seiten
Sprache: Englisch
Verlag: Saqi Books
2009
ISBN: 0863566480
ISBN13: 9780863566486