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Konstruktivistische Zeichnungen und Fluxus-Performances in Dubai und der Wüste, 1980er Jahre.
Von Paulina Kolczynska | Sep 2009Es begann etwa 1981 als Hassan Sharif, damals ein junger Kunststudent aus Dubai, seinen Grundkurs am Warwick College in Großbritannien beendete und in The Byam Shaw School of Art eintrat. Von Anfang an artikulierte Hassan ein starkes Interesse am künstlerischen Experiment und zeigte große Sensibilität und Verständnis für die avantgardistischen Strategien und Konzepte, die in der Kunstszene jener Zeit umgesetzt wurden.
Nachdem er erst einmal mit Kenneth Martins (1905-1984) Theorie von Chance and Order (Zufall und System) vertraut war, adaptierte Sharif sie sehr schnell in seinen unabhängigen Experimenten in der Zeichnung und Performance. Von daher beruht die philosophische Basis seiner Kunst auf der britischen konstruktivistischen Bewegung, die strikt darauf fokussiert war, neue Möglichkeiten der Entwicklung von Formen zu erfinden. Es ist wichtig zu verstehen, dass Kenneth Martin, der führende Theoretiker des britischen Konstruktivismus, sein Leben dem Definieren von Beziehungen zwischen Bewegung und Konstruktion als einem Mittel für das Generieren einer Vielzahl skulpturaler Strukturen widmete. Martins bekanntester Student, Peter Lowe, ebenfalls ein Bildhauer, legte den Anwendungsbereich solcher Erkundungen fest, indem er sich auf die Anordnung von Formen konzentrierte.
Das sind auch jene Zeiten gewesen, in denen der Konstruktivismus / Post-Konstruktivismus mehr als eine Komponente oder Unterströmung der Fluxus (von Fließend) genannten, weitaus größeren und komplexeren Bewegung funktionierte. Obzwar Fluxus seine Ursprünge in den 1960ern in New York hat, schwappte er mit den Jahren nach Europa und Japan über und blieb mindestens zwei Jahrzehnte lang für viele Künstler ein vitales Rahmenkonzept. Fluxus, oft als "medienübergreifende" Bewegung beschrieben, erlaubte die revolutionäre Öffnung von Experimenten u.a. durch die Einbeziehung von Musik, mathematischen Zeichnungen, Performances, Happenings und Film.
Es ist sehr bemerkenswert, dass Hassan Sharif das Bezugssystem des britischen Konstruktivismus in seine Kunst in erster Linie durch den "experimentellen Aspekt des Konstruierens" vornehmlich in der Zeichnung und ausgewählten Performances einbezog. Dann ging er in seinen Performances zum Fluxus über, sozusagen mit der Bewegung "mitfließend", deren erster und einziger Vertreter in der Golfregion er wurde.
Um die Rolle der Semi-System-Strategie in Hassan Sharifs Performancekunst verstehen zu können, müssen wir begreifen, wie sie beim Konstruieren seiner Zeichnungen funktioniert. Bei diesem Verfahren sind die Richtungen der Linien und die endgültige Gestalt einer jeden seiner abstrakten Zeichnungen das Resultat sehr komplexer Kalkulationen mit zufällig herausgegriffenen Zahlen, wobei dem Element des Unberechenbaren erlaubt wird, den Schaffensprozess zu übernehmen. Letztendlich benutzt der Künstler den Zufall, um das Endresultat hervorzubringen. Sharif konzentriert sich auf eine Vielfalt von Facetten des "Zufalls", wobei er schlussendlich dessen paradoxe Beschränkungen nachweist.
Hassan Sharif begann seine Experimente mit Semi-System-Zeichnungen und setzte diese unabhängig von seinen Performances fort. Er bezog die Semi-System-Strategie aus seinen Zeichnungen in solche Performances ein wie Body and Square (Körper und Quadrat), Store III (Lager III) und Body in a Store (Körper in einem Lager), alle 1983 in Dubai ausgeführt. Die Fotodokumentation von Body and Square zeigt die vorbereitenden Skizzen und die realisierte Performance. Die Skizze mit dem Text (oben links) bezieht sich auf den allgemeinen Plan der Performance sowie auf die Art und Weise, wie sie zu dokumentieren ist. Die Zeichnung des Rasters mit den ausgefüllten Quadraten (oben rechts) bezieht sich auf das Ergebnis der Berechnungen, ausgehend von der Zufall und System Theorie. Das Resultat der Kalkulationen identifiziert bestimmte Quadrate des Gitters, die der Künstler während der Performance mit seinem Körper berühren soll (Fotoserie unten). Der äußere Umriss der 25 Quadrate misst 165 x 165 cm, was die Körpergröße des Künstlers ist. In der Performance sollten Varianten gefunden werden, so viel Fläche wie möglich mit dem Körper des Künstlers zu berühren, und das in multiplen Kombinationen, indem die Berechnung der Zufall und System Theorie angewandt wurde. Diese Performance ist ein Beispiel für ein einzigartiges Phänomen der Anwendung konstruktivistischer Theorie auf die Performancepraxis. Sie ist darüber hinaus eine der ersten Performances überhaupt, die in der Golfregion ausgeführt wurden. Eine solche Performanceserie fand ohne Publikum statt, und jede einzelne davon ist in Farb- oder Schwarzweißfotos dokumentiert worden, aufgenommen von einer kleinen Gruppe von Assistenten und engen Freunden.
Das zweite Beispiel mit dem Titel Store III (1983) illustriert auf interessante Weise den Einfluss der Kalkulation auf das Addieren und Subtrahieren von Objekten zu einem Lagerraum bzw. aus diesem heraus, um eine Präsentation zur realisieren. Dieses Mal sind die Berechnungen ein integraler Teil des Ergebnisses und kreativen Prozesses. Die Kalkulationen erscheinen in einem großen Raster an der Wand über den Objekten, die so hervorgeholt und zurückgebracht wurde, wie es in der Berechnung festgelegt ist. Jede Stufe des Experiments ist sorgfältig fotografiert worden, wodurch ein Einblick in den wechselnden Zustand des Lagers, basierend auf dem "kalkulierten Zufall", gewährt wird.
In der Performance mit dem Titel Body in a Store (1983, Körper in einem Lager) verdeutlicht das hier jetzt dreidimensionale Element des Rasters eine weitere kreative Interpretation des Systems, dieses Mal aber ohne mathematische Berechnungen. Der Künstler bewegt sich zwischen den Seilen, die vertikal an der Decke und am Fußboden befestigt sind, und wechselt die Position seines Körpers zwischen den zufällig im Raum angesammelten Objekten.
Hassan Sharif hat sein theoretisches Denken und seine Ausdrucksweise im Medium der Performance im Laufe einiger Monate zwischen 1982 und 1983 etabliert. Diese Performances waren der Höhepunkt seiner früheren Experimente, die sich auch im parallelen zeichnerischen Schaffen niederschlugen, das mit großer Intensität in den Jahren 1979-1985 stattfand. Sein Beitrag zur Performancekunst kann hinsichtlich der Entwicklung und Erweiterung dieses Mediums als historisch gewertet werden. Obwohl es keine Möglichkeit gab, die Performances einem breiten Publikum bekanntzumachen, fand etwas anderes, Bedeutsameres statt. Der Künstler sagte, "ich bin ein Nomade und die Wüste ist mein Zuhause. Die Wüste ist weit und kann gefährlich wie der Ozean sein". Es überrascht nicht, dass er die Wüste als Ort für eine Reihe seiner Performances wählte. Dazu gehören Jumping in the Desert (In der Wüste springen), Walking (Gehen) und Digging and Standing (Graben und Stehen), die alle 1983 in Hatta in der Nähe von Dubai stattfanden. Sie gehören zu den ersten Arbeiten der Performancekunst überhaupt, bei denen die Wüste den Rahmen bildete, und sind die ersten Performances, die ein Künstler der Golfregion in der Wüste realisierte. Das Bedürfnis, eine "magische Verbindung" zwischen vertrauten Orten und angeeigneten Ausdrucksformen herzustellen, führte den Künstler in die Wüste. "Kinder springen beim Spielen ... Männer springen mit Fallschirmen und Leute springen am Strand. (...) In dieser Performance springe ich in der Wüste von Hatta. Viele Menschen springen auf unterschiedliche Weise. Warum sollte ich also nicht in der Wüste springen?", sagte der Künstler über seine Performance Jumping in the Desert von 1983.
Fotodokumentationen dieser Aktionen zeigen uns deren Einfachheit, stellen vertraute alltägliche Aktivitäten dar, die fehl am Platze und ohne Aussage zu sein scheinen. Das Bedeutungslose dieser Performances und deren allein auf den Künstler zentrierte Praxis legen den starken Einfluss von Fluxus offen. "Fluxuskünstler nutzten ihre minimalistischen Performances, um ihre vermeintlichen Verbindungen zwischen Alltagsobjekten und Kunst hervorzuheben, ähnlich wie Duchamp in solchen Arbeiten wie der Fontäne (1917)." Tatsächlich erzählt uns Sharif noch etwas mehr, nämlich dass er als Künstler nicht an die Inspiration glaubt, doch hat er großes Vertrauen in die Improvisation. Er fürchtet nicht, sich sogar für unmögliche Optionen zu öffnen und erkennt seine Verletzbarkeit an, indem er sich das Recht nimmt, auf eine uneingeschränkte Weise schöpferisch tätig zu sein. Sharif hat keine Angst, sich an vertraute Orte mit vertrauten Aktionen zu wagen und sie neu zu konfigurieren. Performances wie Swing, Throwing Stones und Recording Stones, alle von 1983, belegen das sehr deutlich.
Die fotografische Dokumentation der Swing (Schaukel) genannten Performance (1983) zusammen mit der minimalistischen Instruktionszeichnung illustrieren den Ablauf einer solchen Rekonfiguration. Der Künstler singt auf einer Schaukel. Der stationäre Recorder nimmt seine Stimme in tiefen und hohen Frequenzen auf, je nach dem Abstand zum Mikrofon beim Vor- und Zurückschaukeln. Der vertraute Aspekt des Alltäglichen ist vorhanden, wird aber in einer ganz anderen und ungewohnten Dimension präsentiert. Dasselbe geschah bei Recording Stones (1983, Steine aufnehmend), als Sharif dabei fotografiert wurde, wie er Steine verschiedener Größe in die Wüste brachte und in einer bestimmten Ordnung platzierte. Eine Aktion ohne konkrete Bedeutung, die wie ein "leeres Zeichen" ist, hat ihre eigene Poesie und ein verwirrendes Potenzial und gibt sowohl dem Künstler als auch dem Betrachter Raum, sie mit einem Sinn zu füllen.
Die meisten Performances von Hassan Sharif, die von Assistenten und engen Freunden dokumentiert worden sind, scheinen 1983 stattgefunden zu haben. Sie können in drei stilistische Gruppen eingeordnet werden: minimalistische Aktionen in der Wüste; Performances, die durch den in diesen benutzten konstruktivistischen Rahmen einzig mit Sharifs eigenen mathematischen Zeichnungen verbunden sind; und schließlich die Gruppe, die vertraute Bedeutungen dekonstruiert. In dieser nur kurzen Zeit sind Sharifs Bemühungen sehr produktiv gewesen. Das Phänomen seiner Kunst wurzelt in einer bis dahin beispiellosen Fusion konstruktivistischer Theorie, avantgardistischer Praxis und der Spiritualität des Nahen Ostens. Sein Ansatz und seine Technik, speziell in der Performancekunst, mögen ihre Ursprünge in dem in Fluxusstrategien eingebetteten britischen Konstruktivismus haben, doch die Ikonographie und die Neuinterpretation gewisser gewöhnlicher Verrichtungen tragen eindeutig eine Signatur der Golfregion. Deshalb schuf Hassan Sharif im Alleingang eine eigenständige Variante der Performancekunst und leistete einen einzigartigen Beitrag als experimenteller und Performancekünstler aus Dubai. Selbst ohne Publikum setze er seine Kunst fort und blieb seiner künstlerischen Überzeugung treu. Bald danach gründete er 1984 in Sharjah das Al Marija Art Atelier und 1987 in Dubai das Jugendatelier, um die zeitgenössische Kunst zu fördern und sein Wissen und sein künstlerisches Credo weiterzugeben.
"Somit begann eine Rose in einer Wüste zu wachsen ... und blühte ... ganz ohne Regen ..." (Anonym)
Paulina Kolczynska
Kunsthistorikerin und freie Kuratorin. Lebt in Warschau, Polen, und New York, USA.
Hassan Sharif
Konstruktivistische Semi-System-Zeichnungen und von Fluxus beeinflusste Performances in Dubai und in der Wüste in den frühen 1980er Jahren